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Michael Köhlmeier

Madalyn

Gar nichts war gut

Michael Köhlmeiers kleiner Roman Madalyn ist mehr als eine berührende Adoleszenzgeschichte

Kritik
Michael Köhlmeier | Madalyn   Michael Köhlmeier
Madalyn
Roman
München: Carl Hanser Verlag 2010
173 Seiten, 17,90 Euro
ISBN 978-3-446-23597-7


„Fast 14“ ist sie und man schreibt das Frühjahr 2009, als Madalyn Reis sich zum ersten Mal verliebt. In Moritz Kaltenegger, der dieselbe Schule besucht wie das Mädchen, nur eine Klasse über ihr. Ihm eilt ein schlimmer Ruf voraus: In prekären Verhältnissen aufgewachsen, „spielte er bis spät in die Nacht hinein im Haydn-Park mit den Türken Basketball oder kiffte sich am Margareten­gürtel mit Freunden das Hirn weg.“

Doch andererseits hat er auch ein Gedicht geschrieben, das die Deutsch­lehrerin seines Wiener Gymnasiums so bemerkenswert findet, dass sie es auch in anderen Klassen vorliest. Deshalb begegnet Madalyn Moritz zunächst gar nicht persönlich, sondern versteckt hinter den Worten, die er gewählt hat, um etwas über sich und sein Leben auszudrücken. Es sind grobe Worte, aber sie geben ihr den Mut, den fremden Jungen in der Pause anzusprechen. Dass sie ihn unter allen anderen herauskennt und seine Stimme genauso klingt, wie sie sich das vorgestellt hatte, als die Lehrerin seine Zeilen las, wundert das Mädchen dann fast nicht mehr.

Erzählt wird die Geschichte von Madalyn und Moritz von dem Schriftsteller Sebastian Lukasser, der den Lesern Michael Köhlmeiers bereits aus dem großen Roman Abendland (2007) bekannt ist. Hier lebt er nun im gleichen Haus wie die Familie Reis und kennt deren Tochter von Geburt an. Von seinem Arbeitszimmer aus kann er hinunter­schauen auf den Balkon der Reisens und vom Tratsch im Treppenhaus weiß er, dass beide Eltern einer „christlichen Abspaltung“ angehören und die Dinge des Lebens deshalb etwas genauer nehmen als andere.

So genau allerdings auch wieder nicht, dass sie es über sich brächten, der Fünfjährigen das Fahrrad­fahren beizubringen. Das übernimmt Lukasser – und von da an ist es etwas Besonderes zwischen ihm und dem Mädchen. Voll Mitgefühl und Sympathie verfolgt er jeden Schritt des Kindes und als Madalyn vor ihrem Haus von einem Auto angefahren wird, ist er es, der sie, weil die Eltern nicht erreich­bar sind, ins Krankenhaus bringt und in den ersten Stunden nach dem Unfall­schock an ihrer Seite bleibt. Sie dankt ihm diesen Beistand mit viel Vertrauen. Und wenn sie zehn Jahre später nicht ein noch aus weiß unter dem Ansturm ihr bisher unbekannter Gefühle, ist es natürlich der berühmte Autor, von dem sie sich mehr Hilfe erhofft als von Vater und Mutter.

Madalyn, im Grunde eher eine klassische Novelle als ein ausgewachsener Roman, ist nicht nur die schlichte Adoleszenz­geschichte, als die das Buch auf den ersten Blick daherkommt. Während das Auf und Ab der Liebe zwischen Madalyn und Moritz den erzählerischen Vorder­grund ausfüllt und dabei zunehmend den Verlauf nimmt, den der Leser von Anfang an befürchtet, rücken nämlich, raffiniert mit dem Abenteuer der beiden Jugendlichen verkoppelt, dabei aber jegliche auftrumpfende Rhetorik vermeidend, wenigstens zwei weitere Themen in den Fokus.

Zum einen geht es dabei um die eigenen Lebens­defizite eines Mannes, der, indem er den Problemen eines Mädchens, für das er eigentlich keinerlei Verantwortung hat, so viel Raum in seinem Dasein einräumt, wohl auch darum bemüht ist, Soll und Haben der eigenen Existenz ins Gleichgewicht zu bringen. In diesem Punkt ist der Roman durchaus verwandt der von Michael Köhlmeier zuletzt vorgelegten Idylle mit ertrin­kendem Hund (2008). Darin opfert sich die Haupt­figur beinahe für eine fremde Kreatur, weil sie sich den geheimen Vorwurf macht, nicht genug getan zu haben, um das eigene, auf tragische Weise ums Leben gekommene Kind vor den Fähr­nissen der Welt zu beschützen.

Ähnlich weit, ja vielleicht sogar noch einen Schritt weiter, geht Sebastian Lukasser, wenn er es Madalyn gestattet, für ihr „erstes Mal“ mit dem um zwei Jahre älteren Moritz seine Wohnung zu benutzen. Denn er ahnt bereits, dass sich das Mädchen in den Falschen verliebt hat, einen Hallodri, dessen traurige Geschichte von Anfang an erlogen ist und der bis zum Ende nicht mit dem dreisten Lügen aufzuhören vermag. Doch gerade in diesem Punkt entdeckt der Schrift­steller die Parallele zwischen einem, der sich durchs Leben flunkert, und einem, der sich durch dasselbe schreibt: „Mir ist es nie schwer­gefallen, jemanden anzulügen. Ich bin der, dem jeder glaubt, auch wenn er lügt. Ich betrachte diese Gabe übrigens als charakterlichen Kollateral­schaden meines Berufes. Er sagt die Wahrheit und ist einsamer als jeder Lügner.“

In der Liebe ist man, obwohl sie einen fester als jedes andere Gefühl an einen zweiten Menschen bindet, immer allein. Diese arge Erkenntnis kann Sebastian Lukasser Madalyn nicht ersparen. Die lässt sich ohne Wenn und Aber auf ihre erste intensive Beziehung ein und muss nur allzu bald erfahren, dass die Welt, in die sie von Moritz gelockt wird, mehr aus Schein denn aus Sein besteht. Und hätte sie den Erzähler nicht als – zeitweilig durchaus etwas eifer­süchtig wirkenden – Ratgeber an ihrer Seite, gut möglich, dass sie aus dem Irrgarten der Gefühle, in welchem sie sich immer weiter zu verlaufen droht, nie mehr heraus­zufinden wüsste.

Köhlmeiers kleiner Roman plädiert dafür, einander mit Auf­merk­samkeit zu begegnen. Sich wahr- und ernst­zunehmen, auch wenn ein Abgrund an Jahren dem gegen­seitigen Ver­ständnis als nicht zu über­windende Barriere im Wege zu liegen scheint. Am Ende helfen sie sich jeden­falls beide, der Autor dem Mädchen und das Mädchen dem Autor. Denn mit der eigenen Beziehung – wahr­genommen als „zuver­lässiges emo­tionales Not­programm“, auf das gege­ben­enfalls auch ver­zichtet werden kann – wird es nicht so weiter­gehen können nach allem, was Lukasser so intensiv mit­erlebt, dass darüber die Arbeit an einem großen Roman­projekt voll­ständig ins Stocken gerät. Das ist fast ein zu positiver Schluss für einen Köhlmeier-Text – aber gelesen haben wir ihn gern.
Dietmar Jacobsen   21.09.2010   
Dietmar Jacobsen