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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 49. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  49. Nachwort

Auf der Suche nach der verschwundenen Republik


Gerhard Zwerenz   Gerhard Zwerenz hält im Matrosenanzug Ausschau nach der verschwundenen Republik


AIs ich sieben Jahre alt war, also beinahe erwachsen, ging ich eines schönen Abends unschuldig zu Bett, und am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war die Weimarer Republik verschwunden. Wir schrieben damals Ende Januar des Jahres 1933. Meist merkt man ja nicht sofort, wenn einem was geklaut worden ist, besonders über Nacht. Außerdem litt ich nicht an Schlaflosigkeit, im Gegenteil, ich schlief tief und lange.
  An jenem Morgen war ich mir auch nicht gänzlich sicher. Man weiß manchmal nicht recht, ob es einem an etwas mangelt. Ich suchte hier und dort und guckte aus lauter Verlegenheit unters Bett. Fehlt dir was? fragte meine liebe Großmutter. Ach ja, sagte ich, die Weimarer Republik! Na, meine Großmutter war allerhand gewöhnt, Fragen stellt der Junge! stöhnte sie manchmal, ihr war die Republik gar nicht geklaut worden, sie hatte früher im Königreich Bayern gelebt, da gab's so was nicht, dann war sie ins Königreich Sachsen ausgewandert, und als dort Ende des Ersten Weltkriegs die Republik ausbrach, hatte meine Großmutter nur damit zu tun, die hungrigen Mäuler ihrer Familie zu stopfen, da gab es unter Hohenzollern und Hindenburg wie unter Ebert und Hindenburg für die kleinen armen Leute nichts zu lachen.
  Ich fand die geklaute Republik an diesem Morgen jedenfalls nicht, und es tat sich für mich die Jahre hindurch nichts weiter, nur einmal, ich war inzwischen elf Jahre alt geworden, da traute ich doch meinen Augen nicht, da saß ich in der Klasse – ganz plötzlich von einem Tag zum andern – unter lauter braunen Affen.
  Das Dritte Reich hatte seine Hitlerjugend und sein Jungvolk zur Staatsjugend erhoben, und um es zu zeigen, kamen alle, Lehrer wie Schüler, an diesem Tag in Uniform zur Schule. Davon hatte ich bis dahin nichts geahnt. Wir waren nur ganz wenige, eine kleine nichtradikale Minderheit in Zivil. Da wusste ich aber noch nicht, mit wie viel Blutgeld zu zahlen sein würde.

Bloß eine Kriegs­geschichte: Von Neapel bis Santa Maria und weiter zurück nach Gaeta, Formia und Pontecorvo -nichts als einsame Berge und dazwischen die herrlichen Trümmer von Kirchen und Städten; und dann die Erdhügel mit den soliden Kreuzen und Helmen drauf. Oft hatten wir es mit Neuseeländern zu tun, das waren große wunderbare Burschen mit weit ausgreifenden, langsamen Bewegungen. Wie im Kino sah das aus bei ihnen, als sie uns an einem von Licht und Trägheit flimmernden Nachmittag vom heißumkämpften Petrella vertrieben. Schreiend liefen wir fort. Laudorf, unser Unteroffizier, der sich aus Steinen einen Schutzwall gebaut hatte, wurde schon beim Aufspringen getroffen und hielt einen blutigen Arm hoch. Wie uns das anfeuerte! Wir hetzten lustig in die Schlucht. Über der Schlucht am Berghang standen die Neuseeländer und lachten sich halbtot. Ihre Kugeln schlugen klatschend in die Leiber der Flüchtenden. Die Luft summte, nichts geht über einen richtigen Krieg! In der Nacht schnitten sie Laudorf den Arm ab, und er überlebte ihn um zwei Stunden. Als wir nach hinten trotteten, trugen sie Laudorf aus der weißgetünchten Schule, die als Haupt­verbands­platz diente, und warfen ihn in den Graben. Wir schlichen einer hinter dem andern vorüber. Der Graben voll herrlich-frischer Leichen. Mit BüscheIn von Klatschmohn strich der Wind sanft über die gelblichen Gesichter. Hinter der Schule stand ein öffentlicher Brunnen. Aus dem Schnabel der steinernen Gans rann Wasser, lustig anzusehn. Wir hielten die Helme drunter und tranken schmatzend. Das Wasser war bräunlich und warm. Aus großen schwarzen Augen sahen die Kinder uns zu. Ihre Hände, Arme und nackten Beine waren bedeckt von schmutzigen Krusten, unter struppigem Haar fragten alte, traurige Gesichter. Ein verwachsenes Mädchen tanzte. Es trat nahe an mich heran, soff, voll blöder Wonne, Wasser aus meinem Helm. Als ich ihn aufstülpte, perlte der Rest mir über Stirn und Nase, und das Mädchen lachte fröhlich.
  Am Ortsausgang trieb uns, immer locker, immer frisch, ein hysterischer Leutnant zusammen. Unschlüssig standen die Überbleibsel der Kompanie auf der Straße. Der Leutnant bellte, die Stirnadern verknotet, dauernd dazwischen. Wir stopften die empfangenen Patronen in die Taschen.
  Der Petrella wird sofort zurückerobert! schrie der Leutnant emphatisch.
  Wir waren sauer, weil die Rückeroberung einige Umstände machte, wandten die Köpfe dem verfluchten Scheißberg zu und trotteten durch den Ort zum südlichen Ausgang. Vom Hauptverbandsplatz trugen sie, immer noch fleißig, Tote heraus, das Geschäft lief; am Graben davor erblickte ich einen Fuß von Laudorf. An den zwei gelben Streifen der Socken erkannte ich ihn. Laudorf freute sich gewiss sehr, wüsste er, dass ich ihn erkannt hatte. Gar nicht so einfach, schwer und zufrieden wie eine große, satte Fliege lag ein unbekannter, dicker Feldwebel auf unserem Laudorf, die grauen Augen in den Himmel gerichtet.
  In den letzten Häusern stöberten wir einen angeketteten Köter auf. Langsam kamen wir in Kampfstimmung. Ketteten ihn los. Bis zu den Hängen umkreiste uns der Hund. Da begann die Artillerie zu schießen. Das Tier setzte sich nieder und blickte ungläubig zu uns auf, als seien wir Gott; dann sauste es zurück zur Stadt, und Brubbe, der gleichmütige Mörder, schickte ihm ein paar Flüche und Kugeln hinterdrein.
  Wir stiegen den Petrella hinan. Die frischen Leichen waren schön von Fliegen bedeckt. Aus ihren Felsklüften schrien lieblich die Verwundeten. Der grausame Angriff gebar viel Mitgefühl und Nächsten­liebe. Vom Kegel herab drang das Gelächter der Neuseeländer. Sie saßen oben, trinkend und schießend und sich Konservenfleisch in die Mäuler stopfend; als wir den Berg genommen hatten, stand ein Heer von geöffneten Fleisch­dosen einladend zwischen Deckung und Waffen. Wir setzten die Mahlzeit fort, damit nichts umkäme. Mit Kolben und Bajonett machten sich die Meldegänger vom Kompanietrupp über eine Handvoll Gefangener. Es klatschte und schrie, und dann gurgelten die großen schönen Männer grimmig ihr eigenes Blut und sahen sich aus runden, aufgerissenen Augen ungläubig dabei zu.
  Soldaten! Das war ein Kampf! schrie der Hauptmann, steif vor Stolz, die schmalen, ehrgeizigen Wangen von Blut überkrustet. Hinter ihm beugten sich seine Meldegänger, erregt atmend, über die Kolben ihrer Karabiner und reinigten sie.
  Ich kam an mein Schützenloch. Ein toter Neuseeländer lag behäbig darin. Wie eine schwarze Brasil ragte ihm ein Granatsplitter aus dem Mund. Ich warf den Toten, der lästig werdenden Fliegen halber und weil man nach getaner Arbeit gut ruhen will, den Abhang hinunter. Seine weißen, verdrehten Augäpfel blickten sanft zu mir zurück. Der mürbe Stamm eines Feigenbaums fing ihn auf, die Äste zitterten, ich vernahm etwas wie ein Stöhnen, zog die Zeltplane über mein Gesicht, atmete tief durch und schlief ein.
  Am Abend weckte mich Geschrei. Wir wurden abgelöst. Vor Müdigkeit steif stakten wir den Berg hinab. Der Ort lag ruhig. An der Schule hatten sie die Toten aus dem Graben gehoben und sauber auf zwei Lastwagen geschichtet.
  Wir liefen, die Köpfe gesenkt, vorüber in die Quartiere, wo wir, rechtschaffen müde, einfach zu Boden sanken.
  Alles vergessen?

Westsächische Wider­standsgruppe 1933

Noch etwas mehr Weltkrieg gefällig? Wir schalten um in die Jetztzeit. Von braunen Hochburgen Sachsens ist zu hören und zu lesen. Limbach-Ober­frohna, Karl-May-Land, doch heute rechte Gewalt, Ausländer­feind­lich­keit, Linke werden bedroht, gejagt, die poli­tische Mitte rückt nach rechts, Sozial­demo­kraten und Links­partei klagen, bleiben separiert wie einst vor und nach 1933. Im Sommer 1934 flog der erste westsächsische Wider­standkreis auf. Die 150 Verhafteten zählten zu KPD und SAP, nicht zur SPD. Soll das heute alles vergessen sein?
  Frohe Kunde aus der FAZ. Am 9.11.2010 werden die Bekennt­nisse einer zornigen Araberin empfohlen: Wie ich Scheherazade tötete von Joumama Haddad – „eine Kampf­ansage gegen die körper­feind­lichen Strukturen in der arabischen Welt“ wird da notiert, warum nur in der arabischen Welt? Wer bombt, schießt mit Raketen und körper­feind­lichen Drohnen? „Die Studie Das Amt wird in der deutschen Botschaft in Washington vor­gestellt – Ein ehrlicher und schmerz­voller Blick auf die Ver­gangen­heit … Die Auf­arbeitung … musste warten … bis die gewandelten NS-Diplomaten ver­schwunden waren … Die sowjetische Bedrohung musste zusammen­brechen, ehe im Westen das Groß­reine­machen ernsthaft beginnen durfte … “ Offen gesprochen, bis es soweit war, wurde also von Staats wegen verborgen, verdrängt, gelogen. Ohne SU-Ende wäre das so wei­ter­gegangen? Ertappte Sünder. Konser­vative Täter und Schweiger. Das also ist die konservative Revolution?
  Am 12.11.2010 war in der FAZ zu lesen: „In Slowenien wurde ein weiteres Massengrab der kommunis­ti­schen Partisanen entdeckt. Die Opfer waren vermutlich Deutsche.“ Karl-Peter Schwarz schildert die barbarischen Racheaktionen der Sieger von 1945. Für die Ursachen erübrigt er im ganzen umfangreichen Artikel gerade mal elf Zeilen: „Am 22. Mai 1945 wurden in dieser Gegend 2000 Angehörige der 7. SS-Frei­willigen-Gebirgs­division ›Prinz Eugen‹ erschossen. Diese Division bestand zu mehr als neunzig Prozent aus soge­nannten Volks­deutschen, die vor­wiegend aus dem serbischen Banat stammten, aber auch aus Kroatien, Rumänien und Ungarn, und hatte sich bei der Partisanen­bekämpfung schwerster Kriegsverbrechen schuldig gemacht.“

Vor dem letzten Krieg gegen Jugoslawien er­reichten uns im Bundes­tag auf internen Wegen Informationen aus dem nervösen Nerven­zentrum der christ­lichen Kanzler­partei. Das geplante Ein­greifen mit Bundes­wehr­soldaten als Bestand­teil der NATO in Bosnien-Herzegowina stoße bei Alfred Dreg­ger auf schwer ergründ­bare, wahr­schein­lich mentale Wider­stände. Ein leib­starker Abge­ordneter werde im Plenum an Dreggers Seite beordert, der den Hauptmann a. D. notfalls am Schla­fittchen packen und zurück­halten solle, falls er, wie befürchtet, einer plötz­lichen Zornes­auf­wallung nach­gebend, sich erheben würde, um gegen die Bundes­wehr­aktion in Jugo­slawien zu protestieren.
  Die linken Kollegen, die das hörten, rätselten – ausgerechnet der letzte klassische kalte Krieger votiert gegen deutsche Soldaten in Bosnien – ja ist der Mann zum Pazi­fisten mutiert? Ich kenne die Beweggründe wohl besser. Die Grausamkeiten des Partisanenkampfes 1941 bis 1944 gegen die Wehrmacht, die Morde und Massaker mit ausge­stochenen Augen, abge­hackten Gliedern, gekreuzigten Gefangenen – sie leben im Gedächtnis des Hauptmanns fort. Ebenso die massenhaften Folterungen und Morde nach Kriegsende, die Sühnemärsche, Vertreibungsverbrechen, die schauerlichen Rachetaten – von den 175.000 Soldaten der Heeres­gruppe E verloren in Gefangenschaft fast die Hälfte das Leben. Nach der Wieder­eroberung Belgrads am 20. Oktober 1944 schlachteten die Partisanen im Blutrausch ihres Sieges auf einem einzigen Platz 5.000 Gefangene ab. Die bestia­lische Blutorgie veranlasste sowje­tische Offiziere schließlich zum Eingreifen. Es sollen an die 30.000 deutsche Gefangene massakriert worden sein.
  Dregger kennt die Details, ob aus eigenem Erleben oder aus zweiter Hand. Ich glaube seine Gefühle zu begreifen. In so ein Land sollten deutsche Soldaten nie wieder geschickt werden. Allerdings meine ich, dass wir in beiden Weltkriegen dort nichts zu suchen hatten und besser weggeblieben wären.
  Dem deutschen Gedächtnis entfällt, wenn es die eigenen Opfer nach Kriegsende klagend erinnert, was zu Kriegsbeginn geschehen ist: Am 6. April 1941 z.B. griffen deutsche Bombergeschwader ohne jede Kriegserklärung die offene Stadt Belgrad an. Siegreiches Ergebnis: Stadt großenteils zerstört, 17.000 tote Bewohner. drei Jahre später kam der Tag der Rache. Er allein lebt im kollektiven deutschen Gedächtnis fort. Ritualisiert im Gewirr von Volkstrauertagen, Toten­sonntagen, Helden­gedenk­tagen und was dergleichen noch zu veranstalten sein mag. Den Trauernden genügt das bloße individuelle Totengedenken, die Trauer um einen einzelnen Menschen nicht. Es geht stets um Kollektive. Gestorben wurde für Vaterland, Führer, Rasse, Volk. Soll das alles nicht mehr mitgedacht und mitbetrauert werden, erscheint der Tote zu nackt und blass? Soviel Schwäche und Vereinzelung hält der Trauernde nicht aus. Der Tod wirkt dann sinnlos.
  Von der „Sinnlosigkeit“ des Krieges wird gern gesprochen. Der Sinn des Krieges, der zum Tod des zu Betrauernden führte, bestand aber im Kriegsziel der Unterwerfung anderer Völker, in ihrer Ausplünderung, Vertreibung, Vernichtung. Weil es misslang, soll es nicht mehr wahr sein .Wenigstens soll es nicht mehr gedacht werden. So deckt der Begriff der Sinnlosigkeit die Niederlagenerfahrung zu wie der Deckel den Sarg. Die Überlebenden schmarotzen am falschen Gefühl, denn sie möchten in die Gefilde der Erhabenheit erhoben sein, wo gehörnte Engel unter Tränen fromme Kirchenlieder singen.
  Werner Mölders –
früher Held bei der Legion Condor

Mit dem gestrigen Totensonntag ist die diesjährige Trauerwoche erst einmal vorbei. Aus der Sonntagszeitung ist zu erfahren, Wowereit zieht wohlgemut in den Berliner Wahlkampf, Grüne genießen angeblich Narrenfreiheit, Sarrazin relativiert einige seiner Dummheiten, in den USA breitet sich Antiintellektualismus mehr und mehr aus, Schwule und Lesben müssen sich in der Army verleugnen, ein Foto zeigt Werner Mölders 1938 in Spanien als Held der Legion Condor, Überschrift: Schöner fliegen? Maxim Biller legt sich mit Prof. Baring an, der durch seinen Geruchssinn in Wetten dass … gewinnt, die deutsche Jung-Frau streikt: So wenige Kinder wie nie zuvor … Amerika als Supermacht der Vergangenheit ist wie gelähmt - was heißt da „wie“? In Leipzig bekommen Studenten aus dem Westen einen Einführungskurs ins „Sächsische“. In der Frankfurter Paulskirche fand eine Gedenkstunde zum Volkstrauertag statt, denn Aufarbeitung ist wichtiger denn je, und so zeigt sich Nils Minkmar über George W. Bush eben publizierte Memoiren „kurz schockiert“ – Worüber? Krieg angezettelt, gelogen, Folter befohlen, massenhaft Tote produziert, Krieg nicht gewonnen, wer wird da nicht zumindest kurz schockiert sein?

Henryk M. Broder ist es nicht. Am Montag nach dem Volkstrauertag im traurigen November 2010 er­scheint er pünkt­lich wohlgelaunt um 22 Uhr 15 bei Phönix – Unter den Linden und beklagt den linken Anti­ameri­kanis­mus. Was Krieg, was Folter, wer's ankreidet, erweist nur seinen „intel­lektuel­len Hang zum Appease­ment“. (Spiegel 18.3.2010.) Welcher auf­rechte Bürger wird sich sowas nach­sagen lassen? Mit Haupt­mann Broder auf zum Hindu­kusch und sonst­wohin. Schon entwirft Minister zu Gutten­berg auf seinem Schloss eine Kollek­tion nagel­neuer Kriegs­orden, so ist das eben, wenn Repu­bli­ken verschwinden. Ich erinnere mich – als die Weimarer Republik verschwand, gab's deutsche Einheit und Krieg. Als das Dritte Reich verschwand, gab's Entwaf­fnung, Pazi­fismus und 1979 mit Helmut Schmidt den NATO-Doppel­be­schluss. Seit BRD und DDR ver­schwunden sind, gibt's wieder Einheit mit Krieg, bis die Republik dahinter unauffindbar sein wird. Die Geschichte über die geklau­te Weimarer Republik, mit der dieses Nachwort beginnt, dachte ich mir während der Schlachten in Sizilien aus. Es ist meine Version von Hans im Glück. Inzwischen kam uns eine Republik nach der andern ab­handen und wir leben in einer Berliner Republik. Ende offen? Das Ende ist in Reichweite. Mit den verschwun­denen Republiken geht ihre Geschichte unter. Die Deutschen schaffen sich selber ab, droht Sarrazin. Wie schön, wenn die Deutschen sich abschafften, um Europäer und Weltbürger zu werden, auch wenn Baring vor Sozial­roman­tik und Broder vorm Gut­menschentum warnt. Ich blicke in meine Notizbücher der neunziger Jahre und bin eitel genug, mich in den Satiren, mit denen ich die diversen Unter­gänge skiz­zierte, bestätigt zu finden. Wir sind jetzt in voller Einheit fünfgeteilt: römisch-katholisch, evangelisch, jü­disch, isla­misch, athe­istisch. Da wird der Urvater in Rhöndorf wohl bald explo­dieren und die Trüm­mer können den Nach­regie­renden noch um die Ohren fliegen, wenn sie sich längst im neuen Regie­rungs­gebirge und seinen Irrgärten zwischen Brandenburger Tor und Reichs­tag in wohl­bewachter Sicher­heit wähnen.

Wenn im Lande welche lange genug auf den Putz gehauen haben, setzen die Auguren Geschichts­stunde an und die Oberlehrer der Nation versammeln sich, ein jeder ein einsames Genie mit dem von Zeit zu Zeit hervor­brechen­den archaischen Drang zur kollektiven Weihe am gesamt­deutschen Stammtisch. Sie beteuern gute Absichten sowie ewige Freundschaft und setzen ihre Feind­schaften bruchlos fort, die längst niemand mehr begreift, aber alle interessieren, so dass selbst der letzte Hai zwischen Kali­fornien und Australien noch die Ohren spitzt. Während um mich herum lauter wieder­geburtliche Jungfrauen leben, die entweder Adenauers Kopf ent­sprangen oder 1989 von der deutschen Pallas Athene, besser bekannt unter dem Namen Claudia Schiffer, per Steißgeburt zur Welt gebracht worden sind, besitze ich eine tatsächliche Ver­gangen­heit. Ich erinnere mich in die neunziger Jahre zurück:
  In dieser Nacht liege ich hellwach träumend auf meiner zum Notbett umfunktio­nierten Bonner schwarzen Ledercouch, Heussallee 7 , und Heinrich Heine kommt schnell mal auf einen Sprung von Düsseldorf herüber, denn er ist mit der Loreley verabredet, kann sie aber nicht finden. Ich schreibe ihm die Adresse von Dagmar Enkelmann in die rechte Handfläche, die er sonst kaum gebraucht, dieser Linkshänder. Die Genossin Frau Dr. Enkelmann kannst du gar nicht verfehlen: So unübersehbar sitzt sie im Bundestag, PDS-treu wie Gold, schon die CSU-Größe Hans Klein, Journalist, Minister a. D., Vizepräsident des Bundestages, seelischer Schornsteinfeger mit unüber­treff­barer Tiefschwärze, Spitzenreaktionär und gebenedeiter Charmeur, dazu noch sudeten­vertrie­bener Katholik, war in Dagmar Loreley derart unrettbar verschossen, dass er verstarb. Sind eben alles Menschen.
  Diese germanischen Romantiker, nörgelt Heinrich, der Heine, oder ist's Böll? Aber den Böll betete die Romy Schneider an, in nicht abge­sandten porno­graphischen Liebesbriefen, also ist es doch Heine, der von meiner schwarzen Couch Richtung Enkelmann mit mindestens 300 PS entschwindet.

Am Morgen danach ist unsere blonde Genossin merklich müde. Ich ge­stehe dem Grafen, der im Plenum neben mir sitzt, puber­täre Träume ein. Dieser ganz andere Heinrich antwortet nach­denk­lich: Als ich puber­tierte, suchte ich eine leicht ange­jahrte Dame aus der ferneren Ver­wandt­schaft zu gewinnen, die meine unge­stüme An­nähe­rung mit den verwun­derten Worten kommen­tierte: Und ich war so froh, den leiblichen Ver­schlin­gung­en endlich entron­nen zu sein.
  Mit Heinrich zum Presseclub gehetzt. Verspätet in den vollbesetzten Raum gedrängt. Genscher stellt Wolfgang Leonhards neues Buch vor. Ich erspähe ein paar freigehaltene Stühle ganz vorn mit Namens­schildern. Wir usurpieren zwei Plätze. Genscher sächselt seine Laudatio weltmännisch bis zum letzten Punkt. Ein Verlags­ver­treter vertritt seinen Verlag. Wolfgang lächelt ganz wie früher in Höfers Sonntags­runde. Heinrich dringt zu den Koryphäen vor, greift ein Buch vom Stapel und lässt es sich vom Autor signieren, er und Leonhard kennen sich aus Moskauer Zeiten. Genscher spielt den Part des Außen­ministers, der er nicht mehr ist aus Gründen, die er in einem Buch, das er darüber schrieb, sorgfältig ver­undeut­lichte. Ich leide an Luftmangel, an den alten Freunden, drängele fort und treffe frühere Bekannte aus Kölner Zeiten. Frau Rühle? Sie schreibt unter Sabine Brandt in der FAZ Buch­rezen­sionen, wie lange sahen wir uns nicht, 30 Jahre? Es haut mir was in die Kniekehlen. Nach versuchter Konver­sation Rückzug auf die nächtliche Straße zum nahen Appartement. Am Morgen saut Einsiedei mich an: Wo warst du? Ich hab dich gesucht! Ach, Freund, ich bin vor den vergangenen Jugend­zeiten geflüchtet.
  In dieser Nacht ein Krimi im ZDF, der Kommissar so blöde und brutal, dass ich hoffte, er würde ermordet. Ich erwache aus meinem schönen Schlaf und lese im Spiegel vom 15.11.2010, Charlotte Roche, zurück aus den Feucht­gebieten und mittendrin in den Protesten gegen die Castor-Transporte, erbietet sich, mit dem Bundes­präsidenten „ins Bett zu gehen“, wenn er das Gesetz zur Lauf­zeit­ver­längerung von Atom­kraft­werken nicht unter­schreibt. Aha, denke ich, sie möchte unsere liberale Republik nicht ganz und gar verschwinden lassen. Doch was, um alles in der Welt, will sie dann in Christian Wulffs Bett anstellen?

PS: Dieses Nachwort 49 erscheint am 22.11.2010 – einen Tag später, am 23.11. läuft in Frankfurt/Main, am wichtigsten Wir­kungsort des Hessischen General­staats­anwalts, Ilona Zioks Film Fritz Bauer – Tod auf Raten. Wir äußerten uns prophylaktisch dazu im Nachwort 13 unter dem Titel Fritz Bauers unerwartete Rückkehr.
Gerhard Zwerenz    22.11.2010   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz