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Peter Wawerzinek

Rabenliebe

Das Winterkind

Peter Wawerzineks preisgekrönter Roman erzählt in intensiven Erinnerungsbildern vom Trauma des Verlassenseins

Kritik
Peter Wawerzinek   Peter Wawerzinek
Rabenliebe
Eine Erschütterung
Roman
Berlin: Verlag Galiani 2010
429 Seiten, 22,95 Euro


Da ist ein Kind wie aus dem Nichts. Geboren aus Nebeln, die ihm den Blick zurück verwehren. Wenn es an seine Anfänge denkt, so ist da Schnee. Ein ewiger Winter mit weißem Gestöber, Frost und Eises­kälte. Nichts, das wärmt: keine Behaustheit, kein freund­licher Gedanke, kein Mutter­schoß. Nur kalte Verlas­sen­heit sommers wie winters, eine Sehnsucht, die kein Ziel kennt, und von den Eltern kein Begriff. Man schreibt das Jahr 1958. Ein paar spärliche Daten skiz­zieren die politische Situation: Sputnik 1, Berlinkrise, Kollektivierung der Land­wirtschaft im Osten, Massen­flucht aus einem Staat, in dem es von Beginn an viel Fantasie brauchte, um den allgegenwärtigen Mangel zu vergessen. Doch Fantasie wenigstens besitzt der vier­jährige Knabe, mit dem wir es in Peter Wawerzineks Roman Rabenliebe eingangs zu tun bekommen. Ins Kinderheim an der Ostsee, so liest man auf den ersten Seiten, reist er auf bequeme Weise im Fonds einer jener russischen Staats­karossen, mit denen sich die Großkopferten des Ostblocks durch eine Wirklich­keit kutschieren ließen, vor der sie nur allzu gern die Augen ver­schlossen.

Wawerzinek, 1954 in Rostock geboren, erzählt uns die bewegende Ge­schich­te eines Kindes, dem, als es zwei Jahre alt war, nach dem Vater auch die Mutter abhanden gekommen ist. Es ist seine eigene Geschichte. Und natür­lich ist es kein „Tschaika“, mit dem der Junge ins „Haus Sonne“ in Nienhagen, einem kleinen Ostseebad zwischen Rostock und Wismar, verbracht wird. Statt­dessen hat er sich wohl ängstlich an einen leder­bemäntelten Mann geklam­mert, der ihn per Motorrad dort ablieferte, wo eltern­lose Kinder wie er einen Ersatz für ihr fehlendes Zuhause finden sollten, oder ist ganz und gar mit dem gewöhnlichen Linienbus ange­kommen.

Allein das Ich, dass sich aus unserer Gegen­wart zurück­erin­nert an jene entschei­denden zehn Jahre in seiner Biografie, die es in Heimen verbrachte, ist weder Halb- noch Vollwaise. Sowohl seine Mutter wie sein Vater sind Mitte der 50er Jahre noch am Leben. Doch während Letzterer zu keinem Zeitpunkt seine Verantwortung für den Jungen wahr­zunehmen gedachte, hat die Mutter dies zunächst für zwei Jahre getan, ehe sie sich zur Flucht ins westliche Deutschland entschloss und die Entschei­dung traf, ihre beiden Kinder – Sohn und Tochter – einfach zurückzulassen. Allein aufmerksamen Nachbarn war es wohl zu verdanken, dass die vollkommen Verwahr­losten nicht den Tod fanden.

Es mussten mehr als dreißig Jahre vergehen, ehe die deutsche Wieder­vereini­gung dem auf solch brutal-un­mensch­liche Weise im Stich Gelassenen die Gelegenheit bot, nicht nur in Gedanken – wie er das all die Zeit getan hatte – in seine und seiner jüngeren Schwester Ver­gangen­heit aufzu­brechen, sondern sich leib­haftig auf die Suche nach der verlorenen Mutter zu begeben. Der Aufent­halts­ort der Frau ist schnell ermittelt, ihre Telefonnummer rasch besorgt, der Zuspruch von Freunden, die Konfron­tation mit der Frau als Chance zur eigenen seelischen Ge­sundung zu nutzen, leuchtet ein. Doch das Zusammen­treffen wird ein Debakel. Einer neuen Beziehung, die die Mutter im Westen ein­gegan­gen ist, sind acht weitere Kinder, vier Jungen und vier Mädchen, Halbge­schwister des Knaben aus dem Kinderheim, der inzwischen zum Schriftsteller geworden ist, entsprungen. Sieben von ihnen leben noch, als der über Fünfzigjährige in der kleinen Neckar­stadt eintrifft, wo man ihn nicht erwartet, aber doch für ein paar Stunden aufnimmt. Fühllos sitzt ihm die Mutter schließlich am Küchen­tisch gegenüber. Schuld einzu­gestehen, gar Verant­wor­tung zu übernehmen, ist sie nicht bereit. Und die neu hinzu­gewonnenen Geschwister wünschen vor allem – nachdem sich ihre erste Über­raschung gelegt hat –, dass er in sein Buchprojekt auch nicht noch ihre unglück­lichen Leben verwebt.

„Rabenliebe“ ist der gewaltige, über vier­hundert Seiten lange Monolog eines Menschen, dem die Primär­bindung an jene Person, die ihn geboren hat, fehlt. Eine Muttersuche, die hohe Anfor­derungen an den Leser stellt, weil sie scheinbar nicht vom Fleck kommt, manisch immer wieder um dieselben Vergan­gen­heits­tableaus kreist. Da sind die drei Heime, in die das Kind nacheinander einzieht. Da sind die Gelegenheiten, jenen trostlosen Orten der existen­ziellen Einsamkeit zu entfliehen. Dreimal wird der Junge adoptiert. Zweimal geht es schief. Das erste Mal kommt er kaum dazu, seinen Koffer im Haus der poten­ziellen Ersatz­eltern auszupacken. Und auch das Lehrer­ehepaar, bei dem er schließlich die längste Zeit bleiben wird, scheitert mit all seinen Umerziehungsprojekten und indem es die Vergan­genheit, die für den Jungen immer wichtiger wird, je weiter sie zeitlich wegrückt, konsequent zu verschweigen sucht. Nicht als „Adoptiv­eltern“, sondern als „Adoptionsmutter“ und „Adoptionsvater“ werden sie in Erin­nerung behalten: „Der Vorwurf lautet: Laien haben sich zu meinen Stiefeltern ermächtigt, sich in mein Leben gedrängt, Unbedarften ist der Zugriff auf eine kindliche Person erlaubt worden.Und niemand hat die beiden nach Befä­higung gefragt. Das Heim war einen Esser los.“

Und doch ist es eine Selbst­täuschung, wenn es an einer Stelle heißt: „Das Wort Mutter ist ein meine Person nicht erregender Begriff.“ Denn in kaum einem zweiten deutsch­sprachigen Buch unserer Tage taucht das Wort „Mutter“ dermaßen inflationär auf. Selbst Hermann Burgers (1942 – 1989) sich zum Vergleich unwill­kürlich auf­drängender großer Roman Die künstliche Mutter (1982) geht spar­samer mit dieser Vokabel um. Wawerzineks Ich-Erzähler aber wartet auf „Mutter­pakete“. Er horcht in sich hinein auf sämtliche Symptome seines „Mutter­fehlens“. Er will die Mutter finden, definieren, ausbuch­stabieren. Interes­siert sich für von den eigenen Eltern Vernachlässigte wie Clara Schumann, entdeckt Gemein­samkeiten und lernt die Sublima­tions­wirkungen von Kunst zu schätzen. Und obwohl er emsig beteuert, dass ihn „Muttersucht“ nie umgetrieben hat, „Mutter­schatten“ kaum je an ihm vorbei­huschten und „Mutterruch“ ihm nie in die Nase stieg, ja, er als Kind sich nicht einmal darüber im Klaren gewesen sei, dass man eine Mutter haben muss, so man auf dieser Welt weilt, kann er es doch nicht lassen, nach der „geistige(n)Kinds­mörderin“ zu suchen, als deren unschul­dige Opfer er sich und die Schwester sieht.

Alles, was ihm bei dieser Suche nach dem eigenen Her­kommen begegnet und bestärkt, dem obsessiv verfolgten Thema eine neue, tiefere Dimension gibt, baut er in seinen Text ein. Es gilt, das „Mutternichts“ zu füllen, ihm Konturen zu verleihen. Presse­nachrichten tauchen da auf, wie wir sie immer wieder lesen müssen: von in Wohnungen verhungerten Kindern, von Eltern, die mit bestia­lischen Strafen gegen ihre wehrlosen Söhne und Töchter vorgingen, von Miss­brauchs­fällen in Kinder­heimen, aus­gesetzten Säug­lingen, verwahrlost aufgefundenen Babys – aber auch von jenen seltenen Glücks­fällen, da Verwandte, die Kriege oder andere Kata­strophen von­einander für längere Zeit getrennt haben, wieder zueinander fanden. Die Welt­literatur wird zitierend bemüht: von Max Frisch bis Stefan Zweig, von Sarah Kirsch bis Edgar Allen Poe (dessen The Raven das Leitmotiv von Wawerzineks Roman anspielt), von Trakl bis zu den bildenden Künst­lern van Gogh und Géricault, von Melville bis Goethe. Und es fehlen auch nicht jene in schreck­lichstem Büro­kraten­deutsch ver­fassten Auszüge aus Ge­setzes­texten, mit denen man die Adoption in der DDR rechtlich regelte, welche umso absurder wirken, wenn sie mit den zahlreichen, in den Romantext lose eingefügten Volksliedsplittern kollidieren, in denen die Mutter und das Zuhause, welches sie verkörpert, als Gegenpol zu Fremde wie Ent­fremdung fun­gieren.

„Die geistige Abwesenheit der Mutter verkehrt alle beschei­denen Hoffnungen ins Absurde ... Ich betrachte die Mutter und will nicht fassen, dass ich aus ihrem Schoß gekrochen bin, von dieser kalten Frau dort in die Welt geworfen sein soll. Die Mutter dort und ich, ihr Sohn, auf einem anderen Kontinent, gehen wir uns im Moment der Begegnung weniger an, als wir uns in den fünf getrennt lebenden Jahr­zehnten angegan­gen sein mögen.“ Mit diesem Verdikt, das der Erzähler am Ende über seine Mutter fällt, klingt der Roman aus. Eine Ent­täuschung wird da artikuliert, die auf der Fahrt zurück ins eigene Leben sich allgemach verwandelt in ein Gefühl der Befreiung. Denn: „ES GIBT DIE AUFERSTEHUNG der toten Mutter nicht. Sie bleibt im Kind gestorben, ist tot, bleibt es.“ Doch stellt dies eine Gewissheit dar, die der Erzähler vor seiner Fahrt ins Ungewisse nicht besaß. Sich abzu­finden mit dem Verlust einer Mutter, wie sie nur in seinen Träumen existierte, sich einzurichten in der von nun an auf immer mutter­losen Welt, wird seine nächste Aufgabe sein: „Das Kind ist erwachsen geworden und in der Mutter­losigkeit daheim. Es hat keinen Sinn, sich etwas vorzu­machen.“
Dietmar Jacobsen   05.10.2010   
Dietmar Jacobsen