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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 85. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  85. Nachwort

Der Blick von unten nach oben





Reich-Ranicki hält Horst Krüger für den Chronisten der alten BRD





Horst Krüger (Hrsg.)
Das Ende einer Utopie



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Im FAZ-Feuilleton vom 8.7.2012 antwortet Reich-Ranicki auf die Frage, was von Horst Krüger als »Chronist der alten Bundes­repu­blik« bleibe. Er nennt kennt­nis­reich und aus örtlicher Nähe einige Buch­titel und Krüger eine »Insti­tution«, geht aber nicht auf a) den Fall­schirm­jäger Krüger und b) nicht auf den Polit-Publi­zisten ein. Ich erlaube mir zur Ver­voll­stän­digung den Hinweis auf Krügers Antho­lo­gien Das Ende einer Utopie und Was ist heute links? Der Utopie-Band enthält höchst konträre Autoren, bei denen sich der Chemnit­zer Extre­mismus­pro­fes­sor Eckhard Jesse gern gegen links be­dient. Wir fragten diesen Tota­litaris­mus-Exper­ten u.a. in der 57. Folge und zitierten Adolf Hitler, der Pazi­fismus, Marxis­mus und Demo­kra­tie aus­rot­ten wollte, was wohl nicht ganz gelang. So kämpfen seine ideo­logischen Rechts­nach­folger gegen links und hal­ten stur Gefahren von rechts für über­trieben, was das Zwickauer Trio des na­tional­sozia­lis­ti­schen Unter­grundes eifrig für sich zu nutzen wusste, zeitweise wohnten sie gar in Chemnitz, wo die rechte Au­gen­blind­heit vom Uni-Ka­the­der herunter gelehrt wird. In Was ist heute links ver­sammelte Krüger 1963 ein anderes und doch ähn­liches Auto­ren-Sorti­ment. Es lohnte sich, von heute aus auf die dama­ligen Ana­lysen und Prog­nosen der Autoren ein­zu­gehen. Die Frage nach der Linken wäre durch die Frage nach der Rechten zu ver­voll­stän­digen. Mein Artikel, den Krüger wie die meisten anderen aus einer Radio-Sen­dung über­nahm, trug den Titel Der Geist und sein drittes Jahr­tausend und war durchaus opti­mis­tisch. Der letzte Satz lautet: »Die neue Linke ist der Pro­log des drit­ten Jahr­tau­sends oder gar nichts.« Das sehe ich heute noch eben­so, wenn auch nicht mehr opti­mistisch. In Deutsch­land ist der Ver­rat der Intel­lek­tuel­len bloße Kon­tinuität.
  Die Frage Optimismus-Pessimismus ist, Gott sei's geklagt, auch rein bio­gra­phisch zu stellen. 1957 in West­berlin angelangt, mit der DDR im Rücken, geriet ich über den Begriff Frei­heit in Zweifel. Es ging um die werte Identität. Würde ich mich nun end­lich offen als Trotzkist bekennen, wäre das ein Triumph für die Genossen Stall­meister von Ostberlin bis Leipzig. Nenne ich mich Blochianer, schadet es dem gerade von der Leipziger Karl-Marx-Universität aus­gesperrten Ernst Bloch. Mich als Anti­kommunist zu definieren klang ver­lockend, weil es die Wonnen totaler Feind­schaft verhieß, verstieß jedoch gegen den innersten marxis­tischen Wesens­kern. Also wurde ich zum erklär­ten Ex-Kommunisten, wie es den fatalen Fakten beid­seits der Grenze entsprach, die in Berlin der späteren Mauer noch entbehrte, in den Köpfen der Feinde beidseits jedoch längst exis­tierte. Da half nur das freie Schweben zwischen den Fronten mit den Glücks­fällen verbaler Teilhabe von Fall zu Fall. Als gelern­ter Kupfer­schmied wusste ich mit dem Hammer – ach ja, Nietzsches Hammer-Philo­sophie – umzugehen. Als Segel­flieger hatte ich die unüber­treffliche Freiheit über den Wolken samt Aero­dynamik genossen. In Leipzig unter Dauer­beschuss geraten fühlte ich mich morgens als Humorist, mittags als Clown und am Abend als roter Wutgenosse, der seine Niederlagen in die Tasten seiner alten Reise­schreib­maschine hämmerte, die Manu­skripte aber zu ver­bergen gezwungen war. Gelangten ein paar Seiten doch zum Druck, folgten sogleich Drohung und Strafe. Auf denn, Genosse oder Anti­genosse Ex-Kommunist.

Mit vierzehn hab ich versucht, ein guter Hitlerjunge zu sein. Mit siebzehn hab ich versucht, ein guter Soldat zu sein. Mit neunzehn hab ich versucht, ein Deserteur, guter Deutscher und Kommunist zu sein. Alles stand unter dem Signum Tarnung, Widerspruch, Zwang. Als Hitlerjunge half ich, unsere Bücher zu retten und wollte im Segelflugzeug nach Prag abhauen. Als Soldat wollte ich Pilot werden und mit der Maschine türmen. Es gelang nicht, zu Fuß rettete ich mich Richtung Rote Armee. Als Kommunist verbarg ich meine Vorliebe für Trotzki, bis sie sich nicht mehr leugnen ließ. Als Autor in Leipzig wurde ich zum Feind erklärt, weil ich meiner Faszination für Trotzki, Bloch, Lukács nicht abschwor. Als Schriftsteller in der BRD begriff ich bald, was Tucholsky meinte, als er sagte, er habe Erfolg, aber keine Wirkung. Ein Mensch, der seine Worte und sein Leben miteinander in Einklang bringt, lernt freier zu atmen. Literatur ist, was sich anders nicht leben und sagen lässt.

1974 erhielt ich den Ernst-Reuter-Preis, dessen Annahme mir viele Linke ver­übelten. Reuter war als West­berliner Regierender Bürger­meister Spitzen­figur im Kalten Krieg und vorher sogar mal Kommunist gewesen. Der Preis wurde in Bonn vom zu­ständigen Minister Franke über­reicht, einem Mann der Gruppe um Herbert Wehner. Ich steckte das Preis­geld dankbar ein und überwies es nahezu voll­ständig kurze Zeit später meinem Zahnarzt für kompli­zierte aufwen­dige Eingriffe im Ober- und Unter­kiefer. Viele Zähne waren in Russ­land geblieben. Nach der Preis­verleihung be­harrte ich auf meiner Version von Marx, Trotzki, Bloch auf dem 3. Weg fern vom atomaren Kriegs­pfad. Mit Wehner aber ging es nicht lange gut. Willy Brandt nannte Wehner und Helmut Schmidt im gleichen Atemzug Arml­euchter. Das ist doch unglaub­lich nett ausgedrückt.
  Bei meinen Lesereisen in das für mich ab1990 wieder betretbare östliche Deutschland wies ich auf die nötige China-Orientierung hin und erntete nur Unverständnis. Man wollte mehr Westdeut­scher sein als diese selbst und so ging die eigene Identität in die Binsen. Die Bürge­rrechtler wurden von Bonn hofiert und geför­dert. Bald durften sie sich hinten anstellen. Seitdem spielen sie ihre Heldenrollen weiter als wären sie Sieger wie Angela Merkel. Doch sie war und ist keine Bürger­rechtle­rin. Es ist wie bei den Opfern des Stali­nismus im Unter­schied zu den Opfern Stalins. Zu denen auch viele Täter Stalins zähl­ten. Der Lauf des Irra­tiona­lis­mus – oder einfach der Geschichte? Zu Stalins Terror passend fällt mir das kleine Laos ein. Während des Vietnamkrieges machten die ameri­kani­schen Flächen­bombarde­ments das Gebiet zum pro Kopf der Bevöl­ke­­rung »am stärksten bombar­dierten Land der Erde.« (FAZ 12. 5. 2012) Die USA lassen bomben, Stalin ließ erschießen, erhielt dafür jedoch keinen Friedens­nobel­preis wie Henry Kissinger. Vietnam, übrigens wie Laos ein Massen­bomben-Opfer, steht heute den USA näher als zu China. So wechseln Opfer wie Täter. Gegenwärtig ist ungewiss, wird China mit seinen angehäuften Dollars die Vereinigten Staaten aufkaufen oder wird es zum Dank für die finanziellen Dienst­leis­tungen von US-Flugzeugträgern atomar vernichtet werden. Wer ist Freund, wer Feind. Ist nicht schon jeder jederzeit jedes geworden?
  Irrational wie in der Weltpolitik läuft es auch daheim. Lafontaine wird in den Medien mit viel Häme begleitet. Das Orakel von der Saar sei zu alt, zu radikal, werde nicht mehr gebraucht. Der wahre Grund ist, das Orakel war eine Pythia, die beizeiten vor der heutigen Europa-Welt-Krise warnte, sie richtig voraus­sagte und seither systematisch gemobbt und verspottet wurde. Der Verweis aufs Alter klingt besonders plausibel aus den Schandmäulern von Adenauerianern, die schon vergreist geboren werden wie ihre sich häu­fenden Bankrott-Spitzen­leistungen zeigen.

Die Frage nach Wahrheit und Lüge gleicht der nach Täter und Opfer. Beides erfordert Selbsterforschung. Wer es sich zu leicht macht, findet wie Grass zu spät zum Eingeständnis oder erntet wie Alfred Andersch als Deserteur mit seinen frühzeitigen Kirschen der Freiheit kollektiven Schimpf. Meine eigene Abrechnung blieb in der DDR nicht folgenlos. Für die BRD hier ein Zitat von 1989 aus Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht:


Gerhard Zwerenz | Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht   Gerhard Zwerenz
Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht
Rasch und Röhrung 1989


»Als die deutschen Soldaten auf Kephalonia wüteten, im September 1943, war ich kurz zuvor von Sizilien, das die Alliierten erobert hatten, aufs italienische Festland übergesetzt. Noch heute frage ich mich, wie ich mich als Angehöriger der auf der griechi­schen Insel eingesetzten Edelweiß-Divi­sion verhalten hätte. Gewiss, ich bin später desertiert, aber wäre ich auch auf der Insel von der Fahne gegangen? Ich bin mir meiner keineswegs so sicher. Mein Glück, dass ich nicht dazugehört hatte. So verurteile ich die Mörder von Kephalonia nicht. Ich wehre mich nur dagegen, dass wir als Deutsche unsere Morde nicht wahr­haben wollen, die der anderen aber politisch ausnutzen. Als Soldat war ich, wie alle Soldaten im Krieg, am Töten beteiligt, ein pflichtgemäßer Mörder, ein durch Befehle gedeckter, unschuldiger Mörder. Wäre ich, auf die Insel Kephalonia ver­schlagen, an den massen­haften Exe­kutionen italienischer Gefangener betei­ligt gewesen, müsste ich mich als schuldiger Mörder bezeichnen, obwohl ich auch dabei nur gehorsam meiner Soldatenpflicht nachgekommen wäre.«
  Soldaten­pflicht und Gehorsam bilden die zwei Pole, um die sich alles dreht. Ich lehne beides ab. Statt einer pazifis­tischen Begrün­dung hier die auf das obige Zitat folgenden Sätze: »Nach den Kephalonia-Ver­öffent­lichungen schrieb mir ein Akade­miker und gläubiger Christ, der als junger Soldat damals auf der Insel dabei­gewesen ist. Ich hoffe, diesen Brief­wechsel zusammen mit anderen Zeugnissen einmal ver­öffent­lichen zu können. Die Seelen­pein des Sol­daten, der in diese Situation kommt, hält lebens­lang an, auch wo sie überwunden scheint. Ich schätze aber, dass nur einer von hundert über­haupt an der Über­windung arbeitet, die andern ver­drängen und sind doch an ihren Aggres­sionen, Verleug­nungen und Roheiten kennt­lich, so dass sie unfrei bis zum letzten Atemzug dahinkümmern.«

Seit einem Kölner Landgerichts­urteil gegen die rituelle Beschnei­dung gibt's neben dem umstrittenen Euro einen neuen Brennpunkt öffentlicher Diskussion. Betrifft das Geld jeden einzelnen, der es hat oder nicht hat, ist die Beschneidung Sache von Meinungs-Eliten. Die einen halten's mit der Religion, wobei Judentum und Islam als Tangierte gemein­same Fronten bilden, die anderen halten es mit der Aufklärung. Die Prozedur wird auf Gott zurück­geführt, wobei keiner fragt, ob Gott selbst beschnit­ten ist, und wenn ja, wer ihm das antat und in welchem Alter. Im Lite­ratur­zirkus macht gerade ein engli­sches Buch Shades of Grey, auf deutsch erschienen unter dem Titel Geheimes Verlangen Furore. Es geht um Sado­maso­chismus, inklusive Fesseln und Prügeln, dargestellt an einer 21jährigen studen­tischen Jungfrau, deren seeli­sche Beschnei­dung ein erfolg­reicher 27jähriger Geschäfts­mann vornimmt, dessen »Abgef­uckt­heit« psycho­logisch erläu­tert wird, obwohl dadurch nicht mehr zu erklären ist, wozu er seinen »beacht­lichen Penis« ge­braucht. Frag­lich bleibt, ob die ehr­furchts­volle, doch ungenaue Größen­angabe dem Pe­nis oder Phallus des schlag­kräfti­gen Geschäft­smannes gilt. Die Autorin, angestellt bei einem tv-Sender, sowie brave Ehe­gattin und Mutter, schreibt unter Pseudo­nym. Ich lese außer zwei größeren Rezen­sionen zu dem finan­ziell irr­witzig erfolg­reichen Buch nichts weiter, weiß aber genug. Den Rest besorgen Buch­handel, Talk­shows und unter­werfungs­willige, lektüre­gier­ige Haus­frauen-Schwärme. Der heraus­geben­de Münchner Goldmann-Verlag sollte sich, wie von Bild verlautet, in Gold­frau-Verlag umbenennen. Unklar blieb mir bisher, wer die Ver­fasserin verhaut. Klar ist, Prügel, erzwungener Sex, Missbrauch von katho­lischen Priestern ihren Zöglingen zugefügt, waren wohl falsch adressiert. Und wann wird die zum Sado­masochismus verführte Studentin, als Opfer maskuliner Gewalt auftretend, auf Schmerzens­geld klagen? Oder unterliegt sie samt Verlegern der künftigen Lust­steuer?
  Das S/M-Gewusel der Zweierbeziehung im Roman tarnt mit individuellem Tratsch die Essenz der Konstellation. Die Beziehung zwischen Oberen und Unteren weist insgesamt sado­masochistische Eigenschaften auf. Der Obere ist vorwiegend Sado, der – die – Untere zumeist Maso. Die Crux des Revolutionärs: Er muss die Oberen besiegen und ersetzen ohne selbst zum Sadisten zu entfremden. Der siegende Revolutionär – Revolteur – aber läuft Gefahr, sich als Konterrevolutionär zu enthüllen. Und was wird aus der Leidensbereitschaft der bezwungenen Unteren, im Roman dargestellt als Leidenslust der Frau? Darüber schweigt die Softpornos dichtende Angestellte, Ehefrau und Familienmutter.

Werfen wir einen Seitenblick in den fernen Osten. Was die KP Chinas »Sinisierung des Marxismus« nennt, ist das Experiment mit einem kapitalistischen Marxismus oder marxis­tischen Kapitalismus. Die Diktatur des Proletariats wird wie in der SU unter Stalin zur Diktatur der Partei, die jedoch das Land, das mehr ein Erdteil ist, dem Kapi­tal öffnet, ohne die Macht aus der Hand zu geben. Im Inneren wird keine organisierte Opposition geduldet, nach außen hin die Grenze streng bewacht. Die Konflikte der Kapita­li­sierung mögen an die brutalen englischen Zustände der Klassen­gesellschaft erinnern, wie Friedrich Engels sie schildert. Die Wieder­holung verläuft verspätet, doch deutlich verkürzt, was die Partei zu steuern versucht. Bisher mit einigem Erfolg. Der weitere Aufstieg ist abhängig vom intellektuellen Zustand der chinesischen KP-Füh­rungs­riege sowie der Weltlage. Das ging in der Sowjetunion nach Lenins Tod schief. In China eröffnete Maos Ableben bessere Per­spektiven. Augenscheinlich ist der Mix von Marx plus Konfu­zius fruchtbarer als der Mix von Marx und Dogmatismus. Offenbar sind Sadomasochismus und Beschneidung im chinesischen Marx-Kapita­lismus kein Thema. Ausge­nommen die Beschneidung der werten Vergangenheit. Das ist wie bei den Deutschen mit der seit 1848 anhaltenden Tendenz, die Vergangenheit zu erledigen, indem man sie per S/M ständig wiederholt. Zwei Weltkriege, ein Kalter Krieg und noch immer nicht genug davon.


Gerhard Zwerenz | Kopf und Bauch   Gerhard Zwerenz
Kopf und Bauch
Roman
Area, 2005
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In Kopf und Bauch heißt es auf Seite 130: »1953 war der Name Walter Benjamin völlig unbekannt. Nach Blochs Hinweisen stöberte ich in der ›Deutschen Bü­cherei‹ ein altes Exemplar vom Ursprung des deutschen Trauerspiels auf. Es befand sich im »Gift­schrank«, ich konnte mit Sonder­genehmigung heran, hockte wochenlang im Lesesaal, fertigte über 100 Seiten Auszüge an, begann ein Manu­skript über das Buch, dann über Benjamin, dann über allgemeine Ästhetik, endlich über das Komische und stützte mich neben Benjamin auf Bergsons Das Lachen ( Le rire) «
  Von den frühen Benjamin-Studien im Zusammenhang mit Bloch ging es zu drei Themen, die mich dauerhaft beschäf­tigten. Das ist 1. Blochs Rückgriff auf Aristoteles und Platon, 2. Benjamins Koppelung von Traum und Heiter­keit – mit Bergson zum Lachen gesteigert – 3. Benjamins Blick von unten nach oben. Punkt 1 und 2 sind Theorie, Punkt 3 muss im Leben be­währt und aus­gehalten werden. Wer von unten nach oben blickt und sich zu sagen traut, was er sieht, wird sich bewähren müssen, wenn die von oben nicht nur zurück blicken, sondern auch zurück schlagen. Das gilt für heute und gestern und ob hier oder dort in West und Ost.



Bei den 68ern imponierte mir deren kritische Haltung zu den Nazi-Eltern. Die DDR-Bürger­rechtler präsen­tieren sich in zwei unter­schiedlichen Gruppen. Die einen kamen aus staatstreuen Eltern­häusern und blieben bei aller Kritik meist links, ab­ge­sehen von Aus­nahmen wie Vera Wolle­nberger / Lengsfeld, die anderen ent­stammten Nazi-Familien und setzten deren Anti­kommunis­mus-Anti­marxis­mus unver­froren fort, was mich in den Fällen Eppelmann und Gauck eine Zeitlang in Ver­legenheit brachte, weil ich mit beiden zu sprechen versuchte, jedoch abge­wiesen wurde. Am 28.10.1989 verging sich in der FAZ ein Gift­zwerg an meinem Buch Vergiss die Träume deiner Jugend nicht, aus dem ich hier einige Abschnitte zur Schuld­ver­weigerung nicht ohne Absicht zitierte. Dazu Werner Fuld: »Wie und wen Gerhard Zwerenz leimt.« Da kam einer aus dem eigenen Leimtopf – Mustopf und schloss auf andere. Am 12.10.1993 nahm sich die ehrenwerte FAZ unseren Kollegen Horst-Eberhard Richter vor und dessen Buch Wer nicht leiden will, muß hassen – Zur Epidemie der Gewalt, welche Verständi­gungs­bereit­schaft das bürgerliche Blatt zur Warnung vor Werk und Autor veranlasst. Krieg den Fried­fertigen! lautet statt­dessen die Losung.

Boehlich wollte Kampf gegen rechts fort­setzen, was FAZ-Autor E. Fuhr eine „un­über­biet­bare Ver­bohrt­heit“ nannte
Am 12.5.1992 wurde Eckhard Fuhr, ein Fuld-Bruder im FAZ-Geiste deutlicher, indem er unserem Haus- und Chow-Freund, dem bewährten Anti-Nazi, Publi­zisten und langjährigen Suhrkamp-Chef­lektor Walter Boehlich »unüber­bietbare Ver­bohrt­heit« nach­sagte, weil Boehlich »… kürzlich während einer Frankfurter Podiums­diskus­sion kate­gorisch fest­stellte, die DDR-Vergangen­heit ›betrifft uns nicht, unsere Ver­gangen­heit ist der National­sozialis­mus‹ – womit gemeint war, dass unver­drossen im glaubens­starken ›Kampf gegen rechts‹ fortzufahren sei.« Boehlich also war gewillt, den Kampf gegen rechts fort­zusetzen, Eckhard Fuhr offen­sicht­lich nicht. So kann acht Jahre später eine FAZ-Schlamm­schleuder wie er zum Feuilleton-Chef der Welt aufsteigen. 2005 beglückte er die Öffent­lichkeit mit einem Buch über die Berliner Republik, in dem er gegen den »deutschen Selbst­hass« pole­misierte und eine neue Selbs­twahr­nehmung ver­langte, abseits der »Hitlerschen Traumata«. F.J. Strauß lässt grüßen mit seiner Forde­rung an Deutsch­land aus dem »Schatten Hitlers heraus­zutreten«. Von all dieser Gnade rechter Augenblindheit profitieren die Neonazis bis hin zu den NSU-Mördern. Eckhard Fuhr aber befand sich schon 1992 auf großer Fahrt, denn er besprach ein von der Frankfurter Ex-Linken Cora Stephan herausgegebenes Rowohlt-TB, das mit dem Titel Wir Kolla­borateure ... nicht sich selbst kritisierte, sondern die Linke denunzierte, die Fuhr, sich bei Henryk M. Broder anschleimend, als »hege­moniale intel­lektu­elle Kaste« aufs Korn nahm. Mir wurde ganz solidarisch zumute mit der Schar der Ange­griffenen. 1933 zählte ich noch keine acht Jahre, als wir unsere Bücher vor den Nazis ver­stecken mussten. Jetzt 1989 war ich zwar ein wenig älter, doch noch immer bereit, aus dem erlebten Ende der ersten Weimarer Republik Schlüsse zu ziehen, auch wenn Fuhr, der inzwischen mit Broder gemeinsam im Welt-Reich residiert, auf Wiederholung im Kampf gegen links aus ist.

Die Wie­derholungs­manie des Duells rechts gegen links läuft auf eine Wie­der­holung der Weimarer Republik hinaus.1933 siegte die gesamte Rechte über die gesamte Linke. Das macht jede Koope­ration mit dem Neo­nazismus inklusive dessen mörderischer Linkenhatz unent­schuldbar und verlangt nach herzhafter Volksfront.
  Ich greife auf Benjamins Koppelung von Traum und Heiterkeit zurück, denke ich an mein labiles Geburts­land Sachsen und sein Elbflorenz Dresden. Die Ver­tei­digung Sachsens als Serien-Titel wird allerdings zum Albtraum, nehmen wir das Trauerspiel der Rechts­zustände für bare Münze – Dresden und seine wirren Bomben- Erin­nerungs­tage samt der verbissenen Protes­tierer-Ver­folgung durch die Staats­anwalt­schaft, die Neo­nazismen landesweit aus­greifend, das unfass­bare Zwickauer NSU-Trio – das soll Sachsen sein? Albtraum und Heiterkeit gehen nicht miteinander. Ich kenne ein anderes Land von der Pleiße bis über die Elbe. Bevor es hinterm Mond völlig verschwindet, erlaube ich mir, es auf ein paar tausend Seiten als alternative Geschichte von unten gegen oben vorzulegen, als erlebtes Zeitprotokoll und individuelle Enzyklopädie jener kleinen Lebens­läufe, die von den offiziellen Historikern und Staats­dichtern den Un­personen zugerechnet und abge­tan werden. Die Weimarer Republik ergab sich dem Dritten Reich. In der DDR sah ich den Versuch einer Korrektur. Das misslang. Die DDR ergab sich Bonn. Das vereinte Deutsch­land steht erneut vor der Entscheidung zwischen Weimar und den Versuchungen der Welt­macht. Es geht nicht um den Führer, es geht um seine ekelhaften Hinter­lassen­schaften und die noch immer nicht über­wundenen Menta­litäten.
Gerhard Zwerenz    23.07.2012   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz