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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 44. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  44. Nachwort

Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen



  „Es ist das andere
Deutschland, das ruft“





Günther Weisenborn / Joy Weisenborn
Elisabeth Raabe (Herausgeberin)
Wenn wir endlich frei sind:
Briefe, Lieder, Kassiber
1942-1943
Arche 2008


Blochs Aufforderung, Schach statt Mühle zu spielen, bedeutete Dekon­struk­tion statt Sklavensprache. 1956 hieß das, nicht zurück zum toten Stalin, sondern vorwärts zum überlebenden Marx. Vom Parteiausschluss bedroht wäre ich vielleicht zurückgewichen, doch gegen Bloch aufzutreten war mir unmög­lich, da hätte ich mein ganzes Leben verraten müssen, beginnend mit der frühen Lektüre all der verfolg­ten und verbo­tenen Anti-Kriegs­bücher. Meine Vor­bilder hießen nicht Jünger und Richthofen und erst recht nicht Hindenburg und Hitler, doch das musste geheim bleiben bis zum Bruch mit den Ger­manen. Als es dann in der DDR plötzlich gegen Lukács und Bloch ging, war Protest gegen die Herrschaftsgenossen geboten.
    Es ist das andere
Deutschland, das ruft

Ernst Jünger als Exhibitionist


In meinem Heimatort gab es drei Deserteure. Zwei Kommunisten und mich als Nachwuchs. Der Maurer Reißmann überlebte die Fahnenflucht nicht, wahrscheinlich erledigten ihn die Russen. Der deser­tierte Straf­soldat Eick­worth wurde von ihn ver­folgenden deutschen Soldaten erschossen. Ich wusste Bescheid, als ich diese fatale Armee, abtarnend Wehr­macht genannt, verließ. Was soll einen noch zurückhalten, sind die Grenzen des Zumutbaren über­schritten. So etwas brennt sich ein bis in den letzten Nerv.
  Das hätte ich am 30. Januar 1957, vor Hunderten Kultur­arbeitern ange­klagt wegen dreier Texte, vergessen müssen. Na schön, ihr armen Funktions­träger, wenn ihr unbedingt einen zum Ab­strafen braucht bitte sehr, doch gegen jenen Ernst Bloch anzutreten, der unsereinem viele Lichter auf­steckte und schon im 1. Weltkrieg in die Schweiz emigriert war, um den Geist der Utopie gegen das krieg­führende eigene Land zu mobili­sieren, Motto: Kampf, nicht Krieg, gegen so einen Mann Stellung beziehen? Mit mir nicht. Die Mutter der Freiheit heißt Revolution.

 „Macht eueren Dreck alleene!“

„Theologen beraten Banken“ erfahre ich am 23.9.2010 aus der Zeitung. Warum denn nicht? Sie be­raten als Militär­geistliche doch auch Sol­daten, die immer als „unsere Soldaten“ firmieren. Gott mit uns war auf den Wehr­machts­koppel­schlös­sern zu lesen. Warum steht Gott mit uns nicht als Leit­spruch auf den Bank­palästen in Frankfurt/Main? Da wir gerade bei Bankern und Zahlen sind – in Dresden rechnen sie gerade mal wieder ihre Bomben­toten von 1945 zusammen. Sollen sie die neuen Bomben­toten von Bundes­wehr-Oberst Klein dazuzählen oder abziehen? Was ist Ver­söhnung, was Ver­höhnung? „Alexander Prinz von Sachsen geht nach Südamerika“, lese ich. Er nimmt seine Frau Prinzessin Gisela usw. mit. Aber keine Angst, andere junge Prinzen bleiben da und „sind bereit, Verantwortung zu übernehmen.“ Auch für mich, einen kleinen alten Auslandssachsen, doch mit Pleißenwasser gewaschen? Mein Traum erfüllt sich – bald sind wir wieder König. Verwirrend nur, am selben 23. September verrät uns das Feuilleton Wie man Fana­tiker werden kann. Na wie denn? Indem man das Liebste opfert, das man hat. Das kann ein Finger sein oder, soweit vorhanden, die liebe Unschuld. Da muss ich wohl unseren König opfern, der uns allerdings schon 1918 abhanden kam und am Ende den kräftigen Satz sprach: „Macht euren Dreck alleene!“ Was heißt nun, Prinzen und Prinzes­sinnen bleiben da und wollen Verant­wortung übernehmen? Erinnere ich mich recht, gab's mal ein auf­begeh­rendes rotes Sachsen, das auf seinen König pfiff.

Da wir gerade von Vertriebenen sprachen passt es gut ins Konzept, Ingrid Zwerenz zu zitieren, die von Verschiedenen Verlusten schrieb:
  „1946 nannte der unter ständiger Lebens­gefahr im Dritten Reich aktive Anti­faschist Günther Weisenborn, in den Jahren nach dem Krieg mit großem Erfolg auf zahlreichen Bühnen gespielter Theater­autor, viele beim Namen, die von ihrer Heimat verbannt, verjagt, verflucht und ausgebürgert worden waren. Weisenborn hielt eine Gedächtnisrede für den Schriftsteller und Dramatiker Ernst Toller, der sich als Emigrant in den USA 1939 in einem Schub tiefster Depression am Gürtel seines Bademantels erhängt hatte, kampfes­müde und verzweifelt an Nazi-Deutschland wie Kurt Tucholsky, der in Schweden eine Überdosis Veronal schluckte. ›Hier im Land‹, fuhr Weisenborn fort, ›starben eines furcht­baren Todes: Egon Friedell (...) Adam Kuckhoff, Erich Mühsam, Carl von Ossietzky.‹ Damit wir es nicht vergessen: Egon Friedell stürzte sich 1938 in Wien aus dem Fenster in den Tod, als die Gestapo vor der Tür stand, um ihn zu verhaften. Der linksdemokratische Journa­list und Wider­stands­kämpfer Kuckhoff wurde 1943 in Plötzen­see enthauptet, Erich Mühsam im KZ Oranien­burg 1934 von der SS zu Tode gequält. Das Martyrium Carl von Ossietzkys ist bekannt.
  Nun bin ich mir darüber klar, dass diese Fakten an der Vertrie­benen-Präsi­dentin Steinbach rück­standslos abgleiten und der Titel von Weisenborns Rede Der Verlust an Weltkultur ihr nichts bedeutet – diese Kultur ist nicht ihre Kultur, was für ihren langjährigen Ver­bündeten, den verstorbenen Peter Glotz nicht zutrifft, dessen Engagement für das Zentrum gegen Vertreibung, dieses unglück­selige Projekt, mir immer unbegreiflich bleiben wird. De mortuis nihil nisi bene, über Tote nur Gutes, doch dieser intel­ligente, integre Mann war als Steinbach-Kompagnon fehl am Platz. Er wurde als Kind selbst ver­trieben, das trifft auf viele Menschen zu, auch auf mich. In Liegnitz geboren und im Sommer 1945 als Elfjährige der Heimat­stadt verwiesen, ist mir die bittere Erfah­rung wochen­langer Fußmärsche nicht fremd. Der Treck irgendwohin, wo einen niemand haben wollte, prägt lebenslang. Die Interpretation dieser Erlebnisse möchte ich jedoch nicht delegieren, vor allem nicht an die CDU-Bundes­tags­abgeordnete Steinbach. Sie hat nur die Folgen für die Deutschen im Sinn, eine Analyse der Ursachen verweigert sie. Da findet sich die biblische Antwort: Wer Wind sät, wird Sturm ernten und der so banale wie passende Spruch: Sowas kommt von sowas. Wer Krieg beginnt, darf nicht jammern, wenn er dafür büßen muss. Ein Volk, das es fertig gebracht hat, den Großteil seiner Elite aus dem Land zu jagen, sollte sehr behut­sam umgehen mit Gedenk­stätten, sind sie auch denen gewidmet, die eifrig mitgejagt haben.
  Weisenborn: ›Es gibt einen Todfeind des Menschen in der Welt, das ist der Militarist, und es gibt einen Todfeind der deutschen Dichtung, das ist die ›Deutschland-über-alles-Literatur‹. Geht die Umkehrung der Täter-Opfer-Beziehung so hurtig weiter wie in den letzten Jahren, sind wir bald wieder bei dieser Literatursparte angelangt.
  Weisenborn beließ es 1946 nicht bei der Trauer um die Verstorbenen und Ermordeten, sondern richtete einen Appell an die überlebenden Emigranten: ›Wir bitten um die Rückkehr aus allen Ländern der Welt ... Es ist das andere Deutsch­land, das ruft.‹ Auf­geführt werden 45 Namen, davon seien einige hier genannt und in Klammern jeweils angemerkt, ob sie der Bitte folgten und wohin sie gingen: Ernst Bloch (DDR), Bertolt Brecht (DDR), Lion Feucht­wanger (blieb in den USA), Leonard Frank (BRD), Oskar Maria Graf (weiter in den USA), Wieland Herz­felde (DDR), Ludwig Marcuse (BRD), Thomas Mann (Schweiz), Heinrich Mann (verstorben vor der Über­siedlung in die DDR), Robert Neumann (Schweiz), Erich Maria Remarque (weiter USA), Anna Seghers (DDR), Bodo Uhse (DDR), Arnold Zweig (DDR) ... Es optierten also eine ganze Reihe Rück­kehrer für die östliche Republik, offen­sichtlich mit Recht im Zweifel, ob sie im Westen wirklich das von Weisenborn akklamierte ›andere Deutsch­land‹ anträfen.“

Soweit Ingrid zur Vertriebenen-Frage. Rainer Werner Fassbinder wollte übrigens, dass ich in seinem Film Lili Marleen (1981) Günther Weisenborn spiele. Da ich in den Drehtagen nicht im Lande war, übernahm er die Rolle selbst.
  Von den drei toten Stalin­gradern erfahre ich, infolge der von Kanzlerin Merkel bestätigten Erd­erwärmung tauen immer mehr tiefgefrorene Gefallene auf und bilden Heim­kehrer­verbände. Die Moskauer Regierung ist gespalten. Der deutsch­freundliche Putin will die Kameraden ziehen lassen. Der auf erhöhte Produkti­vität setzende Medwedjew möchte sie dabehalten, um ihre Arbeitskraft zu nutzen. In der Armee sagt man: Zwar besiegten wir die Wehrmacht in Stalin­grad. Heute aber heißt die Stadt Wolgograd und das georgische Geburtshaus Stalins liegt in Feindes­land. Sollte uns der dortige Präsident erneut angreifen, könnten wir ihm eine Division wieder­auf­erstan­dener Wehr­macht­soldaten ent­gegen­stellen, die lagen schließ­lich lange genug in unserer heiligen russischen Erde, um zu wissen, wohin der Rubel rollt.
 

Ernst Jünger als Exhibitionist




Unbeeindruckt vom langsamen, aber ziel­sicheren Untergang des Abend­landes feierte das Finanz­kapital­blatt FAZ am 9.10.2010 zu Unehren der gras­sie­renden Buchmesse ihren Graben­kämpfer Jünger mit den statua­rischen Worten:

„Erstmals erscheinen Ernst Jüngers Kriegs­tagebücher. Darin kann man dem Autor über die Schulter schauen und verfolgen, wie zwischen Sommer 1918 und Januar 1920 aus roher ungeordneter Masse ein Stück Literatur gemacht wurde.“


Ernst Friedrich
Krieg dem Kriege
Zweitausendeins
23. Aufl. (1980)
Wumm – den hehren Blei­sätzen folgt ein Porträt des Kriegers, der seinen Mantel zwar nicht auszieht, aber öffnet, auf dass seine blut­befleckten Ordens­kreuze sichtbar werden. Der Exhi­biti­onist zeigt sein Ding vor. Die Ent­blößung des Krieges als Kunst­foto und Foto­kunst. Wir fügen aus nicht weniger künstle­rischen Gründen das Cover von Ernst Fried­richs Krieg dem Kriege hinzu, TB-Aus­gabe bei 2001, Frankfurt/Main 1980 – 23. Auf­lage 1991. Die Ähn­lichkeit des Kämpfers als Gottes Eben­bild mit unseren Bundes­wehr-Soldaten in Afghanis­tan ist unbeabsichtigt. Jeder Krieg verlangt Mas­kierung. Auf die Gas­maske können wir heute verzich­ten. Statt mit Gas werden die Feinde von Gottes Himmel herun­ter mit Raketen und Drohnen gesegnet.

Ernst Jüngers Mantel-Porträt bietet eine Ent­blößungs-Szene über die Person hinaus, das Grabmahl der Krieger­kaste, deren Fortbe­stehen vom 20. ins 21. Jahrhundert hinein das Ende der Schrecken nur verzögert, auch der nachfolgende Sozialis­mus wurde davon noch infiziert. Siegreiche Revo­lutionäre, die keinen eigenen 3. Weg ris­kieren, enden bald im Chaos. Kuba zögerte lange – zu lange? – einen eigenen „chinesischen“ Weg einzu­schlagen. Der original chinesische 3. Weg dekonstruiert unsere vorherigen revolu­tion­ären Siege, die alle in Nieder­lagen mündeten. Allein China wagte die Ungeheuer­lichkeit, das Lenische Modell der Kader­partei mit dem Prinzip der ursprünglichen Akkumulation zu verbinden. Der Aufgang dieses marxis­tisch-konfu­zianischen Morgen­landes vollzieht, was bei Oswald Spengler bloß warnende Ahnung gewesen ist, der Unter­gang des Abend­landes rea­lisiert sich als Unter­gang des macht­habenden weißen Mannes und Sarrazin spielt einen ver­späteten Spengler. Wobei die bour­geoise Existenz­angst im Kern unbegründet ist. Das russische Beispiel zeigt, der zaristische Geist ver­seuchte die kom­munis­tische Hierarchie, deren Klassen­genossen nach dem Exitus der Sowjet­union als bour­geoise Millionäre und Milliar­däre wieder auftauchten. Dieses Bürger­tum ist die realisierte Morpho­logie Richtung Endzeit. Dem Kapital ist es egal, wer es besitzt, es geht wie Gott mit den stärke­ren Batail­lonen.


 Der Oelbaum
 Symbol des Lebens

Gerhard Zwerenz
Weder Kain noch Abel
Gespräch mit Jürgen Reents
Das Neue Berlin 2008
Eines der schönsten Kunstbücher mit Wort und Bild trägt den Titel Der Ölbaum – Symbol des Lebens. Die Anthologie erschien 1987 bei der Heidelberger Edition Braus. In meinem Beitrag heißt es: Uralte Männer und Frauen, eingesperrt in die Formen von Ölbäumen … Eingeweide erblicke ich. Augen aus der Tiefe. Zertrümmerte Stirnen … Ein Baum schlägt seinen Mantel auf. Mit Blick auf das Porträt jenes Leutnant Jünger, der seinen Mantel mit den Blutorden darunter vom Ersten Weltkrieg bis heute einladend öffnet, begreife ich, mein unpoliti­sches Naturgedicht vom Ölbaum ist so verdammt politisch wie der ungekündigte ewige Heldendarsteller EJ, der in unserer Presse fortwährend herumgeistert statt endlich ausgetrieben zu werden.

Im Interview-Band Weder Kain noch Abel fragte mich Jürgen Reents: „Haben Sie sich im Krieg auch als Held gefühlt?“ Da fiel mir eine Szene von der Italien-Front ein, im Buch ist sie gedruckt und steht hier, leicht gekürzt, als Illustration einer fatalen Wahrheit: „Als die Amerikaner 1944 in Nettuno landeten, um nach Rom vorzustoßen und weil sie am Monte Cassino nicht weiterkamen, wurden wir zu einem Gegenangriff dorthin gefahren … Wir hockten also in einem Graben und guckten über den Rand. Etwa 300 oder 400 Meter vor uns sahen wir eines der typischen italienischen Güter, die Mussolini dort nach einer Trocken­legung der Ponti­nischen Sümpfe bauen ließ. Das ganze Gelände war von Panzern nicht befahrbar, deswegen sind die Amerikaner nicht voran­gekommen. Es war zwar urbar gemacht worden, aber von vielen Gräben durch­zogen, in denen das Sumpfwasser abzog. Der Haupt­mann sagte: ›Das ist unser Angriffs­ziel.‹ Die Kompanie war aber nur noch in Zugstärke, als Gefreiter war ich Gruppenführer und meine Gruppe bestand aus zwei Leuten. Der Haupt­mann sprang auf den Rand des Grabens, hielt seine Pistole in die Luft und rief: ›Angriff!‹ Der Restbestand der Kompanie lief also in Richtung dieses Bauernhofes. Wie ich den Haupt­mann mit seiner Pistole vorangehen sah, war meine ganze Wut auf diesen Kerl gerichtet, weil ich ihn für einen furcht­baren Angeber hielt. Ich bin raus­gesprun­gen, rechts der eine von meiner Gruppe, links der andere. Was dann passierte, kann man nicht rational erklären. Ich bin bis zu diesem Gehöft gelaufen. Der Mann links neben mir kam abhanden – was aus ihm geworden ist, habe ich nie erfahren. Und der rechte Mann – er stammte aus Döbeln in Sachsen – ist mit mir gelaufen und auch an diesem Gehöft mit angekommen. Abwech­selnd warf sich immer einer von uns hin und schoss, um dem anderen, der vorlief, Deckung zu geben. Während wir vorstürmten, sah ich, wie sich eine Gruppe Amerikaner absetzte. Sie trugen offensichtlich einen Verwun­deten und verschwan­den in dem Wäldchen hinter dem Gebäude. Als ich mich umguckte, war von unserer ganzen Restkompanie und von Hauptmann Geier nichts zu sehen. Nur der aus Döbeln und ich sind an diesem Gehöft angekommen, und wir hatten das Gefühl, die Ameri­kaner in die Flucht gejagt zu haben ... Wir stießen mit dem Gewehrkolben gegen die Tür, bis uns der italienische Bauer öffnete. Dann standen wir drinnen. Alle Fenster waren verrammelt und die Familie hockte in einer Ecke. Wir sind mit unseren schweren Stiefeln ins Ober­geschoss hinauf­gestiegen und standen wieder vor einem zuge­schla­genen Fenster. Ich stieß das Fenster auf und sah plötzlich: Die Amerikaner hauen nicht mehr ab, die kommen zurück. Und schon ging die erste Kugel direkt neben meinem Kopf in den Fenster­rahmen, peng, der Putz war weg …
  Wir poltern also die Treppe runter, rennen aus der Haustür raus und sehen, wie die Amerikaner sich gruppenweise nähern. Ich habe mich schutz­suchend in einen dieser Wasserkanäle geschmissen, die waren dort aber nur einen halben Meter hoch. Während ich mich in den Graben werfe, bekomme ich einen Schuss in den Arm und mein Gewehr fliegt weg. Hinter mir schmeißt sich der Junge aus Döbeln in den Graben und schreit auf. Er hatte ebenfalls einen Schuss in den rechten Oberarm gekriegt, aber schlimmer als ich. Bei mir war der Knochen angekratzt, bei ihm war er kaputt. Schuss­bruch nannte man das … Der Hauptmann Geier hatte in der Zwischenzeit eine kleinkalibrige Kanone von den Italienern organisiert und schoss mit ihr eigenhändig in Richtung Front. Er wollte zeigen, dass er eigentlich doch ein Held ist. In Wirklichkeit hatte er den Angriff ja abgeblasen, war mit dem Rest der Kompanie zurückgekrochen. Er kam zu uns beiden – wir hockten mit blutendem Arm und völlig verdreckt an einem Strohschober – und sagte: ›Ach, sind Sie verwundet?‹ Ich habe ihn nur angeguckt und nicht geantwortet … Nach dieser Geschichte in Nettuno fragte ich mich später immer wieder: Warum warst du denn so blöd, hast dich nicht wie die anderen auf den Boden geworfen und bist dann zurückgekrochen? Ich glaube, ich hatte damals einen solchen Zorn, eine solche dumme Wut, dass ich dieses Gebäude unbedingt einnehmen wollte. Ich wollte diesem Hauptmann zeigen, was ein richtiger Kerl ist, im Gegensatz zu ihm, ich wollte der Held des Augen­blicks sein. So idiotisch war es im Krieg.“

„Der Hauptmann sprang auf den Rand des Grabens, hielt die Pistole in die Luft und rief: ›Angriff!‹ “ – Dieser Satz enthält den Kern der Szene und die Ursache meines Wutanfalls. Längere Erläuterungen kann ich mir ersparen, denn die Jünger-Seite der FAZ vom 9.10.2010 entzückt ihre Leser mit ein paar Worten, die mir als Echo in den Ohren dröhnen: „ Jünger springt wie immer als erster aus dem Graben, die Pistole in der Rechten …“ Jüngerianern steht die großkotzige Pose sofort vor Augen, weil Bücher und Filme die Konstellation bis zum Erbrechen stets aufs neue inszenierten. Unser Hauptmann Geier mit dem EK I aus dem Weltkrieg Nr. 1 äffte 1944 bei Nettuno auch nur seinen Jünger nach, warf sich indessen im Feuer bald zu Boden und kroch in die Deckung zurück, und ich junges Arschloch setzte vor blinder Wut mein kleines Leben aufs Spiel. Jürgen Reents bot mir im Interview Gelegenheit, den damaligen irren Zustand zu schildern. Auf seine Frage nach etwaigen Desertionsgedanken in jener Zeit erwiderte ich: „Ich war zusammen mit einem Kameraden – er hieß Eberhard und stammte aus Dortmund – auf einem Spähtrupp vor unseren Linien … Als Eberhard sich als erster von uns beiden zu ergeben versuchte, rammte ihm sein Gegenüber, ein Neuseeländer, das Bajonett in den Leib.“ Das wollte ich nicht riskieren. Diagnose: Erste Fahnen­flucht misslungen. Ersatzhandlung im Angriff. Desillusionierung, weil unser Hauptmann den Ernst Jünger von 1914 – 1918 plagiierte …
  Ein Jahrhundert später wird weiter Falsches gehätschelt und Richtiges missachtet. Ernst Blochs Empfehlung Schach statt Mühle zu spielen, erreichte die Linke bis heute nicht. Statt­dessen äffen die Konser­vativen ihren Jünger nach, denn der Mephisto des Zweiten und Dritten Reiches soll sie auch in ihr Viertes Reich geleiten. Wie die DDR ab 1957 nicht vorwärts, sondern zurück in über­wundene Zeiten gelenkt worden ist, so steuert die West-Elite ihre Berliner Republik zurück in die deutsche Kriegsgeschichte.

Heute melden die Medien, jeder zehnte Deutsche will einen Führer und jeder dritte findet das Land über­fremdet. Ich finde das auch – von jedem zehnten und dritten. Wenn aber jeder zehnte und dritte zuviel ist, muss nach den Gründen gefragt werden. Gleich nach 1945 kamen Ost­deutsche, und keiner wollte sie haben.1989 kamen Mittel­deutsche, die auch als Ostdeutsche galten, doch DDR-Deutsche waren. Seit den 60ger Jahren gibt's den Türkensturm und andere Islamisten-Scharen. Und alles in unser „Kein Ein­wanderungs­land“. Endlich ersteht uns im sozial­demo­kratischen Finanz­politiker Thilo S., der gemein­sam mit Horst Köhler die DDR de­indus­triali­sierte, dass sie uns BRD-Deutschen seither als Mühl­stein um den Hals hängt, ein tapfrer Siegfried, der den Türken zwischen Wien und Berlin heroisch und todes­mutig die Stirn bietet. Mit Pullovern als Winter­hilfe zaubert unser Wunder-Koch aus dreieinhalb Euro ein überaus gesundes Tagesmenü, das jede Haus­frau beschämt erblassen und jeden Familienvater schleunigst Hartz 4 beantragen lässt. Mit dem ersparten Geld kaufen die Bürger das Buch Der Untergang des Abend­landes mit Spenglers Pseudonym Sarrazin als Dichter. Derweil erobert Erika Steinbach die zeit­weise besetzten Ost­gebiete zurück, um sie ins christ­lich­demo­kra­tische Hessen einzu­gemeinden, und Pastor Gauck predigt das vereinte Land so linken­leer glücklich, wie es von 1933 bis 1945 gewesen ist.
  Das alles geschieht als historisches Trauerspiel in Auerbachs Keller zu Leipzig, wo mein sächsischer Statt­halter Gert Gablenz den Figuren unserer westlichen Werte­gemeinschaft die Plätze zuweist, die sie verdienen. Wie Adenauer statt Niemöller Bonner Kanzler wurde, werden SPD-Grüne demnächst dafür Gauck vor­schlagen statt Schorlemmer, den unver­dros­senen Wieder­täufer von der Elbe. Da öffnet Jünger seinen Mantel der Geschichte, dass die Ordenskreuze blitzen und die Panzerkanonen donnern. Husch-Husch zum Hindukusch und Schluss mit der Friedens­dividende. Versprochen ist gebrochen. Spielen wir Bahn­höfe versenken und singen endlich wieder unsere komplet­te National­hymne, damit die Entzugs­erschei­nungen abklingen. Brechts Verweis aufs große Karthago, das bis zur Unauf­findbar­keit drei Kriege führte, wird vom beliebten Sprichwort Aller guten Dinge sind drei korrigiert. Der deutsche Held springt dreimal in denselben Fluss, führt drei Kriege und schmettert sein Über alles-Liedlein mit sämtlichen drei Strophen, um endlich nicht mehr als Gutmensch verteufelt zu werden.

Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 25.10.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz    18.10.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz