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Kurt Drawert
Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte

„ ...keine Hoffnung zu haben garantierte das Überleben“

Kurt Drawerts neuer Roman sucht die DDR im finstersten Höllenkreis des Infernos

Kurt Drawert: Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte
Kurt Drawert
Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte
Roman
C.H.Beck 2008
Als kürzlich das ZDF mit dem Dreiteiler Die Wölfe einen ersten großen Beitrag zum 20-jährigen Jubiläum von Mauerfall und Wende ausstrahlte, da meldete sich – in der ZEIT – auch Kurt Drawert zu Wort und leitete seinen nach­denklichen Beitrag mit dem Satz ein: „Das Gedenkjahr 2009 wird hart.“ Recht hat er wohl, denn es ist zu erwarten, dass „die triste, geschändete Landschaft des Ostens“, all die Halden und Höhlen, Schutt­plätze und Schotter­straßen, verfallenden Innenstädte und ano­nymen Neubaugebiete im milden Licht einer zunehmend versöhnlich gestimmten Rück­schau auf die deutsche Nach­kriegs­geschichte an histo­rischer Authen­tizität einbüßen, dafür aber an gefühls­appelativer Pathetik gewinnen werden.

Drawerts eigener Blick zurück, wie er jetzt seinen Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte prägt, ist dagegen ein ganz anderer und am ehesten wohl vergleichbar den surrealen, tief­unter­kellerten, nebel­durch­wobenen Land­schaften Wolfgang Hilbigs (1941 – 2007), wie man sie aus Erzählungen wie Alte Abdeckerei (1990) oder Die Kunde von den Bäumen (1992) kennt. Nichts ist hier mehr intakt, alles marode, rost­überzogen und grund­wasser­umspült, die Luft giftig-schwefelgelb und im Boden ein Rumoren, als käme die Ver­gangenheit, zugeschüttet und überbaut mit den leichtfertigen Versprechen der Gegenwart, jeden Augenblick zurück, um an sich zu reißen, was, entgegen allen Beteuerungen der Zukunfts­zugewandten, immer noch ihr gehört. „Deutsche D. Republik“ nennt Drawert diese Gegend und – damit gar nicht erst Miss­verständnisse aufkommen – gebaut ist sie trichter­förmig in die finsteren Abgründe der Erde hinein, neun „Schuldbezirke“ tief. Dantes „Inferno“ mit seinen Höllenkreisen lässt grüßen, von denen der neunte und unterste die schlimmsten Sünder beherrbergt, Körper ohne Seelen schon zu Lebzeiten, in deren Hüllen Dämonen ihr Unwesen treiben. Hier, am weitesten entfernt vom Licht des Tages, leben Drawerts Held und seinesgleichen.

Individualität kennt man dort unten nicht: „ ... mein Name spielt keine Rolle“, heißt es gleich zu Anfang einer Beichte, mit der das lemurenhafte Ich seine Vergangenheit als „das große Existenzwarten“ rekapituliert. Als „Kasper der Revolution“ borgt es sich die Geschichte des Kaspar Hauser aus, des berühmten Findlings, der, nach 16 Jahren Gefangenschaft in einem Kellerloch, in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts für kurze Zeit Karriere machte, ehe er 1833 einem Messerattentat zum Opfer fiel. Und so wie der Fall jenes Geschundenen, dessen Person bis heute zu den unterschiedlichsten Gerüchten Anlass gibt, den bekannten Rechtsgelehrten Anselm von Feuerbach auf den Plan rief, hat auch Drawerts dem neunten Schuldbezirk entkommener Erzähler – inzwischen unter psychiatrischer Betreuung stehend – einen Herrn Feuerbach als Gegenüber. Wie breit das Assoziationsangebot, welches Kurt Drawerts Roman seinen Lesern macht, ist, mag die Tatsache belegen, dass auch in Hilbigs Roman ICH aus dem Jahre 1993 eine Person gleichen Namens auftaucht. Dort ist Feuerbach freilich nur der Tarnname des Stasi-Führungs­offiziers Wasserstein – der allerdings verbringt die meiste Zeit seines konspirativen Lebens wie Drawerts Held im Untergrund.

Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte versucht, das Leben in jenem 1989 versunkenen Land in literarische Bilder zu fassen. Sie sind von großer Drastik und weit weg von jeglicher Verklärung des Vergangenen. Drawerts Ich, das einige biografische Stationen mit seinem Erfinder teilt, erzählt weder chronologisch noch realistisch. Die Orte, die es beschreibt, sind zerstört, die Menschen, denen es begegnet, entseelt. Namenlos vegetiert man in schmierigen Räumen dahin, unternimmt „Geschlechts­aktversuche“, bespitzelt sich gegenseitig und empfängt einmal im Jahr Pakete, die von oben wie Abfall durch den Schacht hinuntergeworfen werden. Unter dem „Staatswappenlogo aktiver Hammer, gespreizter Zirkel und große gebogene Ehrenähre“ ist man dem Klassenkampfgerede des „Freiherrn vom Schnitzel“ (!) ausgeliefert, bewegt sich bildungs­mäßig in einem Spektrum zwischen Eieraus­blasen und Sackhüpfen und wird trotz all seiner banalen Existenz doch immerfort registriert und ideologisch betextet, als wäre man der Nadel­maschine aus Kafkas Erzählung In der Strafkolonie ausgeliefert.

Hoffnung kommt bei solcher Lage der Dinge allenfalls noch aus der Literatur. Allerdings gibt es davon zwei Sorten. Was Gunter Gräulich, Helmut Preislich, Uwe Ärger, Giselamunde Steineggert oder Heribert Kant – Der noch in der DDR sozialisierte Leser wird sich an die leicht wiedererkennbaren Damen und Herren sicher erinnern! – an „hirnresistenten Arbeiten“ in Groß­auflagen herausbringen, ist „Zwangslesestoff“. Alles andere, vor allem „negative Figuren, negative Gefühle der negativen Figuren, negatives Gedankengut der negativen Figuren mit negativen Gefühlen, negatives Handlungs­niveau der mit negativem Gedankengut negativ wirkenden negativen Figuren mit negativen Gefühlen usw.“, bedarf der Kontrolle sowie des Verbots.

Großartig ist in diesem Zusammenhang jenes Hans-Joachim Schädlich gewidmete Kapitel über die schwierige Sozialisation eines kritischen Autors im so genannten „Leseland“, das seinen Bürgern soviel Misstrauen entgegen­brachte, dass es sie nicht über die „sozialrealistischen Problem­horizonte“ hinausschauen ließ. Erst als es Drawerts Helden gelingt, „ins Gift geschickt“ zu werden – sprich: in der Nationalen Bücheranstalt (= Deutsche Bücherei) zu Leiden (= Leipzig) in der Giftschrankabteilung (= die Abteilung mit der in der Ausleihe streng reglementierten Westliteratur) als junger Bibliothekar Dienst zu tun –, beginnt er die Büchern innewohnende „Freiheits­behauptung“ zu verstehen. In der Folge entwickelt er „Abschreibsysteme“, um dem Gelesenen eine möglichst große Verbreitung zu sichern, ehe er schließlich „den Abschreibetexten eigene Texte“ hinzufügt, also den letzten Schritt zum unangepassten Schriftsteller tut.

So relativ einfach zu entschlüsseln wie diese Passagen sind viele andere Teile des Romans nicht. Der Leser hat sich vor allem auf eine sprachliche tour de force einzustellen, die vor keiner Verballhornung zurückschreckt und oft in ihrer Manie, das durchfunktionalisierte und hohl klappernde Deutsch, dem der Held sich in seinem Erdverlies ausgesetzt sieht, noch zu übertreffen, schwer verständlich wird. Rezipienten, die in der Lage sind, jede der vielen Anspielungen – etliche sind auch in den 96 Fußnoten verborgen, die den Text begleiten – zu entschlüsseln, dürften, vor allem wenn sie ihre Sozialisation im Westteil unseres Landes erlebten, nicht so zahlreich sein. Dennoch lohnt sich die Anstrengung, ist es doch vor allem die Sprache, über die Drawert eine DDR rekonstruiert, wie man sie in der Literatur so kein zweites Mal findet.

Von diesem Land bleibt in Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte nichts Bewahrenswertes übrig. Es (n-)ostalgisch aufzuwerten erübrigt sich. Zur Kenntlichkeit verzerrt wird ein Staatsgebilde, das die in seinen Grenzen Lebenden als reine Nummern ansieht – „Tutti“ heißen sämtliche Höhlenmenschen bei Drawert –, ihnen jegliche Selbstbestimmung abspricht und sie im wahrsten Sinne des Wortes „klein hält“. Der Protagonist des Romans ist ein haarloser Krüppel, hasenschartig und wenig mehr als einen Meter groß – ein zum Monster gemachter Mensch, den auch die Befreiung aus seinem 40-jährigen Gefängnis am Ende nicht wirklich frei zu machen vermag.
Dietmar Jacobsen     10.02.2009   
Dietmar Jacobsen