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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 82

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

82

Vom Langen Marsch zum 3. Weg

Ein Satz wie „Der Tillich war zwar willig, doch zu billig“ – sächsisch ausgesprochen – taugt als Ohrwurm glatt für die erste Seite von BILD. Sachsen hat auf Dauer kein Glück mit seinen Ministerpräsidenten. Biedenkopf spielte König Kurt, Milbradt den Banker, Tillich den Unbe­lasteten. Am besten wäre die Rückkehr zur Nationalen Front. Alle Block­parteien sind gleich­berechtigt, die Linke verzichtet auf die Diktatur des ohnehin abhanden gekommenen Prole­tariats, die CDU bekennt sich offen zu ihren DDR-Aktivi­täten, FDP und Grüne dürfen mitsingen, Westdeutsche auch, wenn sie ihre gemeinsamen Vergangen­heiten beichten. Für die Aufklärung sorgt Soko Leipzig. Alles dreht sich um den rechten Weg, auf den das Volk gebracht werden muss. Der rechte Weg wird umgetauft und heißt nun „3. Weg“.
Heinrich Schwartze:
Ulbrichts Lieblingspastor
Der Lange Marsch zum 3. Weg führte Mao im Jahr 1956 nach Leipzig in die Gold­schmidt­straße 12, wo er eines Morgens am Bett meiner Studenten­bude stand und mir auf nüchternen Magen rot­chinesische Weisheiten einschenkte. Am Nachmittag war ich bei dem vom Pastor zum Marxismus­dozenten umge­buchten Dr. Heinrich Schwartze eingeladen, der mich über den gefähr­lichen revi­sionis­tischen Philosophen Ernst Bloch auf­zuklären hatte. Ich ließ das geduldig über mich ergehen und klärte meinen Aufklärer über Mao und den neuen chine­sischen 3. Weg auf. Mein roter Ex-Pastor lauschte aufmerksam, wie diese Theologen es gelernt haben, doch am 15. Oktober 1957 ließ er die Maske des artigen Zuhörers fallen und warnte mitten in der Zeitung Neues Deutschland vor der „Illusion vom 3. Weg“. Wir zitierten daraus in Folge 69 unserer Serie zur Verteidigung Sachsens.
Mein 3. Weg hatte mich inzwischen in das kleine Dorf Kasbach am Rhein, unweit der zerstörten Brücke von Remagen geführt, wo sich 1959 eine bunte Schar von allerlei Exkommunisten niederließ. Dort erschienen auch jene Ausspäher und Kundschafter, bei denen man nie sicher sein konnte, arbeiteten sie für Ost oder West oder für beide. Dass unsere Richtung DDR gezielte Zeitschrift Der dritte Weg insgeheim von Günther Nollau finanziert wurde, der die Ost-Abteilung des Ver­fassungs­schutzes leitete, erfuhr ich erst später. Es machte mich aber misstrauisch genug, um Nollau auf der Spur zu bleiben, als er an die Spitze des Amtes gelangte. Weil ich später wegen der Affäre Guillaume in Bonner Behörden recher­chierte und dabei Nollaus Aktionen tangierte, reagierte er auf eine Art und Weise, die ich aus der DDR nur zu gut kannte. Dabei wusste Nollau gut genug Bescheid, um absolut auszuschließen, ich stünde etwa in Diensten der DDR. Doch die Strukturen der unteren Dienste versauen die Charak­tere der Oberen bis zur Schizo­phrenie. Und umgekehrt.
Günther Nollau
Das Amt
C. Bertelsmann 1978
In Nollaus Buch Das Amt (1978) liest sich das so: „Einige meiner Mitarbeiter und ich disku­tierten damals mit ehemaligen Kommu­nisten, vor allem mit dem aus der DDR geflohenen zweiten Sekretär der FDJ, Honeckers dama­ligem Stell­vertreter Heinz Lippmann darüber, wie man diese Diskus­sionen anregen und für unsere Abwehr­zwecke nützen könne. Wir kamen zu dem Ergebnis, eine offene Werbung für die Sozial­demokratie werde es den mos­kau­treuen Kommu­nisten erleichtern, jeden neuen Gedanken mit dem Etikett ›So­zial­demokra­tismus‹ zu versehen und abzu­lehnen. Einer kam auf die Idee, einen ›Dritten Weg‹ zu propagieren, einen schmalen Pfad, den zu begehen, die Fähigkeit erforderte, zwischen dem ortho­doxen Kommunismus und der refor­merischen Sozial­demokratie zu balancieren.“
Wer dieser eine mit der Idee des Dritten Weges war – nun ja – ich war als Vertreter dieser Richtung hinreichend bekannt, ohne zu ahnen, dass Ulbrichts Material vom 33. Plenum inzwischen in Bonner Kreisen umlief. Schon 1957/58 gab es Teilabdrucke in der Wochen­zeitung Das Parlament, andere Textstücke kursierten in Ämtern und bei geheimen Mittels­männern beider Seiten. Carola Stern zitierte mir bei Lektorats­besprechungen im Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch Sätze aus dem Durch­suchungs­protokoll unserer Wohnung von 1957, das ich selbst gar nicht kannte. Geheim­dienst­dschungel eben. Im Exilort Kasbach wucherte der prächtig.
Nollau weiter im Text: „Wir druckten ein bescheidenes Blättchen, nannten es ›Der Dritte Weg‹ und versandten es an Kommunisten in Ost und West, deren Anschriften wir uns beschafften. Wir hatten auch eine Spalte für Leserbriefe geschaffen und baten um Zuschriften. Auf diese Weise hofften wir, Kommunisten kennenzulernen, die Gegner des Stalinismus waren. Im Mai1959 starteten wir unser Blättchen mit dem Artikel ›Zwischen Stalinismus und Kapitalismus‹. Die Angriffe auf den Stalinismus fielen uns leicht. Aber um glaubwürdig zu sein, mußten wir auch den Kapitalismus und die Politik der Bundesregierung kritisieren. Das war zwar nicht schwer, denn an der damaligen Ostpolitik gab es zum Beispiel manches zu beanstanden. Aber die Angriffe mußten so dosiert sein, dass sie, falls das Unternehmen einmal platzte, vor der Dienstaufsichtsbehörde zu vertreten waren. Diesem Teil des Balanceakts widmete ich mich selbst. Ich schrieb zwar keine Artikel, aber alle zwei Wochen hielten wir in einer Kölner Wohnung eine Redaktionssitzung ab, in der ich – als eine Art Chefredakteur – für die richtige Dosierung sorgte. Dabei diskutierten wir auch über die Resonanz, die unser Blättchen hervorrief. Wir konnten zufrieden sein: In der DDR hatten wir anscheinend eine offene Wunde berührt. Sogar Walter Ulbricht befasst sich mit dem ›Drltten Weg‹. Am 26. Juni 1959 erklärte er vor Intellektuellen in Dresden: ›Was bedeutet diese Konzeption des sogenannten Dritten Weges? ... Zwischen den Fronten kann man nur das Leben verlieren.‹ Noch mehr als die Angriffe Ulbrichts erfreute uns Der Spiegel mit einem Artikel, dessen Ausgabe vom 16. September 1959 unter der Überschrift ›Dritter Weg‹ erschien. Darin hieß es: ›Ausgerechnet einer Zeitschrift solcher Ideal-Kommunisten, einem obskuren, seit Mai dieses Jahres in Koblenz erscheinenden Blättchen, widerfuhr die Ehre, für die größte ideologische Abwehrkampagne in der Geschichte der SED den Titel liefern zu dürfen.‹
Wir waren dankbar für die kostenlose Reklame, die Der Spiegel für unser in der Tat obskures Blättchen machte. In dem Koblenzer Postfach, an das wir Zuschriften erbeten hatten,stauten sich die Anfragen. Unser Zweck, Anschriften ideologischer Abweichler zu erhalten, war damit erreicht. Wir ernteten auch Anerkennung von anderer Seite. Als ich einige Nummern des BIättchens an einen der größten westlichen Nachrichtendienste mit der Bitte um Beurteilung gesandt hatte, erhielt ich die Antwort:
›Nach unserer Meinung ist ›Der Dritte Weg‹ eine der besten Sachen, die wir im Bereiche der SED-Opposition gesehen haben. Die Themen sind gut gewählt. Die Artikel sind treffend und gut dokumentiert …‹ Die kIugen Spiegel-Redakteure hatten sich nicht die Frage gestellt, woher die ›Idealkommunisten‹ ihre Mittel hatten, um dieses Blättchen erscheinen zu lassen. Jede Nummer kostete immerhin einige tausend D-Mark. Die Frage nach dem Geldgeber hatten sich aber andere Leute gestellt, die - begreiflicherweise - auch an unserer obskuren Publikation interessiert waren: die Kollegen vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR. Sie brauchten einige Jahre, um das Problem zu lösen. Im Dezember 1961 hatten sie es geschafft. Wir lasen in der Berliner Zeitung vom 28. Dezember:
›Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat. .. unter dem Namen ‚Dritter Weg' eine Agentur geschaffen, die zugleich die Hetzzeitschrift ›Der Dritte Weg‹ herausgibt …‹
Jede Zeile dieses ›Druck­erzeugnis­ses‹ genehmigt Dr. Nollau persönlich. Er legt ebenso den genauen Anteil der in jeder Ausgabe zu veröffent­lichenden Materialien fest ... und selbst die scheinbare Kritik an Ansichten von SPD-Führern ist nichts anderes als Spiegel­fechterei mit dem letztendlichen Zweck, die Unter­grund­tätigkeit dieser Verfas­sungs­schutzagenten abzu­decken.‹
Zu diesen Erkenntnissen war das MfS durch einen Agenten gelangt, den es in die Redaktion ›Dritter Weg‹ (nicht in das Bundesamt für Verfassungsschutz) eingeschleust hatte. Für uns was das ein Rückschlag, über den wir uns mit dem Gedanken trösteten, dass derartige Publikationen ohnehin kurzlebig sind.“
Soweit das frühere Dresdner NSDAP-Mitglied Günther Nollau, der es in Bonn als Sozial­demokrat bis zum Präsidenten des Bundes­amtes für Verfas­sungs­schutz brachte, mit gewiss exquisiten Gedanken zur Kurzlebigkeit seiner Publi­kation über und gegen den Dritten Weg.
Edgar Most | Fünfzig JAhre im Auftrag des Kapitals
Edgar Most
Fünfzig Jahre im Auftrag des Kapitals
Das Neue Berlin 2009
Wir schalten die Zeituhr von 1959 weiter auf das Jahr 2009: Edgar Most, vormaliger Vize­präsident der DDR-Staats­bank, der seine Karriere als Direktor und Vor­stands­mitglied in der Deutschen Bank fortsetzen konnte, äußerte in der jungen Welt vom 2./3. Mai 2009: „Wir brauchen eine Markt­wirtschaft, einen dritten Weg. Der Markt­kapitalismus hat versagt, ebenso der Staats­sozialismus. Markt und Staat müssen zum Wohle der Menschen zusammen­gebracht, der Dollar muss als Leit­währung abgeschafft werden. Wir brauchen eine fiktive Welt­währung.“ Am 11. Mai wurde Most in Neues Deutschland noch konkreter: „Es muss endlich ein Pakt Ost beschlos­sen werden, der für 40 Jahre gilt, egal wer regiert – eine Art zweites Grundgesetz für Ost­deutschland. Man hat sich mit der Wieder­vereinigung gegen eine neue Verfassung entschieden. Es wurden nie die Vorteile Ost und West auf den Prüf­stand gestellt und abgewogen. Die Bevölkerung ist nicht gefragt worden. Und damit haben wir auch nicht die mentale Einheit. Die Ostdeutschen fühlen sich über den Tisch gezogen. Es ist das einge­treten, was wir immer gelehrt bekommen haben: ›Das Sein bestimmt das Bewussstsein.‹ Wenn man keine Arbeit hat, keinen gefüllten Geldbeutel oder bei Sozial­leistungen unter­schiedlich behandelt wird, wie soll man dann das System befür­worten? Ein System wird daran gemessen, wie viel Armut es versorgt oder zulässt. Das gilt auch für den Dritten Weg.“
Das konkrete Sofort-Programm von Most lautet: „Soli­daritätszuschlag ab­schaf­fen, Stasi-Akten schließen, denunzia­torische Geschichtsbilder zer­reißen. Vor allem aber Steuer­modelle speziell für den Osten, die nationales und inter­nationales Kapital anlocken. Groß­betriebe mit mehreren Stand­beinen, auch in der Land­wirtschaft, Erhöhung der Bildungs- und Forschungs­ausgaben, Rück­holung der abge­wanderten jungen Leute durch spezifische Anreiz­programme, finanzielle Absicherung kultureller Standorte etc. Dann kann der Osten sich selber nähren und wird gesamt­gesellschaftlich zur Wert­schöpfung beitragen. Und es kann endlich innerer, sozialer Frieden einkehren.“
In der jungen Welt hatte die nach dem chinesischen Dritten Weg klingende Forderung prompt zu unterschiedlichen Reaktionen geführt. In einem ersten Leserbrief war Most ein „fundierter Fachmann“, im zweiten hieß es im üblichen Jargon: „Sein Gefasel vom ›dritten Weg‹ zeigt, dass er die ökonomische Basis der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht kennt, weil er sonst wüsste, dass an gesellschaftlichen Hauptproduktionsmitteln nur entweder privates oder gesellschaftliches Eigentum bestehen kann …“
Die braven Orthodoxen, welcher Glaubensrichtung auch immer, greifen automatisch zum großen Hammer. Dazu gibt's einen feinen Witz: Ein nach Bayern verpflanzter Berliner Steppke wird vom Lehrer gefragt: Was ist das? Es ist lockig, hüpft munter herum und hat einen langen buschigen Schweif? Antwort: Ick hätt ja jedacht, es ist ein Eichhörnchen, doch wie ick den Betrieb hier kenne, wird's wohl das liebe Jesulein sein.
Was dem einen sein Jesulein, ist dem anderen das Eigentum an den Produktionsmitteln. Dogmatiker aller Kirchen vereinigt euch. Im 3. Weg finden sie zueinander gegeneinander und gegeneinander zueinander. Hatte Heinrich Schwartze schon 1957 in Neues Deutschland vor der Illusion des Dritten Weges gewarnt, warnt 52 Jahre später der DKP-Theoretiker Hans Heinz Holz: „Einen dritten Weg zwischen Marx-Engelscher Dialektik und einer anderen Inter­pretation philosophischen Wissens gibt es nicht …“ Die Artikel-Überschrift lautet: Parteienkampf in der Philosophie.(junge Welt 13.5.2009) Tags darauf holt Genosse Prof. Holz noch einmal weit aus und behauptet so umfangreich wie unver­drossen die „Unmöglichkeit des dritten Wegs“, wobei er, einmal im teutonischen Elan, gleich den ihm zu idea­lis­tischen Königs­berger Immanuel Kant mit erledigt.
Ernst Bloch, sein Doktorvater, auf den Holz sich gern beruft, ist zu unserer Hauptfrage anderer Ansicht: „Ich habe gesagt, dass ich mich zur DDR bekenne, dass ich diesen dritten Weg für diskutierbar halte … es gibt nur die Selbstreinigung des Marxismus, das ist eine alte Theorie von mir. Das heißt aber nicht, also Moment, zur DDR kann ich mich bekennen, zur Regierung nicht.“ (Quelle: Leipziger Abhör-Protokolle, Treff­bericht mit GI Lorenz vom 7.12.1957 – wahrscheinlich Fiktionali­sierung in eine Person, in Wirklichkeit Aufzeichnung durch Wanzen) Was nun, Genosse Holz? Seine Sicht auf die Geschichte wäre diskutabel, hörte sie nicht 1923 mit dem Ende der Revolutionsperiode und 1924 mit Lenins Tod auf. Zum anschließenden Konflikt Stalin-Trotzki und der neuen massenmörderischen Weltlage schweigt des Theoretikers Höflichkeit, denn im Kommunistischen Manifest steht kein Satz über faschistische und/oder stalinis­tische Konter­revolutionen. Marx war ein begnadeter Diagnostiker, kein Prognostiker. Vom Faschismus und Stalinismus trennten ihn Welten.
Das auf dem 3. Weg befindliche China sitzt heute auf fast 2 Billionen US-Dollar und wird von der amerikanischen Außenministerin Clinton heftig umworben. Die USA im Bündnis mit der gelbroten Gefahr? Wo bleibt beim Untergang des Abendlandes das heilige Deutschland? Der umtriebige Dr. Nollau hatte den 3. Weg noch geheimdienstlich gegen die DDR genutzt. Wäre der umstrittene Weg jetzt etwa direkt für die westliche Werte­gemeinschaft zu nutzen? Schon gibt's Signale von wahrhaft über­raschender Seite. Bundes­präsident Köhler, so ein Bericht des Münchner Merkur vom 30. 3.09, ist bei einer Rede in Berlin auf dem „dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus“, wobei er geradezu „auf­rühre­risches Poten­zial entfaltet“. Damit Prof. Holz nicht völlig verzweifeln muss, eilen ihm die nicht weniger kämpferischen Kameraden von der FAZ zu Hilfe. Am 7.8.2003 warnt auf Seite 1 ein Herr „bko“ vor dem 3. Weg in Afghanistan, denn der könne sich für den Westen am Hindukusch „als der längste und schlechteste herausstellen.“ Am 13.5.09 plaziert Frank Pergande im Leitartikel einen scharfen Angriff gegen „Das Land Utopia“ und den „dritten Weg“. Genosse Holz samt FAZ- Verbündeten bilden also mit ihrer vereinten Feindschaft gegen den 3. Weg zwar noch keine nationale Volks­front, doch eine gewisse Kampf- und Schicksals­gemeinschaft hat sich, nicht vom Himmel fallend, aus Sach­zwängen hergestellt. Getrennt marschieren, vereint schlagen?
Der deutsche Fortschritt rast inzwischen als ökonomischer Formel-1-Weltmeister immer schneller ins Ziel. Am 19. Mai 2009 verriet Angela Merkel bei Sandra Maischberger ihr Geheimnis, wonach die Berliner Republik sich längst auf dem 3. Weg befinde. Auf Nachfrage verwies sie auf den lieben rheinischen Kapitalismus, als sei das Nachkriegswunder heutzutage zum Weltkrisennachfolgewunder aufzupeppen. So sucht sich jeder seinen ganz eigenen Weg.
In der Zeitung junge Welt, wo Holz seinen entkernten Marx/Lenin verabreicht, scheint sich ein pluraler Geist erproben zu wollen. Bald wird das heutige China des Revisionismus mit Lust und Laune dargestellt, bald Lafontaines Bundestagsrede zur Verteidigung des Bonner Grund­gesetzes ungekürzt abge­druckt. Wo bleibt da die Parteidisziplin, die den deutschen Parteikader von ca. 40.000 Mitgliedern siegreich auf unter 4.000 abzusenken verstand und als nächstes Ziel 400 anvisiert? Spott beiseite, Freunde. Es geht um die Wurst.
Bevor ich mir den Spaß erlaube, von den tapferen Geheimdienstlern Ost und West zu berichten, die den 3. Weg von beiden Seiten so bekämpften, dass es außer meinen Versuchen eines Cervantes plus Schwejk bedürfte, davon angemessen zu erzählen, wollen wir einen Augenblick lang Tacheles reden.
 Heinrich Schwartze:
 Die Illusion vom dritten Weg
 ND 1957
 (Zoom per Klick)
Was bleibt von Hitler? Seine waffen­när­rischen so national wie inter­national das Weltende betreibenden Nachkommen. Was bleibt von Stalin? Die Stalinorgel, deren höllische Musik die deutsche Wehrmacht samt aller Mitläufer aus den eroberten Lände­reien heim ins Reich dröhnte. Wenden wir uns also Ebert-Pabst-Noske zu. Was bleibt von ihnen, die Deutschland eine sozial­demokratische Revo­lution (Haffner) vorenthielten und den braunen Bataillonen das Tor zum Dritten Reich öf­fne­ten? Da brauchte es einen Stalin, die russische Dampfwalze zu roten T 34-Divi­sionen umzuwandeln. Wie wär's also, ver­suchten wir es endlich mal ganz ohne Krieg auf einem 3. Weg? In Folge 69 dieser Serie wird Neues Deutschland vom 15.10.1957 mit Heinrich Schwartzes Vortrag „Die Illusion vom dritten Weg“ zitiert, womit er, wie nicht nur Hans Mayer zu berichten wusste, zu Walter Ulbrichts Lieblings­pastor aufstieg. Schwartzes luzide Rede diente fortan dem Politbüro als Leitstern gegen den 3. Weg und den Bonner Klassen­feinden zu Mani­pulationen gegen die SED. Als 1974 im Frankfurter S. Fischer Verlag mein Buch Der Widerspruch erschien, enthielt das zugehörige Werbeplakat auf der Rückseite Schwartzes Rede. Das Original-ND ist heute kaum noch auf­zutreiben, das Fischer-Plakat vereinzelt und teuer im Internet. Wer wissen will, was der 3. Weg sein kann, braucht nur die Schwartze-Rede zu lesen und muss lediglich, wo der gläubige Ex-Pastor und Genosse dagegen ist – dafür sein. Das Resultat ist ein original Leipziger Produkt. Als Schwartze 1957 beauftragt war, mich von Bloch abzubringen, trug ich ihm stattdessen unser Destillat aus Trotzki, Bloch und Weltbühne vor. Das traf. Als er dann meinen Artikel im Westberliner Telegraf, damals noch ein Stück sozial­demokratischer Presse, zu Gesicht bekam, zog er dagegen vom Leder. Seine zwar intelligente, aber historisch schiefgewickelte, grundfalsche Polemik und die bei uns beschlag­nahmten Papiere samt Durch­suchungs­protokoll vom 9.9.1957 gehörten jetzt zu Walter Ulbrichts Hausschatz, mit dem er auf dem 33. Plenum Bloch der Konterrevolution beschuldigte. Die geheimen Materialien gelangten geheimnisvoll nach Bonn zum geheimen Herrn Nollau, der es damit bald zum Verfassungsschutz-Präsidenten schaffte. Vorerst aber schwebte Ulbrichts Dresdner Drohung im Raum: „Zwischen den Fronten kann man nur das Leben verlieren“ – sie ist zugleich die Summe seiner Lebenserfahrung. Und im Westen sprang Hauptmann Pabst wütend aus der Deckung, als es mir gelang, ihn öffentlich im stern des Doppelmords an Luxemburg und Liebknecht zu beschuldigen. Der 3. Weg führt offenbar zwischen den Hitlers und Stalins mittendurch, wo des Weltbühnenbürgers revolutionärer Stammsitz ist, ganz im Sinne der Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky.
PS: Inzwischen geschehen Zeichen und Wunder. Gerade war diese Folge für den poetenladen in Leipzig fertig, sind heute morgen drei Großbürger zu vernehmen, die sich zum 3. Weg den Kopf zerbrechen. Und gestern durfte in der jungen Welt der marxistische Prof. Dr. Wolfgang Fritz Haug mit Fug und Recht dem marxistischen Prof. Dr. Hans Heinz Holz die Leviten lesen. Die Herren Genossen Akademiker werden doch nicht etwa auch noch den Moskauer 20. Parteitag der KPdSU von 1956 entdecken. Bei soviel Fortschritt wird einem ja ganz schwindelig.

Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 08.06.2009.

Gerhard Zwerenz   01.06.2009   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz