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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 20. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  20. Nachwort

Geschichten vom Geist als Stimmvieh


 
Gerhard Zwerenz
Wider die deutschen Tabus
List 1962
In der DDR erzielte ich mit meinen Leipziger Texten wahrlich unvor­her­gese­hene Wir­kungen. Die Zeile „Die Mutter der Freiheit heißt Revolution“ reichte als Ursache zur Flucht aus dem Sozialismus. In der BRD reiste ich von Ort zu Ort und hätte bis zum Lebens­ende den mit Applaus bedachten Dichter spielen können, wäre da nicht die Schlange Versuchung gewesen. Beifall ja, doch wo bleibt die Wirkung? Also gefiel ich mir im blühenden Leichtsinn in rückfälligen Satiren und Polemiken, als wäre mir das in der DDR nicht schon teuer genug zu stehen gekommen. Am 14. Juni 1962 durfte ich in der Frankfurter Rundschau wie einst in der Weltbühne leitartikeln. Und so ging es weiter bis Ostern 1966, als es dem FR-Chef Karl Gerold doch etwas zu happig wurde und er meinem Osterhasentext ein entschuldigendes Vorwort mit auf den Weg gab:
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Der Geist als Stimmvieh
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Nach der vor- und fürsorglichen Absicherung durfte ich wohlgemut loslegen. Der Leitartikel trug den Titel: „Der Geist als Stimmvieh“. Ein schöner wahrer Satz, der zur melancholischen Rückschau auf eine vergangene Zeit verlockt, in der wir trotz Atombombe und Vietnamkrieg an einen möglichen Weltfrieden glaubten. Ich hielt es allerdings mehr mit einer permanenten Sprachrevolte.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 14.März 2010: „Opa Achim erzählt vom Krieg“ – so die Überschrift. Dann heißt es „War Honecker nicht Bundeskanzler? Die Jugend weiß wenig über die DDR. Ein Fall für Joachim Gauck: Der Herr der Akten hat eine neue Mission …“ So ist es. Gauck predigt den Abiturienten der Gustav-Heinemann-Schule im hessischen Rüsselsheim die reine Wahrheit über die DDR, in der er bis zuletzt als braver Pastor seinen festen Platz gefunden hatte, bevor er zum Herrscher über die Stasi-Hinterlassenschaften verbeamtet wurde und vor den Schülern sogar Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble zu rügen wagt, weil sie das geheime Aktenmaterial „zu vernichten“ gefordert hatten.
Der Herr J. G. ist mutig. Redet als Jahrgang 1940 über den Krieg, den er als Kleinkind erlitt, und über den Widerstand in Hitler-Deutschland, den er im Nachhinein aus eigener Unkenntnis darstellt, so wie er die Opposition in der DDR pünktlich entdeckte, als das SED-Politbüro das Handtuch geworfen hatte. Ab Oktober 1989 jedenfalls übte unser christlicher Held den aufrechten Gang in der Öffentlichkeit von Meckpom. Im November 1997 erhielt er einen Hannah-Arendt-Preis, die Namens­patronin kann sich nicht mehr wehren und ist mit dem nach ihr benannten Dresdner Institut schon gestraft genug. Lebte sie noch, müsste sie ihrem Wort von der Banalität des Bösen das von der Banalität des Guten (Christenmenschen) hinzufügen. Heinemann übrigens war der Bundespräsident mit der zeigefingerstreckenden Hand, bei der drei Finger auf den Ankläger zurückweisen. Arendt und Heinemann sind tot. Gauck lebt in Frau Birthler inkarniert in Ewigkeit fort, die sich eben mal dem Fall Ronald Lötzsch zuwendet. Springers flotte Federn – Holzauge sei wachsam – nahmen den Ehemann „der designierten Linkspartei-Chefin Gesine Lötzsch (48) ins Visier … er soll IM des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sein.“ (bid.de: War der Mann von Gesine Lötzsch ein Stasi-IM?) Warum rea­gierte keiner, als heraus­kam, Rainer Eppelmanns Papa war als Waffen-SSler im Dritten Reich KZ-Wächter gewesen? Da ich unlustig bin, immer auf eigene Texte zu verweisen, sei den autonomen Welt-Analphabeten die Lektüre von Erich Loests Buch Prozesskosten angeraten, Steidl Verlag 2007, ab Seite 173, und falls der Grips noch ausreicht: Die Zeitschrift Utopiekreativ 72 vom Oktober 1996 ab Seite 76. Dort findet sich ein Artikel von Ronald Lötzsch: Russland im Umbruch – Modernisierungsversuche in der neueren und neuesten russischen Geschichte. Jeder vollsinnige Mensch weiß den exzellenten Sprachwissenschaftler Lötzsch zu schätzen, die Westsieger hingegen evaluierten, was sie nicht verstehen.
Zu Zeiten, in denen die heute als asymmetrisch definierten Kriege noch altertümlich symmetrisch waren, galt der gefangene Feind nicht mehr als Feind. Heutzutage ist das anders. Die westlichen Triumphatoren und ihre maulflinken Medienrüssel befeinden die Besiegten im Osten immer heftiger. So langsam beginne ich meine opposi­tionelle Haltung in der DDR zu bereuen. Und warum waren wir Deserteure im Krieg so blöde, das kleine Leben zu riskieren, wenn wir an der Front die Wehrmachts­helden aufforderten, die Waffen niederzulegen und dafür beschossen wurden? Opa Achim erklärt das gewiss den Heinemann-Gymnasiasten von heute. Er weiß das alles hinterher viel besser, denn er war nirgendwo dabei. Doch als Herr der Akten, als Pastor und Beamter ist er überall im Nachhinein große Klasse, der Dr. h.c. und Bundes­verdienst­kreuz­träger.
Inzwischen war Loest den medialen Geiern gefällig und schickte seinen ehema­ligen Mithäftling und Bautzenbub Lötzsch in die ewige Verdammnis: „Der auch? … Das ist ja ekelhaft.“ Die Stasi kümmerte sich um entlassene Häftlinge. Nicht jeder war prominent und konnte auf Freunde im Westen zählen. Da ist offenbar der sächsische Stasibeauftragte Michael Beleites ein anderes Kaliber, wenn er zur „differen­zierten Betrachtung“ auffordert. Das könnte sich Sachsens Linke hinter die Ohren schreiben, die ihren exzellenten Vorsitzenden, den Sprachwissenschaftler Peter Porsch im Stich ließ, als man ihn nötigte, erst seine Professur und dann seinen PDS-Vorsitzposten aufzugeben. Solidarität ist ein Fremdwort.
Im Moment sind Presse und Internet vollgepackt mit der Angst vor gigantischen Datenbergen, vor denen man warnt, weil die Informationsfülle in Tsunamis und sündhaften Sintfluten eskaliere. Was die Feuilleton­herrscher mit ihren Papier­seelen nicht begreifen ist die Differenz. Wer nur von Informationen lebt, der lebt in einer Info-Welt, die seine Ersatz-Erfahrung bilden. Die Erfahrung selbst ist nicht mitteilbar, nur die Information darüber. So verdorrt das Leben zum Herbarium.
Information simuliert Erfahrung. Keine Generation kann ihre Erfahrungen an die nächste weitergeben, nur die Information. An diesem Zeit-Fatum scheitern Geschichte samt Kultur und schrumpfen zur bloßen Wiederholung ein als hätte Nietzsche das letzte Wort mit seinem Diktum von der Wiederkehr des ewig Gleichen. Wäre es anders, könnte kein Mensch verstehen, wie ein Volk, das den 2. Weltkrieg verschuldete, in der nächsten Generation bereits den 3. Krieg mitführt. Den 3. Platz im Waffenexport – nach den USA und Russland – nehmen wir auch schon ein.
In Ossietzky vom 6.2.2010 verweist Otto Köhler auf den Kundus-Bomber Oberst Klein sowie die zwei Klassiker des modernen Pazifismus:
„Kurt Tucholsky und Martin Niemöller waren Soldaten im ersten Weltkrieg. Tucholsky erkannte: ›Soldaten sind Mörder‹, und Niemöller begleitete die Remilitarisierung der Bundesrepublik mit der Einsicht: ›Und damit ist heute die Ausbildung zum Soldaten die Hohe Schule für Berufsverbrecher. Mütter und Väter sollen wissen, was sie tun, wenn sie ihren Sohn Soldat werden lassen. Sie lassen ihn zum Verbrecher ausbilden.‹“
Als ich mir 1988 Tucholskys Satz Soldaten sind Mörder als Buchtitel auslieh, komplettierte ich ihn mit der Unterzeile: Die Deutschen und der Krieg. Das ist eine Geschichte ohne Ende, ein todessüchtiger Irrationalismus, der neuerdings westliche Wertegemeinschaft genannt wird und früher christliches Abendland hieß, dessen Untergang den Chinesen in die Schuhe geschoben wurde. Tatsächlich schickt China sich heute an, die weißen Teufel aus­zustechen und zu überleben.
Der Westen schafft seinen Untergang ganz autark. Als Merkel die Erd­erwär­mung proklamierte, wahrte das Wetter eine Anstandsfrist, bevor es auf einen sittenwidrigen Eiswinter umschaltete. So mancher Nazi-Aufmarsch im Februar blieb zum Glück im Schneegestöber stecken. Die Berlinale fand auf Schlittschuhen statt, auf den Straßen regierten Glätte oder Stau bzw. beides, bei der Bundesbahn gibt's sowieso planmäßige Verspätungen und die Post kommt heute oder morgen, immer häufiger aber gar nicht.
Auch sonst sind die Leistungsträger fleißig dabei. Das Gesundheitswesen wird immer ungesünder, die Universitäten gehen auf dem Weg nach Bologna baden und in diversen kirchlichen Internaten und Schulen treiben Sexmaniaks ihr Unwesen, wie man es bisher nur aus Irland, den USA und Westberlin kannte.
In katholischen pädagogischen Einrichtungen hat es Missbrauch gegeben. Da hält die Welt den Atem an und der Spiegel donnert auf dem Cover der Nr. 6 am 8.2.1010 mächtig los: Die Scheinheiligen – Die katholische Kirche und der Sex – folgen innen 12 pralle Seiten, soviel wie's Apostel gab, durch Werbung für den Spiegel und gegen Harndrang schlaf­unter­brochener Männer aufgeputzt.
Gab's da nicht mal etwas wie Otto von Corvins Pfaffenspiegel oder Karlheinz Deschners Kriminal­geschichte des Christentums? Alles vergessen und nichts hinzugelernt? „Mehr und mehr Opfer melden sich … “ Ach du grüne Neune, „Reihenweise Sexskandale … “ Ach du violette Neune. USA, Irland, England, Westberlin und gar in den erzkatholischen Regionen der ehemaligen BRD? Beichtstuhlverkehr. Oral und Choral. Päderasten­festivals. Homohöllen. Homunculus­zauberei. Wo beginnen sexuelle Übergriffe? Wo enden sie vorm heiligen Gestühl? Was ist Brauch, Brauchtum, Gebrauch, Missbrauch? Was sind das für fromme Sprösslinge, die sich gehorsam wie Rekruten vom Christenkind zum christlichen Missbrauchs­kind umschulen lassen? Wie wird der gebrauchte Schüler zum miss­brauchten, weshalb benötigt er Jahre und Jahrzehnte, um sich als gemiss­braucht zu entdecken? Endlich die Herren Missbraucher – wie wird der Normal­verbraucher übern Schüler­gebraucher zum End-miss-ver-braucher? Wo mündet Pädagogik in Pädophilie? Und werden die Mädchen nicht ge­schlechts­spezifisch benach­teiligt, richtet sich die Gier der priesterlichen Zölibaten so einseitig auf Knaben? Was den Männern der Herr Onan ist den Frauen die Dame Lesbos. Die priesterliche Bevorzugung von Jungen ist anti­feministisch. Handlungs­bedarf für Frau Schwarzer? Der Talk talkt schon.
Endlich wäre zu fragen, was Missbrauch heißt. Wird z.B. der Soldat gebraucht oder gemiss­braucht? Die Funktion des Militärs ist der Missbrauch des Lebens zum Tode, wobei die Toten als Gefallene gelten. Selbst der Teufel gilt als Gefallener (Engel). Als Goethes Mephisto erhält er die poetische Gestalt des ewig lockenden Verführers. Sind unsere schwarzen Pädagogen vielleicht Mephistos Epheben, die in der durch­sexualisierten Werbe­technikwelt den bürger­lichen Nachwuchs per Versuchung fürs reale Leben fit machen sollen? Faust schwängerte laut Goethe das Gretchen, wovon bei den modernen Schwarzkitteln keine Rede sein dürfte. Wir sind immer noch beim so realen wie religiösen Missbrauch. Ist er vielleicht die Eskalation früherer Nudisten-Aktivitäten? Wandelt sich die Freikörperkultur von gestern ins katholische FKK mit Intim­berührung? Wäre ich Jesuitenpater an einem Canisius-Kolleg, forderte ich Freiheit für Geist und Leib. Verharrt der Heilige Vater in Rom aber bei seinem zölibatären Triebstau, um nicht mit Berlusconi verwechselt zu werden, muss das Vorbeu­gungs­projekt ehrlicherweise heißen: Eunuchen an die christliche Schulfront! Der bürgerliche Nachwuchs liefe sonst Gefahr, an den staatlichen Schulen gemissbraucht zu werden.
Sternberger / Storz / Süskind
Aus dem Wörterbuch des Unmenschen.
DTV 1970 (Claassen 1957)
Inzwischen mehren sich die Miss­bräuche auf wunder­same Weise. Es ist auch ein seman­tisches Problem. Die befasste schwarze Kirchen-Elite ist in der Wort­bedeu­tungs­lehre schwach. Das erinnert an die Kriegs-Vokabel Einsatz. Im Longseller Aus dem Wörter­buch des Unmen­schen (dtv München 1970) zählt Einsatz zu den stark belas­teten Begriffen mit anti­humanis­tisch fort­zeugendem Potential. Man höre der Kanzlerin samt Poli­tiker­riege und hohen Militärs aufmerk­sam zu. In all den groß­mäuligen Reden wimmelt es von Einsätzen. Bei den Gutgläubigen dagegen wimmelt es von anderen Miss­bräuchen, die plötz­lich dauernd im Einsatz sind. Keine Zeitung, keine Sendung ohne Missbrauch. Wieso dominiert das alle Diskussionen? Warum kommt das jetzt (erst) auf? „Mönch gesteht Miss­brauch von 19 Personen.“ (FAZ 18.3.2010) Fleißiger heiliger Mann. Da hören wir soviel von psycho­thera­peuti­schen Behand­lungen, denen die tätigen Misshandler sich brav unterziehen (müssen). Und wieder ist zu fragen: Warum erst jetzt? Ist das Wort Verdrängung zu lange verdrängt worden? Von Klerikern, Amtsträgern, Schulen, sonstigen Hierarchien. Schuld­bewusst verdrän­gen sie im Kollektiv den exakten Ausdruck. Im Spiegel vom 15.3.2010 offenbart sich der auch in eroti­schen Gefilden sprachm­ächtige Schriftsteller Bodo Kirchhoff als „sprachloses Schwanzkind“, das im Internat miss­braucht wurde und erst im mannhaften Alter von 61 Jahren seine Plagen und Ängste auszu­plaudern wagt. Dabei wäre spätestens 1994 bei seinen Frankfurter Poetik­vorlesungen Gelegenheit zur Offen­barung gewesen. Das ist deutsche Tradition: Die Väter waren im Krieg und wussten nichts von Auschwitz. Die Söhne waren im Internat und brauchen bis ins Rentenalter, die frühen Seelen­verlet­zungen durch­zubuch­stabieren: „Sexuelles Erwachsen­werden ist lebens­lange Arbeit … “ (Kirchhoff) Anders gesagt, die Herren Söhne, ob Soldat in Afgha­nistan oder an der heimat­lichen Schreibtisch­front – sie alle leiden an Post­traumatischer Belas­tungs­störung – PTBS.
Ein Bautzenbub

Ronald Lötzsch
Jiddisches Wörterbuch
Leipzig 1990
Anders unsere aufrech­ten Wehr­machts­offi­ziere, die schon unter ihrem Führer und seinen Gene­rälen nichts sahen, hörten, wussten. FAZ vom 17.3.2010: „Man glaubt Helmut Schmidt, der als Wehr­machts­offizier u.a. 1941/42 an der Ost­front im Einsatz war, wenn er zu Proto­koll gibt, das Wort ›Dachau‹, ja selbst das ›Wort Auschwitz … erst nach dem Krieg gehört‹ zu haben.“ Man glaubt? Auf der­selben FAZ-Seite wird mit­geteilt, Richard von Weizsäcker habe seinem in Nürn­berg wegen Kriegs­ver­brechen ange­klagten Vater geglaubt, ihm sei „bis zur Ver­set­zung an den Vatikan 1943 nicht klar gewesen, ›was der Name Auschwitz bedeu­tete.‹“
Deutschland deine Eliten! Eines muss man ihnen lassen, sie haben trotz Blind­heit, Hör­schäden und Bewusst­losigkeit unver­rück­baren Bestand. Sie machten und machen Geschich­te. Ob Offizier­corps bis zum General­stab, ob Bundes­parlament, Bundes­regierung, Bundes­wehr, ob diese oder die andere Kirche, die Hierarchien der unver­zicht­baren Männer­gesang­ver­eine stellen weltweit die westliche Werte­gemeinschaft dar. Und der revolu­tionäre Osten stellte das, nachdem die Revo­lutio­näre einander an den Kragen gegangen waren, getreulich nach – das nannte sich Polit­büro – eine Glaubens-Elite wie die anderen, nur rot statt schwarzbraun …
Am 18. März 2010 traute ich in aller Herrgotts­frühe meinen Augen nicht: „BND öffnet Akten über NS-Verbrecher in seinen Reihen“. So die FAZ-Überschrift. Folgt tatsächlich eine ganze Zeitungs­seite mit lange verschwie­genen Fakten. Das liest sich wie kommunis­tische Anklagen aus Ostberlin in den fünfziger Jahren, wie unsere konkret-Artikel in den sechziger Jahren, wie von Otto Köhler, Karlheinz Deschner, Eckart Spoo, Robert Neumann, Ludwig Marcuse, Peter Gingold, Ernst Klee, Bernt Engelmann, Klaus Rainer Röhl vor seinem Front­wechsel zu Ernst Nolte oder von Stefan Aust vor seinem Absprung vom geschäfts­führenden konkret-Redakteur zum Spiegel-Chef­redakteur. Und so rigoros rechnet die FAZ-Stahl­helm­fraktion mit ihrem Geheim­dienst ab? Verspätet zwar wegen Hirn­blockade – doch im Himmel herrscht mehr Freude über einen … usw.
Nachdem Ernst und Karola Bloch 1961 von einer Reise in den Westen nicht nach Leipzig zurück­gekehrt waren, trafen wir uns in Köln, wo der Philosoph auf einer überaus gut besuchten Veranstaltung eine Rede hielt. In der an­schlie­ßenden Diskussion fragte der Verleger J. C. Witsch vorwurfs­voll, wieso Bloch den großen Glanz seines Namens solange einem totalitären Regime wie der DDR geliehen habe, worauf der Ange­griffene unwirsch reagierte. Weder Bloch noch ich wussten Bescheid über die fatale Vergangenheit von J. C. Witsch. Später in Tübingen spottete Bloch: SA-Mann will dreimal exilierten Juden beschämen. In meinem Taschenbuch Wider die deutschen Tabus zog ich 1962 die Schlussfolgerung in zwei Kapiteln: „Ernst Bloch oder die Heimat und das Exil“ sowie „Der Tag der Konsequenzen“. Die Konsequenz ist der Mauerbau im Jahr 1961, der Bloch veranlasst hatte, von einer Reise in den Westen nicht nach Leipzig ins erzwungene innere Exil zurückzukehren. Anfangs suchte ich mir mit Wut zu helfen, bis die eiskalte Einsicht blieb: Mit der Mauer ist für uns der Fall entschieden, Leipzig verschlossen, die DDR auf der Verliererstraße, das Kommando über­nahmen mit Walter Ulbricht diejenigen, die eine mögliche beginnende Entstalinisierung nicht dazu nutzen wollten, sich ehrlich zu machen. Im Westen aber agierten unter Adenauer/Globke eine Reihe ungeläuterter Wehr­machts­offiziere, von den Herren tumben Leutnanten bis zu den postheroischen Generälen, abgesehen von den direkt beteiligten Juden- und Kommunistenmördern, von denen jetzt sogar amtlich Kenntnis genommen wird, wer's früher sagte, galt als linker Hetzer und Lügner.
Nach der hochemotionalen Kölner Veran­staltung saßen wir mit Blochs zusammen im Dom Hotel und ich erinnerte mich zwanghaft meiner Zeit in Polen zwischen Wehrmacht und Roter Armee. Zum 50. Geburtstag erhielt ich ein Telegramm aus Tübingen: „HERZLICHSTE GLÜCKWÜNSCHE VON DEN AUCH ZWISCHEN DEN STÜHLEN SITZENDEN ERNST UND KAROLA“ In Kopf und Bauch (1972) heißt es: „Über diese Dinge ist noch nicht geschrieben worden. Bloch in Leipzig: Verän­derungs­potenz. Bloch in Tübingen: Kultur­heros. Einen Augenblick nur nachlassen, und die Väter stehen in dir auf, du infiziert von ihrem Leichengift.“
Dagegen hieß es anzuschreiben. Nach dem Ende der DDR stand mir plötzlich mein Geburtsland offen. Ich genoss es mit vollen Zügen. Besuche, Lesungen, Vorträge wechselten einander ab. Die Ver­eini­gung hatte mich nicht überrascht, vor den Folgen hatte ich in den Medien und auf inoffiziellen Wegen gewarnt. Es nutzte nichts, doch wenn etwas nicht mehr zu ändern ist, muss man versuchen, das Beste daraus zu machen. Mag sein, bei manchen Anläs­sen schlugen Zorn und Wut des ver­folgten „Rene­gaten“, Trotzkisten und Blochianers durch und es fiel mir nicht leicht, sie zu beherrschen. Sei kein Rache-Engel, schluck die Bitternis runter! Also wanderte ich im neu­begeh­baren Osten von Rostock und Berlin bis Dresden durch Buch­handlungen, Volks­hoch­schulen, Schulen und Theater. Am schönsten war es bei den Genossen, vormals SED, jetzt PDS. Es gab herz­liche Begeg­nungen, Fremd­heiten, Kontro­versen und wieso denn nicht. Stets blieb mir bewusst, ich könnte an diesem oder jenem Ort mitten unter den Genossen sitzen. Wir waren als Ostdeutsche eben vom Osten fremd­besetzt worden und hatten versucht, damit zurecht­zukommen. Mein Privi­leg war, ich merkte immer ein wenig früher, was sich vorbe­reitete. Und wenn ich's signa­lisierte, kriegte ich eins auf die Mütze. Die Schläge kamen stets von oben. Weshalb sollte ich das denen verübeln, die wie ich nicht oben lebten? Am 18.8.1998 las ich in Eiben­stock im Erzgebirge aus meinen Büchern. Das Foto zeigt, es war nicht zwischen den Stühlen. Es war wie daheim.

Ein weiteres Nachwort ist nach Ostern für Montag, den 12.04.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz   29.03.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz