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Michel Houellebecq
Karte und Gebiet

Ein „Chamäleondasein“

Michel Houellebecqs neuer Roman überrascht durch Humor und mehr Gelassenheit, als man diesem Autor je zugetraut hätte

  Kritik
  Michel Houellebecq
Karte und Gebiet
Roman
Aus dem Französischen vonUli Wittmann
Köln: DuMont Buchverlag 2011
416 Seiten, 22,99 Euro
ISBN 978-3-8321-9639-4


Aus Frank­reich stammt das Gerede vom „Tod des Autors“. Und jetzt hat es tat­säch­lich mal einen erwischt. Einen Fran­zosen, versteht sich. Dass es ausge­rechnet Houellebecq ist, Michel Houellebecq, der Provokateur, das enfant terrible der franzö­sischen Gegen­warts­literatur – ehrlich, wen wundert das? Denn der Mann stand doch nun wirklich ganz oben auf sämtlichen Hasslisten. Feminis­tinnen wie Islamisten bekamen einen Hals, sobald er sich zu Wort meldete. Reaktio­närer Rassist oder rassis­tischer Reaktionär: Houellebecq war beides – und damit noch lange nicht genug. Nun ist er tot – quelle bonne surprise!

Aber immer langsam. Natürlich hat auch Roland Barthes (1915 – 1980), den man gemeinhin in Haft nimmt, wenn vom Tod des Autors die Rede ist, gewusst, dass Bücher sich nicht von allein schreiben. Ihm und seiner wissen­schaft­lichen Entourage ging es ja auch nicht darum, den Autor hinter dem Buch zu leugnen. Nein, ihnen war der Autor im Buch suspekt. Beziehungs­weise die Auffasssung, das, was der Leser lese, sei von der Person, deren Name über dem Ganzen stehe, gestif­teter Sinn. Humbug, meinten die Post­struktu­ralis­ten. Ein Schriftsteller kontrolliert die Bedeutung seines Werks ebenso wenig wie die Schnecke den Schleim, den sie hinter sich lässt. Ergo: Nicht der Autor macht das Buch, sondern das Buch macht den Autor.

Das ist ein bisschen kompliziert? Nun, in Karte und Gebiet, Michel Houellebecqs mit dem Prix Goncourt ausge­zeichneten neuen Roman, ist zunächst auch nichts einfach. Denn der Mann, dessen Name auf dem Titel des Buches für dessen Verfasser­schaft bürgt, taucht auf seinen Seiten auch als Figur auf. Und als solche bringt er Houellebecqs ganzes realis­tisches Umfeld mit hinein in die Welt der Fiktion – vom Hund bis zur Verle­gerin. Zum zentralen Helden frei­lich taugt er kaum. Mehr Oblomov denn Rasputin, von Depres­sionen geplagt und jeglichen Umgang mit seiner Mitwelt geflis­sent­lich meidend, sitzt er in einem irischen Kaff und bläst Trübsinn. Zufrieden erst, wenn der Tag sich neigt, schlurft dieser Misanthrop in Pantoffeln, Cordhosen und Strickjacke durch das Haus mit dem ungepfleg­testen Rasen des ganzen Landes und gibt Sätze von sich wie die folgenden: „Ich mag ... das Ende des Dezembers am liebsten, da wird es um vier Uhr dunkel. Dann kann ich einen Schlaf­anzug anziehen, meine Schlaf­tablet­ten nehmen und mit einer Flasche Wein und einem Buch ins Bett gehen. So lebe ich seit Jahren.“

Mit einem solch abgeklärten Charakter im Zentrum, mit dem natürlich auch ein bisschen ironische Selbstpersiflage betrieben wird, lässt sich natürlich kein ganzer Roman über die Runden bringen. Fast folgerichtig findet man Michel Houllebecq denn auch nach zwei Dritteln des Buches fein filet­tiert im Hause seiner Vorfahren im Loiret. Die Geschichte aber, die nun Züge eines veritablen Thrillers annimmt - mit allem, was dazugehört - geht unverdrossen weiter.

Doch wie ist Houellebecq überhaupt in die Story hineingeraten, die in Karte und Gebiet erzählt wird? Ganz einfach: Er ist prominent. Prominent genug, um einen Ausstellungskatalog des Künstlers Jed Martin zu bevor­worten. Und mit dem sind wir nun endlich da, wo die Musik spielt in Karte und Gebiet. Denn Jed Martin ist einer der ganz Großen im aktuellen Kunstzirkus. Und außerdem - Bitte, wundern Sie sich jetzt nicht! - auch eine Art Ebenbild seines Verfassers. Was, wenn man genau darüber nachdenkt, übrigens stichhaltiger ist als alle Theorien, die die aus Paris angereisten Krimina­listen angesichts der übel zuge­richteten Promileiche ausbrüten.

Houellebecq käme also dreifach vor in seinem fünften Roman? Ganz recht. Und damit niemand durch­einander­kommt, isolieren wir die drei Emanationen noch einmal voneinander. Natürlich ist da zuerst jener Michel Houellebecq, der sich die ganze Sache ausgedacht hat. Wenn man Glück hat, läuft er einem in Paris in die Arme – man kann ihn anfassen, um ein Autogramm bitten und sicher gibt es auch Leute, denen fiele Schlimmeres ein, stünden sie dem Autor von Elementarteilchen (1998), Plattform (2001) und Die Möglichkeit einer Insel (2005) plötzlich leibhaftig gegenüber. Dann haben wir weiter jenen Michel Houellebecq, der nach knapp zwei Dritteln des Romans samt Schoßhund ermordet wird. Er stirbt auf ziemlich unappetit­liche Weise. In kleine Scheibchen geschnit­ten ähnelt er am Ende wohl mehr als ihm lieb ist seinen zu Tode inter­pretier­ten Büchern. Aber sein Ver­schwin­den macht auch Sinn. Denn so, wie der Roman ihn bis dahin beschrieben hat, war er genauso­wenig zukunftsfähig wie die Gesellschaft, der er entstammt und deren Neurosen er teilt. Drittens und letztens aber steckt ein gutes Stück seines Erfinders auch in dem Künstler Jed Martin, der einen konse­quenten, in drei Ent­wicklungs­schrit­ten sich voll­zie­henden Weg von seinen hoch­artifiziellen Anfängen über die bild­künst­lerische Feier des einfachen Lebens bis zum melan­cholischen Abgesang auf eine durch industrielle Prozesse alles andere als immer perfekter werdende Welt geht.

Das Ganze hat mehr Witz und Biss als ein Dutzend der üblichen Gegen­warts­romane zusammen. Und weil Michel Houellebecq weder sich noch andere schont, wird auch schnell der exiszen­zielle Ernst hinter dem Plot, in dessen Zentrum der künstle­rische Aufstieg des Jed Martin steht, spürbar.

Karte und Gebiet ist Künstler- und Gesell­schafts­roman zugleich. Nach den zum Teil schock­artigen Provo­kationen seiner Vor­gänger kommt Houellebecqs aktuelles Buch uner­wartet gelassen, weise und humor­voll daher. Man darf in ihm den eher versöhnlichen Abschluss einer Roman­trilogie sehen, die – als solche freilich nie deklariert – mit Plattform ihren zornigen Ausgang nahm, anschlie­ßend eine weit in die Zukunft reichende Utopie (Dystopie) entwickelte – Die Möglichkeit einer Insel – und nun auf beinahe romantische Art die Rückkehr zur Einfachheit des vorindu­striel­len Lebens predigt. Die beiden titel­gebenden Schlüssel­wörter – Karte (la carte) und Gebiet (le territoire) – verhalten sich im Kontext des Buches zueinander wie Theorie und Praxis, Philo­sophie und Leben, Über-den-Dingen-Sein und In-den-Dingen-Sein. Auf welcher Seite dieses Dualismus Michel Houellebecq heute zu finden ist, scheint klar. Der nihilis­tische Raisonneur hat sich verabschiedet (zusammen mit dem toten Schrift­stel­ler ist übrigens auch das Porträt, welches Jed Martin von Houllebecq ange­fertigt hatte, verschwunden), an seine Stelle ist ein Mann getreten, der sich vom einfachen Leben nicht nur angezogen fühlt, sondern in dieser bewussten Hinwendung zu Tradition und Leben in und mit der Natur auch den Weg sieht, den Aporien der Gegenwart zu entkommen.

Wenn schließlich alles Menschen­geschaffene zu überwuchern beginnt und Houellebecqs Protagonist zum künstlerischen Proto­kol­lanten dieses Prozesses wird, bekommt man auch ein paar Wahrheiten über die Bedeutung der eigenen Spezies zu lesen, die wehtun. Denn nicht weniger drastisch als der Romancier das Messer bei sich selbst ansetzt, nimmt er sich den kurzen zivili­satorischen Zeitraum in der Erdge­schichte vor. Am Ende seines Lebens erlebt Jed Martin den Unter­gang eines Industrie­zeitalters, das nur ökologische Verwüstung, Kriege um Ressourcen und Konkurrenzkampf auf Kosten der Umwelt gebracht hat. Und mit dem Ver­schwin­den aller von Menschen­hand gefertigten Dinge lösen sich auch die Abbilder auf, die die Kunst von ihnen fertigte: „Sie versinken, scheinen sich noch einen Augenblick lang zu sträuben, ehe sie von sich über­lagernden Pflan­zen­schichten erstickt werden. Dann wird alles ruhig, und zurück bleiben nur sich im Wind wiegende Gräser. Die Vege­tation trägt den endgül­tigen Sieg davon.“
Dietmar Jacobsen   23.08.2011   

 

 
Dietmar Jacobsen