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Hanna Lemke

Gesichertes

Im Aquarium

Hanna Lemke debütiert mit achtzehn Erzähltexten voller leiser Melancholie und Helden, die nach Orientierung suchen

Kritik
Hanna Lemke | Gesichertes   Hanna Lemke
Gesichertes
Stories
Kunstmann Verlag, München 2010
191 Seiten, 17,90 Euro


Das Beste, was man in Hanna Lemkes Erzählwelt füreinander tun kann, ist: Man geht sich aus dem Weg. Funktioniert das nicht und werden ein paar belanglose Begegnungsphrasen notwendig, vermeidet man dabei geflis­sent­lich den Blick­kontakt. Man wohnt gemeinsam unter einem Dach und kennt sich kaum. Man findet nicht nach Hause, obwohl das nur zwei Straßen weiter ist. Man spricht Fremde an und behandelt sie wie Altvertraute, wäh­rend man über seine Nächsten nicht das Geringste zu wissen scheint, au­ßer dass es ihnen nicht viel anders geht als einem selbst. Man lässt sich von X zu einer Party mitnehmen, diskutiert dort den ganzen Abend mit Y, ehe man schließlich die Nacht mit Z verbringt, der einem am nächsten Mor­gen erzählt, er habe von B erfahren, man wäre früher einmal mit A zusam­men gewesen.

In dieser Welt besitzen alle auftretenden Personen nur Vornamen. Manch­mal recht merkwürdige wie Libbets. Meistens aber völlig normale wie Lukas oder Stella, Holm oder Katrin. Es ist nicht mehr die Welt der „Herren“ Leh­mann oder Jensen, die man hier betritt. Denn die hatten ja – bei aller Ver­schrobenheit, mit denen ihre Erfinder sie vor Jahren ausrüsteten – durchaus noch je ein Standbein im Hier und Jetzt. Beim Helden Sven Regeners waren es die Kneipen (Orte der Kommunikation), bei Jakob Heins Protagonisten die Briefkästen (Apparate der Kommunikation), die für eine gewisse Erden­schwere der nicht unproblematischen Existenzen sorgten.

Dagegen sind die Verankerungen von Hanna Lemkes Protagonisten in ihrer jeweiligen Realität fragiler. Nicht, dass sie sich im völlig leeren Raum be­wegten. Da ist immer irgendjemand um sie herum. Ein Mitbewohner. Ein Freund oder Exfreund. Ein Fremder in der Bar, der einem im Laufe des Abends näher kommt. Bekannte von früher, die man seit Langem aus den Augen verloren hat. Plötzlich tauchen sie wieder auf, buhlen um Aufmerk­samkeit, wollen erneut integriert sein in das Leben, das man gerade führt. Und beanspruchen doch kaum Realität. Sind flüchtige Gestalten in einem Geisterreich, Schatten in Aquarien, die man hinter deren dicken Glaswänden kaum wahrnimmt. In eine konturlose Welt Verbannte.

18 Stories zwischen 5 und 14 Seiten Länge. Knappe Überschriften, die nur zweimal mehr als ein Wort verwenden. Gesichertes, wie es der Buchtitel verspricht: Fehlanzeige. Stattdessen Verunsicherung, ein durch die Gegen­wart Hindurchsickern „wie Regenwasser durch immer feiner werdende Schich­tungen von Gestein, bis es gesäubert am Grund anlangt.“ Im Vor­beirinnen eine kurze Berührung, ein, um in Lemkes Bild zu bleiben, flüch­tiges „Benässen“ des Anderen. Doch noch ehe der die Berührung regis­trieren oder gar erwidern kann, hat sie sich wieder in Nichts aufgelöst, kommt jede Reaktion zu spät, ja, hätte sich eigentlich von Beginn an erübrigt.

Wie viel ist echt, wo beginnt die Attitüde, das Künstliche, das ins Künstliche Verliebtsein, fragt man sich beim Lesen. Ist es tatsächlich so schwer heutzutage, Nähe herzustellen, wo einen ein einziger Blick auf seine Facebook-Seite darüber belehren kann, dass man nicht allein ist in den Weiten der Welt? Dass man Freunde hat landauf, landab – deren Interessen man teilen, deren Bilder man bewundern, deren Musik man mithören kann. Wo man sofort darüber in Kenntnis gesetzt wird, wenn ein weiteres „Ich“ sich in das riesige Netzwerk verirrt, das letzten Endes aber eben doch nicht trägt, weil seine Maschen nur im Raum der Maschinen geknüpft sind und von der wahren Lebensschwere all der vielen einzelnen Körper unberührt bleiben. Aber hilft diese Erkenntnis gegen den Sog, der von dem Ganzen ausgeht? Oder ist es nicht vielmehr so, dass jene, die nicht in jenen Wolken­welten wandeln, letztendlich dastehen wie Krüppel ohne Krücken?

Neue Liebe? Aufregende Dates? Gesicherte Zukunft? Interessante Freunde? Für Lemkes Figuren stellen sich diese Fragen gar nicht erst. Das Beste, was man vom Personal der 29-jährigen Autorin behaupten kann, ist wohl: Es lebt (noch). Allein seine Existenz scheint aufs Äußerste reduziert. Da pas­siert nicht viel. Brechen Kontakte ab. Gehen Worte ins Leere. Werden Sehn­süchte enttäuscht. Letztlich ist man wirklich „alleine da draußen“, wie es an einer Stelle heißt, oder kommt sich wie ein vorauseilender Schatten vor, der „jemand Eigentliches“ erst ankündigt.

Wie in jener für mich schönsten Erzählung des schmalen, vielverspre­chenden Bandes, in der sich nach dem gemeinsamen Abitur ein Mann und eine Frau zufällig auf einer Geburtstagsparty wiedertreffen. Außenseiter waren beide einst, Außenseiter sind sie immer noch. Dass sie füreinander Sympathien haben, ist für den Leser von Beginn an ersichtlich. Aber sie verharren in einer Position des Sich-gegenseitig-Beobachtens, bleiben distanziert, wagen nicht, Grenzen zu überschreiten. Am Ende sitzt man über einem alten Klassenfoto und erinnert sich, dass, als es gemacht wurde, alle gemeinsam in die Kamera winken sollten. Aber: „... es gab immer jemanden, der winkte, während jemand anderes nicht winkte.“

Hanna Lemke: Eingeladen. Erzählung aus Gesichertesin. poet nr. 8

Dietmar Jacobsen   12.04.2010   
Dietmar Jacobsen