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Georges-Arthur Goldschmidt

Die Befreiung

„Ich bin wieder da!“
Georges-Arthur Goldschmidt baut seine literarischen Erinnerungen an Kindheit und Jugend eines deutschen Emigranten zur Trilogie aus

Georges-Arthur Goldschmidt | Die Befreiung
Georges-Arthur Goldschmidt
Die Befreiung
Ammann Verlag 2007
205 S., 19.90 €
Am 17. September 1944 kehrt der sechzehnjährige Arthur Kellerlicht in die katholische Internatsschule Florimontane zurück. Wie Büchners Lenz steigt er bergan, hoch über sich die bedrohlich ragenden Mauern, aus denen er ein knappes Jahr vorher flüchten musste, weil die deutschen Besatzer und ihre französischen Helfershelfer Jagd auf ihn, den Juden, machten: „Er sollte doch, wie es sich gehörte, ins KZ.“ Nun ist er wieder da, erlebt seine Reintegration in den Collège-Alltag, in dem Haselrute und Karzer für Disziplin sorgen, und bereitet sich über zwei Jahre hinweg auf das Abitur vor. Das Land ist frei, allein er selbst ist es noch lange nicht.

Mit seiner neuen Erzählung baut Georges-Arthur Goldschmidt die Lebens­geschichte seines Helden, den man schon aus Die Absonderung (1991) und Die Aussetzung (1996) kennt, zur Trilogie aus. Wieder hat der Leser einen Selbstzweifler vor sich, einen Verletzten und Verletzenden, der herauszufinden sucht, wer er ist und was ihn ausmacht. Einem repressiven Erziehungssystem unterworfen, das ihn zwingt, noch mit 18 Jahren körperliche Züchtigungen zu ertragen, sucht er nach Gründen der Rechtfertigung für sein Ausgeliefertsein. Angst und Schuld treiben ihn um, Selbstekel und die heimliche Lust an den erlittenen Demütigungen quälen ihn. Dass es ihn sexuell erregt, wenn „die Fräulein“ ihn brutal bestrafen, kann er nur verstehen, wenn er sich als „Lebensschmarotzer“ begreift, dem allein glückliche Umstände erspart haben, den Weg all der vielen aus seinem Volk zu gehen, an die er ständig denken muss. Sein „Ich bin wieder da“, nachdem er das Jahr vor der Befreiung versteckt auf Bauernhöfen verbracht hat, wird deshalb auch schnell zum „Ich bin es nicht“, weil er die Bevorzugung seiner Person durch das Schicksal nicht begreift. Wie können Helden der Widerstandsbewegung ihr Leben im Kampf gegen die Okkupanten hingegeben haben, während er seine nutzlose Existenz über die Zeiten brachte?

Die Befreiung ist ein Text, der seinen Lesern viel abverlangt. Gnadenloser und ehrlicher kann man in einen Menschen nicht hineinsehen, insistierender ihn nicht bloßstellen. Da bleibt nichts unausgesprochen von dem, was diesen Heranwachsenden umtreibt, von seiner Sehnsucht zumal, endlich ein Ganzes zu werden, und den kleinen Glücksmomenten, die ihn die Konfrontation mit Literatur und Kunst erleben lässt. Hier bietet sich ein Ausweg, ist zu ahnen, ein Ausweg freilich, der nicht einfach ist, den man sich erkämpfen muss, für den es Opfer zu bringen heißt, der Anstrengungen verlangt. Indem sich Arthur Kellerlicht ohne Wenn und Aber dieser Richtung verschreibt, unternimmt er wichtige Schritte auf die Person zu, die er einmal sein wird, Schritte, die in der dunklen Internatswelt ihren Anfang nehmen, aber bald über sie hinausführen werden.

Goldschmidts Sprache hat eine geradezu physische Präsenz, eine Schwere und Präzision, die aus dem Ringen entstehen, preisgeben zu wollen, was sich im Grunde dem Preisgeben immer wieder zu entziehen sucht. Und so wird es eingekreist, beharrlich umschrieben, Schicht um Schicht aufgedeckt. Blicke in Literatur und Kunstgeschichte – immer wieder Rousseau, vor jedem der sechs Buchteile ein Anton Reiser-Zitat, Beschreibungen alter Stiche, auf denen Züchtigungen im Mittelpunkt stehen oder bloß am Rande vor­kommen – sind Kommentare, Glossen zu einer Figur, die der Autor mittels der dritten Person auf Distanz zu bringen versucht, ohne das intensive Verwobensein von Erzähler und Erzähltem verbergen zu können.

Aber das große Problem des Arthur Kellerlicht löst sich nicht vor der Kulisse des Hoch-Savoyen. In dieser kleinen Welt kann die Befreiung des Ich zu sich selbst nicht glücken. Allenfalls gelangt Goldschmidts Figur zu einer Art Gelassenheit ihren Abgründen gegenüber, aus Scham und Selbstekel wird widerwillige Akzeptanz. Erst ganz am Ende kommt der Ort in den Blick, dessen Größe, Anonymität und Gesättigtheit mit Mythen und Geschichten endlich den idealen Unterschlupf für einen bietet, der sein menschliches Zentrum sucht: Paris, „die vor ihm ausgebreitete Zukunft“.

Goldschmidt-Leser kennen die weitere Entwicklung aus der 2001 erschienenen Lebensdarstellung des Autors mit dem Titel Über die Flüsse. Was diese aus der Rückschau versachlicht und einzuordnen sucht, können die bisher vorliegenden drei kleinen Erzählwerke um die Gestalt des Arthur Kellerlicht auf subjektiv-intensivere, radikal-rücksichtslosere Weise eben deshalb bieten, weil sie sich in den Schutz der Fiktion begeben, einer Fiktion, die Fesseln löst und dem Unaussprechlichen zum Wort verhilft. Weil das von Band zu Band auf eindringlichere Weise geschieht, wünscht man sich als Leser geradezu eine Fortsetzung dieser Komplementärgeschichte zur Autobiografie, auch oder gerade weil an deren offen zu Tage liegenden lebensgeschichtlichen Linien das dunkle Dahinter oder Darunter lockt, die verborgenen Räume – ja, Keller –, in welche noch Licht zu bringen wäre.
Georges-Arthur Goldschmidt, geboren 1928 in Reinbek. Als Elfjähriger wurde er mit seinem vier Jahre älteren Bruder nach Frankreich in die Emigration geschickt. Heute lebt er in Paris. Zahlreiche Übersetzungen aus dem Deutschen ins Französische (Goethe, Nietzsche, Stifter, Kafka, Benjamin); insbesondere hat er das Werk von Peter Handke durch seine Übersetzungen in Frankreich bekannt gemacht. Preise u.a. Bremer Literaturpreis, Ludwig-Börne Preis, Nelly-Sachs-Preis, Joseph-Breitenbach-Preis.

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Dietmar Jacobsen     07.01.2008

Dietmar Jacobsen