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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 20

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

20

Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen

In den letzten Novembertagen 1977 standen wir bei Schloss Gripsholm im schwedischen Mariefred auf dem Friedhof. Hier schlossen wir die Dreharbeiten für den ARD-Fernsehfilm Tucholsky im Gedächtnis ab. Da liegt einer begraben, der doch in unseren jetzigen Zeiten wieder gegenwärtiger und lebendiger wird. Ein eisiger Anhauch von Weimar weht durch die Republik. Also tritt auch der streitbare Tucholsky vor uns hin, der vielbeschimpfte Linksliterat, Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter, der Mann mit den fünf Namen, der Humorist, Satiriker, Polemiker, Justizanalytiker. Zu meinem Erstaunen lag auf seinem Grab in Schweden ein Kranzgebilde, die Schleife ließ in großen Buchstaben wissen, es stammte vom Botschafter der Bundesrepublik in Stockholm. Ein Anruf dort ergab, zum Volkstrauertag bedenkt der BRD-Vertreter zwei Gräber mit Trauergebinden – in Schweden liegen Nelly Sachs und Kurt Tucholsky beerdigt. Ach ja, die westdeutsche Botschaft in Schweden hat es leicht. Das Land war neutral geblieben. Es gibt keine deutschen Kriegsgräberstätten. So kommen zwei tote deutsche Schriftsteller zu Kranzgaben und ehrendem Gedenken. Ach hätten die Deutschen doch die Lebenden schon geehrt, ihnen wenigstens zugehört – nein zu spät.

Wir befinden uns wiedermal am Ende einer Saison. Wer hört auf wen? Wer verfolgt wen? Wer behindert wen? Wer zensiert wen? Wer vertreibt wen? Ich kam auch ans Deutsche Institut der Universität Stockholm. Professor Korlén gab bereitwillig Auskunft. Ja, man beschäftigt sich immer mehr mit Tucholsky, eben erscheint eine neue Auswahl. Unversehens schweift das Fachgespräch in die Gegenwart ab. Was ist los in Deutschland? In beiden Deutschlanden? Und wenn heute wieder welche emigrieren müssen – aber es müssen ständige welche – Biermann und die Folgen – und wenn welche aus Westdeutschland emigrieren müssen? Werden sie es so schwer haben wie einst Tucholsky? Der im Freitod endete? Namen fallen. Prominente westdeutsche Schriftstellernamen. Man kennt sie hier sehr gut, sagt Prof. Korlén. Sie wären heute bekannter als es Tucholsky damals war. Ist es Hysterie, dass wir so reden? Reden verrät Denken. Denken wir nicht alle so? Aber das ist doch gar kein Vergleich mit damals. Kein Drittes Reich droht. Kein Hitler steht bereit.

Woher dann die vielen Ängste? Wir dürfen uns nicht hysterisieren lassen. Wir dürfen uns nicht einlullen und einschläfern lassen. Innerhalb von vier Wochen reiste ich in der Bundesrepublik umher und nach Belgien, Schweden, Österreich, in die Schweiz. Im Gespräch mit Kollegen, Freunden und auch Fremden ergaben sich die gleichen Angstlinien. Etwas bereitet sich vor. Etwas wird anders. Etwas ist anders geworden. Unsere Schwierigkeiten beginnen beim Definieren. Wie benennen wir die neuen Gefahren?

Versuchen wir zu differenzieren. In Ludwigshafen saßen Carl Amery, Bernt Engelmann, Peter Chotjewitz und ich in der Stadtbibliothek vor dicht­gedrängtem Publikum, meist Jugend. Die diese Stadt beherrschende und schon am Geruch kenntliche chemische Großindustrie hatte anscheinend einen Großteil ihrer Gegner in unsere literarische Veranstaltung getrieben. Wenige Erwachsene, wenn man als Grenze die ominöse 30 ansetzt.

Viele Lehrer, Studenten, Schüler, Lehrlinge, politisch herrschten offenbar die Jusos vor, durchsetzt mit freien Linken und einigen wenigen Kommunisten verschiedener Art. Die Atmosphäre gelockert, es ließ sich diskutieren, polemisieren, lachen, so etwa verliefen früher unsere Veranstaltungen. Dann, eine Woche darauf mit Bernt Engelmann in Würzburg. Schon die äußere Atmosphäre gegensätzlich. Die Ludwigshafener Stadtbücherei hatte eine freundliche, zünftige Note verliehen, die Mensa in Würzburg frostete ein. Auch hier wieder vollbesetzter Raum, aber eine schweigende Mehrheit. Ältere Menschen fehlten ganz. Die meisten Sprecher offenbar Angehörige von K-Gruppen. Ich werde nicht gegen irgendwelche Minderheiten polemisieren. Schriftsteller müssen gesprächsoffen bleiben für alle, auch wenn das Hetze einbringt. Es bringt Hetze ein. Ich habe mich schon von K-Gruppen zu Diskussionsabenden einladen lassen. Ich vertrete überall dort meine Meinung, wo man sie mir nicht beschneidet. Ich hoffe, wir können auch bei den K- Gruppen die Bereitschaft zur Diskussion fördern. Vor einiger Zeit habe ich sie da gänzlich vermisst. In letzter Zeit besserte sich das. In Würzburg versuchten sich die Diskutierenden mit uns zu verständigen. Doch wie schwer fiel es ihnen. Bernt Engelmann und ich fuhren noch in der Nacht zurück. Traurig, deprimiert, so ganz anders als nach dem Abend in Ludwigshafen. Ich war besonders verärgert, die engstirnigen Angriffe auf die SPD hatten mich bewogen, die Partei zu verteidigen. Das hatte ich nun gar nicht beabsichtigt. Ja ich fühlte mich in diesen Tagen von der SPD stark befremdet. Doch wenn Angriffe so in Klischees erfolgen, verteidige ich die vielgescholtene Partei. Ein ähnliches Phänomen erlebten wir in Wien. Die neue österreichische Zeitschrift EXTRABLATT hatte eingeladen. Luise Rinser, Kurt Hirsch, Bernt Engelmann und ich sprachen an der Universität über Terror und Sympathisantentum. Heute ist die Wiener Linke hier versammelt, sagte der EXTRABLATT-Chefredakteur und wies ins Publikum. Er war sensibel, aufgeschlossen, intelligent. In der Diskussion kristallisierten sich schnell die beiden üblichen Hauptpunkte heraus: Was geschah in Stammheim – war es Selbstmord oder Mord? Zweitens: Die Sozialdemokratie. Es wurde heiß. Die Fürsprecher der RAF im Publikum blieben vereinzelt und blass. Die Mehrheit der Anwesenden verhielt sich politisch klug. Aber die These vom Selbstmord in Stammheim ist vor offenem Publikum im Ausland nirgendwo mit Erfolg zu vertreten. Sie wird einfach nicht geglaubt, ganz abgesehen davon, dass sie wenig glaubhaft gemacht werden kann. Die Diskussion wendet sich der Sozialdemokratie zu. In der Würzburger Mensa bei den jungen Studenten vereisten die meisten Mienen, wenn man nur zur Objektivität aufforderte. Die Gespräche in Wien verliefen intellektueller, Argumente zogen, ein Mann berichtete, er sei eben in Frankfurt gewesen und habe bei Studenten, Spontis und anderen Linken unglaublich viel Apathie und Verzweiflung feststellen müssen. Bewegung entstand im Hörsaal. Die Spannung stieg. Später informierte man uns, der Mann war ein Sohn von Bundeskanzler Kreisky, er werde oft am Sprechen gehindert und es sei ein Gewinn, dass selbst die äußerste Linke den jungen Kreisky bei uns habe ausreden lassen.

Am Ende einer Saison. Es gehört zu unserem Beruf, gerade im Herbst des Jahres unter die Leute zu gehen, zu lesen, zu streiten, zu diskutieren, aber auch zuzuhören, Kritik einzustecken, neue Erfahrungen zu sammeln. Am Ende dieser Saison fühle ich mich müder, erschöpfter, ratloser als sonst. Manchmal, wenn ein Abend besonders schwierig war und die Intransigenz der jungen Leute einen verführte, härter zu kontern als man wollte, oder wenn man als einer, der die SPD normalerweise mehr kritisiert als lobt, diese Partei doch hat in Schutz nehmen müssen, wie es jetzt nur zu oft passierte, an solchen Abenden sagt man sich dann, im Bett, wenn der Schlaf ausbleibt, warum in Dreiteufelsnamen, habe ich mir ausgerechnet diesen hunds­föttischen Beruf gewählt. Ich sage mir auch: Warum vertreten unsere wenigen Damen und vielen Herren aus der Politik sich nicht selbst dort an der Front? Warum stehen sie der versammelten Linken in Wien nicht Rede und Antwort? Diskutieren nicht mit den erbosten, verschlossenen Studenten von Würzburg? Warum müssen wir das tun?

Am vergangenen Sonntag fand der »Offenbacher Kongress« statt, Motto: Gegen den Terror und seine Nutznießer. Die Bundestagsabgeordneten Manfred Coppik und Klaus Thüsing nahmen teil, dazu u. a. Leonhard Mahlein, Klaus Staeck, Bernt Engelmann, Ossip Flechtheim, Kurt Hirsch. Aus dem Publikum gab es bei der Diskussion ein paar kommunistische Töne. Vom Podium gab es in allen Einzelbeiträgen die durchgehende, bitterernste Aufforderung, dem Terror zu begegnen und den Abbau des Rechtsstaates nicht zuzulassen. Aus der Presse dann erfahren wir, was wir sind: Klaus Staecks Agitation ist »typisch faschistisch«, Bernt Engelmann ist ein »Untergrund-Kommunist«, die beiden Bundestagsabgeordneten Coppik und Thüsing treten mit »kommunistischen Tarnorganisationen« gemeinsam auf. Ich endlich hätte gar keine öffentliche Plattform bekommen dürfen, denn ich habe, neben allen andern Fehlern, auch noch einen tv-Film über Offenbach gedreht und, wie die CDU formuliert, der Stadt damit »schweren Schaden zugefügt«. Ähnlich dachte wohl auch die DDR, die mir den Transit-Weg von Bayern nach Westberlin verbot, als ich dort in der Stadt Tucholskys Geburtshaus filmen wollte. So gilt anscheinend für meine Wenigkeit das Transitabkommen nicht. Ich aber denke voller Sympathie an unseren Botschafter in Stockholm, der auf Tucholskys Grab einen Kranz legte, am diesjährigen Volkstrauertag. Es ist zwar spät, aber nie zu spät, einen deutschen Schriftsteller zu ehren. Und sei es auch im letzten Exil


Dieser Text wurde am 11.12.1977, kurze Zeit, nachdem ich ihn geschrieben hatte, im SWF gesendet. Titel: »Das Ende einer Saison«. So verstreute ich ein halbes Jahrhundert lang meine Tagebuchnotizen über Rundfunk, Presse und Bücher. Heute entsendet die Berliner Republik Tornados an den Hindukusch. Ich lese meine Worte von damals mit Rührung und Wut. Eine Saison neuer Lügen und Kriege hat begonnen. Das Volk will nicht. Seine Eliten befinden sich seit anno 1848 auf dem Kurs KRIEG statt REVOLUTION. Die Welt hat sich verändert. Das Tagebuch hat sich mit verändert. Die Notizen rufen um Hilfe.


Fast drei Jahrzehnte später. Ein Tag im Jahr 2005: Morgens um 4 Uhr aufgestanden. 5 Uhr mit dem Wagen zum Frankfurter Hauptbahnhof. 6 Uhr 05 ICE nach Leipzig. Ankunft 9 Uhr 34. Am selben Tag noch zurück. Lektüre auf der Heimreise: Der Deutsche KommunismusSelbstverständnis und Realität, Band 2: Gegen Faschismus und Krieg (1933 bis 1939), vorgelegt von Klaus Kinner und Elke Reuter, eben im Karl Dietz Verlag Berlin erschienen. Zu Anfang gelesen: »Anhang 1. Kommentiertes Personenregister«. Von den genannten Kommunisten wurden mehr als die Hälfte unter Hitler oder Stalin ermordet, einige von Stalin an Hitler ausgeliefert und umgebracht. Es hagelt Anmerkungen: »von Gestapo verhaftet und ...hingerichtet ...1936 zum Tode verurteilt und hingerichtet ...im KZ Buchenwald umgekommen ...nach Moskau beordert, dort verhaftet und erschossen ...in Moskau verhaftet ...erschossen ...in einem Arbeitslager umgekommen ...in das KZ Mauthausen verschleppt und dort ermordet ...1937 vom NKWD verhaftet, zum Tode verurteilt und erschossen ...Im Lager von Mithäftlingen umgebracht ...1943 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet ...Starb 1943 im Lager ...1937 in Berlin-Plötzensee hingerichtet ...in Mexico ermordet ...1941 Auslieferung an Deutschland und KZ-Haft ...1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet ... 1941 verhaftet und an die Gestapo überstellt ...1944 im KZ Buchenwald ermordet ...1933 verhaftet und schwer misshandelt, am 18. März 1935 zum Tode verurteilt und enthauptet ...« Ein Martyrium von Genossen.

Lenin warnte 1924 vor dem groben Stalin. Ein Jahrzehnt später realisierten sich die Befürchtungen, denn Hitlers Machtantritt bot Stalin die Basis, auf der die Barbarei zu den Großen Säuberungen eskalieren konnte. Hitlers Kriegsziel der Ost-Eroberungen, bereits in Mein Kampf deutlich artikuliert, wurde nicht ernstgenommen. Vier Tage nach dem 30. Januar 1933 hielt der neue Reichskanzler in geheimer Zusammenkunft mit Reichswehrgenerälen eine Rede, in der er seine Kriegspläne offen und exakt formulierte. Diese Rede in der Dienstwohnung des Generals Hammerstein wird von der Zeitgeschichte teils unterschätzt, teils unterschlagen, obwohl Hitlers Worte in allen Details den 2. Weltkrieg frappierend genau ankündigten. Stalin erhielt den Text schon wenige Tage später auf den Tisch, eine Tochter Hammersteins hatte insgeheim mitgeschrieben. Stalin musste vom Februar 1933 an in Nazi-Deutschland seinen Todfeind sehen.

Der Band Gegen Faschismus und Krieg liefert Chronologie und Logik der Stalinschen Gegenzüge. Es ging ums Überleben. Selbst die Ungeheuer­lichkeit des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 wird noch als ein so raffinierter wie verzweifelter Schachzug des sowjetischen Machthabers erkennbar. Weil die Westmächte »keine bindende Verpflichtung zur Verteidigung der UdSSR im Falle eines möglichen deutschen Überfalls« eingingen, entschied Stalin sich für »die andere Option der sowjetischen Außenpolitik«, den Nichtangriffspakt mit Hitler, inklusive der so geheimen wie schändlichen Zusatzprotokolle. Mit Fug und Recht verweisen Kinner/Reuter an dieser Stelle auf Trotzki, der schon nach dem Münchner Abkommen 1938 notiert hatte: »Stalin strebt eine Allianz mit Hitler an.« Das war als Warnung an die Westmächte gerichtet, die durch ihre Nachgiebigkeit den deutschen Führer zum Angriff auf die SU ermunterten, wogegen Stalin die Hitler-Option als letzter Ausweg blieb.

Im Vorwort schreiben die Autoren: »Mit Ernst Bloch ist zu fragen, was ist unabgegolten vom Kampf der deutschen Kommunisten gegen den Faschismus?« Drei Seiten weiter zitieren sie Hans-Ulrich Wehler, den sie »nicht zu den konservativen Historikern« zählen, der aber die Tragödie des kommunis­tischen Widerstandes mit dem braunen Senf des Totalitarismus bestreicht, wie es bei rechtsbürgerlichen Geschichtsschreibern Usus ist. Kinner/Reuter scheuen nicht die Abrechnung mit den eigenen Vätern und Genossen. Von sozialdemokratischer Seite steht eine adäquate Selbst­analyse aus. Solange Sozialdemokraten im Nachkriegs-Europa eine gewisse Rolle spielten, schien ihnen das nicht wichtig zu sein. Da jetzt den ratlosen Sozis das Abendlichtlein zu scheinen beginnt, erhält die Frage nach einer linken Alternative existentielles Gewicht.

Das Buch Gegen Faschismus und Krieg zeigt die furchtbare Vergangenheit und die Gefahr einer möglicherweise nicht weniger furchtbaren Zukunft. Den Genossen aller Richtungen sei die Lektüre dringend angeraten. Die Geschichte der Kommunisten ist eine Geschichte des verlustreichen antifaschistischen Widerstands, bei dem der oberste Moskauer Genosse neben den deutschen Hitler-Faschisten zum kannibalischen Feind mutierte. Diese Tragödie blieb bisher ungeschrieben. Die miterzählte Geschichte der deutschen Sozialdemokratie aber ist ein Trauerspiel, das den über 100 Jahre sich hinziehenden Niedergang spiegelt: Ab 1914 Burgfrieden mit dem kaiserlich-imperialistischen Krieg, im 21. Jahrhundert abgetakelt zur Partei des Großkapitals, die zur Ablösung ansteht, weil die christlichen Parteien dem Kapitalismus so rückhaltlos entsprechen wie vordem die reichsdeutsche Bourgeoisie der industriellen Vernichtungsmaschinerie unterm Hakenkreuz.

Die Geschichte vom heroischen antifaschistischen Widerstand kommunistischer Genossen las ich auf der Heimfahrt von Leipzig nach Frankfurt am Main. Auf der Hinreise hatte ich mir das Buch Das eigene Leben lebenKinder berühmter Eltern von Brandt bis Seghers (in Interviews abgefragt von Gabriele Oertel und Karlen Vesper-Gräske) vorgenommen. Der Band, erschienen im Leipziger Militzke Verlag, ersetzt ganze Bibliotheken und ist ein grundehrlicher, pluraler Nachruf auf die DDR, das abgemurkste Land der verratenen Hoffnung.


Apropos Vesper, nicht von Karlen Vesper-Gräske, sondern von deren Mutter Marlene Vesper stammt das Buch Marx in Algier, Pahl-Rugenstein-Verlag, 1995. Der Titel entfacht eine exotische Vorstellung, die noch exotischer wird, weil die afrikanische Episode exakt zutrifft. Erzählt wird im langsamen Tempo, fast gemächlich, aber: »So ist … Marxens … Aufenthalt in Algier der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden. Zu jener Zeit … eine glückliche Fügung.« Der Revolutionär in der Atempause. Ein Buch der Gelassenheit. Ich möchte es nicht missen.


Im Juli 2007 findet sich eine Mail von Vera Lengsfeld ein: Presse-Information – Protest gegen DDR-VerharmlosungProminente kritisieren Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Offene Brief, krasses Gegenteil von Gelassenheit, richtet sich zuvörderst gegen die Rosa-Luxemburg-Stiftung, unterschrieben ist er von Michael Wolfsohn und den Kameraden Hubertus Knabe, Arnulf Baring, Bärbel Bohley, Lutz Rathenow, Erich Loest, Ralph Giordano. Einige von ihnen kommen mit ihrer kommunistischen bis stalinistischen Vergangenheit so wenig ins Reine, dass sie ihre dritten Zähne nutzen, sich selbst in den Hintern zu beißen. Die beiden Bände Der Deutsche Kommunismus und Gegen Faschismus und Krieg, aus denen ich anlässlich meiner Leipzig-Reise zitierte, wurden mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf den Markt gebracht. Offenbar wissen die Unterzeichner von Knabe und Baring bis Loest und Giordano nicht, wofür oder wogegen sie unterschreiben. Klaus Kinner, Leipziger Herausgeber der zwei Bände, kriegt, damit die Tafelrunde der Freiheitsritter komplett sei, zugleich von den Stalinisten die Jacke voll, so in Kurt Gossweilers Publikation Die Ursprünge des modernen Revisionismus: »Einen Spitzenplatz unter diesen traurigen Gesellen hat sich Klaus Kinner mit immer neuen … Niederträchtigkeiten … erschrieben.«


Das ist wie bei Günter Grass, wenn er die wahlkämpfenden Roland Koch und Oskar Lafontaine als deutsche Extreme hinstellt, obwohl sie doch nur die unverstellten Personifizierungen von CDU und ursprüng­licher SPD sind. Wenn Grass sich politisch derart engagiert, wird intellektuelle Redlichkeit auf simple Wahlkampfklischees reduziert. Statt die verlogene eigene Vergangenheit mit parteitaktischen Plattheiten fortzusetzen, als seien links und rechts von der Waffen-SS Diktatoren angesiedelt mit dem Weltkind Grass in der Mitten, sollte der Nobelpreisträger mal lieber Philipp Scheidemann lesen. Dieser Sozialdemokrat, der 1918 die Republik noch vor Karl Liebknecht ausrief, schreibt über das Jahr 1933: »Dass diese Republik dem Faschismus ohne die geringste Gegenwehr in die Hände fiel, ist zurückzuführen auf die Zersplitterung der deutschen Arbeiterklasse …« Und weiter: »Der deutschen Arbeiterbewegung … hat es seit dem Tode Bebels und Legiens an kluger und kraftvoller Führung gefehlt.«

Im Gegensatz zu Grass ist Enzensberger mit seinem neuen Buch über General von Hammerstein ein anderes Kaliber. Die Lektüre lohnt. Demnächst mehr darüber. Im Übrigen gesteht Scheidemann auch ein, dass es der Noske-Freund Friedrich Ebert war, der 1923 die Reichswehr nach Sachsen und Thüringen schickte, um die dortigen legalen Landesregierungen zu stürzen. Da ist Sachsen noch eine Antwort schuldig. Jedenfalls war der Weg ins Dritte Reich schon 1923 mit falschen Befehlen gepflastert.


Zum Schluss für heute ein kleiner Vers zur Lage der Nation:

Russische Hybris
Es gibt nichts Frecheres als die
Slawen.
Nachdem wir sie 1945 und 1989
erst geschlagen haben
wollen sie heute schon wieder
Moskau und Stalingrad
verteidigen

Am Montag, den 4. Februar 2008, erscheint das nächste Kapitel.

Gerhard Zwerenz   28.01.2008

Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz