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Hans-Ulrich Treichel

Anatolin

Morbus biographicus
Hans-Ulrich Treichel stöbert »in dem, was nicht da ist«, und er findet genug für einen ganzen Roman

Hans-Ulrich Treichel | Anatolin
Hans-Ulrich Treichel
Anatolin
Roman
Frankfurt a.M., Suhrkamp 2008
Als Hans-Ulrich Treichel vor einem Jahr die Erzählung Der Papst, den ich gekannt habe publizierte, da nahm sie die Kritik alles andere als unfreundlich auf, ließ aber auch durchblicken, es handele sich bei ihr nicht unbedingt um ein Hauptwerk dieses Autors. Es ging in dem schmalen Bändchen um einen Mann, der die Kunst beherrschte, aus Wenig Viel zu machen. Sowohl an Thomas Mann als auch an Thomas Bernhard erinnernd, erschien der unermüdlich Plaudernde am Ende vor dem Leser als tragische Existenz, die ihre Lebensleere hinter Tausenden von erfundenen Geschichten verbarg. Leben und Schreiben, Fantasie und Realität, Tristesse und Aventure – sie ließen sich bei demjenigen, der dem polnischen Papst nur einmal rein zufällig für wenige Sekunden in einem Fahrstuhl begegnet war, nur erzählerisch-flunkernd unter einen Hut bringen.

Biografieinflation sozusagen als Gegenmittel gegen fehlende Vergangenheit. Und wer sich in Treichels Werk ein wenig auskannte, fand in der fein ausgesponnenen Felix-Krull-Geschichte Themen und Motive wieder, die dessen Werk in anderen Zusammenhängen längst durchzogen. Und, ja, er durfte damals bereits ahnen, dass der Schriftsteller es nach zwei Büchern immer noch nicht genug sein lassen würde mit der bedrängenden Geschichte der Suche nach dem in den Wirren des Weltkriegsendes verlorenen Bruder.

Nun also Anatolin – und damit noch einmal das, was der Leser schon aus Der Verlorene und Menschenflug kennt. Wirklich noch einmal? Keineswegs. Denn so dicht an der eigenen Person hat Treichel in den beiden vorerwähnten Texten von 1998 und 2005 nicht geschrieben. Da war zwar ein »Ich« – im Verlorenen –, aber das gehörte in eine frühere Zeit und hatte sich noch nicht entfaltet zu demjenigen, der es über den Abstand der Jahrzehnte hinweg ins Auge fasste. Und rückte ihm die erzählte Person – wie in Menschenflug – zeitlich näher, so wurde sie erzähltechnisch durch die Entscheidung für die distanzierende dritte Person wieder auf Abstand gebracht.

Davon kann diesmal nicht die Rede sein. Die Figur, die Treichel in Anatolin »Ich« sagen lässt, hat seine sämtlichen Bücher geschrieben. Sie erinnert präzise seine biografischen Stationen, teilt seine Vorlieben und Abneigungen und fährt mit seinem Rad durch den Leipziger Clara-Zetkin-Park zum Deutschen Literaturinstitut in der Wächterstraße. Wir begleiten sie auf Lesungen nach Bielefeld, sehen mit ihr in die Augen des Findelkindes 2307 und werden nicht ungeduldig, wenn sie in fremder Erde eine halbe Stunde verschläft in Erinnerung an die Wärme des Mutterschoßes.

Allein ihre Biografielosigkeit – ihren Morbus biographicus, wie es verschiedentlich heißt – kann nicht so richtig nachvollziehen, wer sich im Besitz von Lexikoneinträgen über den 1952 geborenen Hans-Ulrich Treichel befindet – bis hin zu den, wenn auch momentan noch ziemlich dürftigen, Anmerkungen in der Internetenzyklopädie WIKIPEDIA.

Doch genau das ist der Punkt. Ein Leben ist mehr als die Abfolge seiner äußeren Daten. Letztere sind leicht zu horten und nennen sich dann Lebenslauf. Wer einem solchen begegnet, glaubt, wenn er das Ende der Seite erreicht hat, alles über die beschriebene Person zu wissen. Doch was weiß diese über sich selbst? Und kann sie ohne Herkunft Zukunft haben? Treichel setzt seinen Helden deshalb in Marsch. Lässt ihn sich seine Geschichte erlaufen und erfahren. Schickt ihn auf den Spuren des Vaters in die Ukraine und auf jenen der Mutter in die polnische Siedlung Anatolin. Und schreibt auf, wie die Erinnerung einbricht: Splitterhaft und mutmaßend, heiter und ernst, die Zeiten und die Seiten wechselnd und immer in der Hoffnung, ein Stückchen Wahrheit seiner Selbst in die Finger zu bekommen. Den Roman eines Lebens zu erfinden – seines Lebens.

Ein kleines Kunststück hat Hans-Ulrich Treichel damit innerhalb von einem knappen Jahrzehnt geschafft: Dreimal dasselbe Sujet zu umschreiben und doch jedesmal die Akzente so geschickt zu verschieben, dass am Ende ganz unterschiedliche Bücher dabei herauskommen. Eins über die junge Bundesrepublik im Wirtschaftswundertaumel und die Kehrseiten des äußeren Aufstiegs. Eins über das Geheimnis des Herkommens und die Schwierigkeit, vergangenheitslos die Gegenwart bewältigen zu müssen Und schließlich eins über die erzählerische Rückeroberung verloren geglaubter Territorien – äußerer wie innerer. Alle drei getragen von einem so einfachen wie überlegen-humoristischen Erzählton, das dritte und letzte schließlich den chronologischen Zugriff immer weniger suchend, sondern beharrlich eine Person mit Geschichten einkreisend, so dass sie am Ende für den Leser Kontur gewinnt, auch wenn der nur das dichte Gespinst von Erzählfäden wahrnimmt und nicht den, um den es herumgewoben wurde. Aber was ist Literatur denn anderes als genau das?

Das Spandauer Volksblatt und Die Neue waren es übrigens, die Hans-Ulrich Treichels erste Buchveröffentlichung positiv besprachen. Damit wurden diese heute nicht mehr existierenden Blätter – auch das dokumentiert Anatolin – für eine ganze Weile zur »wichtigsten Tageszeitung« und zur »wichtigsten Wochenzeitschrift« des jungen Autors. Gut möglich, dass der poetenladen nun zur »wichtigsten Internetadresse« des arrivierten Schriftstellers wird, denn – Warum sollen wir es nicht frei heraus bekennen? – Treichels neuer Roman ist wirklich wunderbar.
Hans-Ulrich Treichel, geboren 1952 in Versmold/Westfalen, lebt in Berlin und Leipzig. Seit 1995 ist er Professor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Hans-Ulrich Treichel verfasste mehrere Gedichtbände (zuletzt: Südraum Leipzig, Suhrkamp 2007) und Romane (u.a. Menschenflug, Suhrkamp 2005).

Hans-Ulrich Treichel | Gespräch im Poetenladen

Dietmar Jacobsen     29.03.2008

Dietmar Jacobsen