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Saša Stanišić
Fallensteller

Unwirsche Hirsche, Lesezirkel aus Lübeck
und eine syrische Surrealistin

In den zwölf Texten seines ersten Erzählbandes knüpft Saša Stanišić nahtlos an die Erfolge seiner bisherigen zwei Romane an

  Kritik
  Saša Stanišić
Fallensteller
Erzählungen
Luchterhand Literaturverlag 2016
281 Seiten, 19,99 €
ISBN 978-3-630-87471-5


Für seinen letzten Roman, Vor dem Fest, erhielt Saša Stanišić 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse. Die Jury bescheinigte dem 1978 in Bosnien-Herzegowina geborenen und seit 1992 in Deutschland lebenden Autor damals, „ein Dorf aus Sprache“ erfunden zu haben, „ein Kaleidoskop, einen Kosmos aus vielen Stimmen, Klangfarben, Jargons, die Welt in nuce, magisch zusammengehalten von einem kollektiven Erzähler“. Und in der Tat: Stanišić brachte mit diesem Buch über einen kleinen uckermärkischen Flecken namens Fürstenfelde einen völlig neuen Ton in die deutsche Gegenwartsliteratur. Er reihte sich damit ein in die beständig wachsende Gruppe jener Autorinnen und Autoren, deren Herkunft aus einem fremden Kulturkreis sie praktisch mit einem doppelten Blick auf die hiesigen Verhältnisse ausgerüstet hat, dem des Fremden und dem des Dazugehörigen zugleich.
  Nun ist mit Fallensteller ein Erzählband von Stanišić erschienen. Versammelt wurde in ihm bereits – auch unter anderem Titel – an verschiedenen Orten Publiziertes sowie Texte, die zum erstenmal das Licht der Öffentlichkeit erblicken. Schaut man sich die zwölf Erzählungen an – die kürzeste umfasst sechs, die längste knappe 100 Seiten –, dann schälen sich vier Themenkomplexe heraus.
  Bei der Titelerzählung wird jenes wunderbare Erzählgarn weitergesponnen, aus dem bereits der preisgekrönte Roman Vor dem Fest entstand. Ein zweiter, eng zusammengehörender Block aus drei Erzählungen ist um die Figur des Justiziars Georg Horvath herumgebaut, der im Auftrag einer großen deutschen Brauerei nach Brasilien fliegt, um die Übernahme der kleinen örtlichen Bier-Marke „Vogelbräu“ zu managen. Mo, ein Schlawiner und Weltreisender, steht im Mittelpunkt von drei weiteren Texten, deren erster, Die immens schönen tragischen blöden glückseligen deutschen Flüsse, den Leser mitnimmt auf die verrückte Floßfahrt einer Gruppe von „christlichen Menschenrechtsaktivisten“ auf dem Rhein. Die Geschichte mündet in die hypothetische Frage, wer von den anwesenden Gutmenschen im Falle, man befände sich mit dem havarierten Floß mitten auf der Nordsee, wohl als erster von den anderen gegessen werden dürfte. Und schließlich gibt es noch, locker über das Buch verteilt, fünf Erzählungen, die von keiner konkreten Figur oder Thematik zusammengehalten werden, aber den Eindruck vermitteln, dass sie am engsten mit der Biographie ihres Erfinders verbunden sind.
  Heimlicher Held aller zwölf Texte allerdings ist die Sprache. Während sie Georg Horvath auf seiner Reise ins brasilianische Hinterland allmählich zum Problem wird – Hugo von Hofmannsthal und sein Chandos-Brief lassen grüßen –, benutzt sie Mo zum Renommieren und Frauenverführen. Der in Fürstenfelde über Nacht auftauchende Fallensteller hingegen spricht nur in Versen und besitzt die schon aus Vor dem Fest bekannte Gabe, sich auch mit Tieren unterhalten zu können – nur mit der Fallenstellerei will es irgendwie nicht richtig klappen. Dafür bringt der Mann die Menschen zum Nachdenken und Reden und als er das Dörfchen wieder verlässt, hat sich einiges geändert. Auch der Junge, der anfangs nicht viel hält vom Ferienlager im Wald – „Ich hasse die Farbe Grün, ich hasse die Regeln von jedem Spiel. Und dann ist der Wald auch noch voller Mücken. Und Mücken, Mücken sind das Letzte.“ –, entdeckt die Poesie hinter der tristen Wirklichkeit, indem er eines Tages beginnt, sich mit den Tieren im Tann zu unterhalten.
  Märchenhaftes und Mythisches, Surrealistisches und Kafkaeskes, Groteskes und Wunderbares – Saša Stanišić bringt all das so selbstverständlich wie meisterhaft unter einen Hut. Vielleicht übertreibt er es hier und da ein wenig mit dem Poetisieren und Verrätseln. Aber bei welchem anderen deutschsprachigen Gegenwartsautor stieße man sonst allüberall in seinen Texten auf Abschnitte wie diesen aus der Erzählung Mo und ich für die Dauer der Reise: „Mo und ich mit Martinis um Mitternacht zu Michael Jackson tanzend. Mond. Mimikry. Maniküre, Marktwirtschaft. Mittelstand. Und Mo und ich mittendrin.“
  Zu verspielt? Zu wirklichkeitsfremd? Man täusche sich nicht. Denn in Stanišićs kleinen Prosastücken ist nicht nur Platz für Zauberei (Die große Illusion am Säge-, Holz- und Hobelwerk Klingenreiter Import Export ) und Billard-Kunst (Billard Kasatschok), sondern auch für Syrienkrieg und Flüchtlingselend, aktuellen Rassismus „auf einer Skala von eins bis PEGIDA“ und sächsische Montagsdemonstrationen gegen die Reisefreiheit der anderen, obwohl man vor einem Vierteljahrhundert noch für die eigene Freiheit zu reisen, wohin man wollte, auf die Straße ging. Nein, mit einem sich abschottenden Europa, das weiß der 14-jährig dem Bürgerkrieg in seiner Heimat entkommene Schriftsteller, ist niemand geholfen, nicht den hier Lebenden und nicht den hier Zuflucht Suchenden. Und die leichten Verse, in denen der Held der längsten Erzählung des Bandes seine Kritik am europäischen Ist-Zustand kleidet, verbergen durchaus nicht eine harte und ernst gemeinte Wahrheit: ;„Nationalismus, Protektionismus ... Europas größte Fallen ... Sich Ressourcen krallen, bis vor Ort sich Fäuste ballen ... Waffen liefern, Kriege schüren, dann verschließen jene Türen, die vom Blutvergießen in Sicherheit führen ... Die maroden Boote derer, die es wagen ... Oh, Ägäis, deine neuen, brutalen Sagen ...“
  Der schönste und berührendste Text des Bandes ist für mich jener, der ihn beschließt: In diesem Gewässer versinkt alles. Hin und her wechselnd zwischen den Stationen einer unbeschwerten Frankreich-Reise des Ich-Erzählers mit zwei jungen Frauen und der Erinnerung an Erlebnisse mit seinem offensichtlich zum Zeitpunkt dieses Urlaubstrips im Sterben liegenden bosnischen Großvater, findet sich hier eingeschrieben eigentlich alles, was Saša Stanišić und sein Schreiben ausmacht. Die Bücher, mit denen er sich einst die Welt der Literatur eroberte: „Der Junge lag in den Büchern, Schlittenhunde zogen die Couch, oder sie erlitt Schiffbruch auf einer Insel, bewohnt von sehr kleinen Menschen.“ Die Neugier auf das Unbekannte, Fremde. Das Sich-geborgen-Fühlen in Familie und Tradition. Die Brutalität und Sinnlosigkeit eines Krieges, der ihn aus der Heimat in die Welt vertrieb, die Heimat aber nie aus seinem Herzen. Und die unerfüllbare Sehnsucht nach all dem beim Erwachsenwerden Verlorengegangenen, die sich aber nurmehr im Schreiben erfüllen lässt.
Dietmar Jacobsen   28.05.2016    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen