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Tschingis Aitmatow
Der Schneeleopard

Die Zeit der Märchen ist vorbei
Tschingis Aitmatow kritisiert in einer dramatischen Ballade das heutige Russland

Tschingis Aitmatow | Der Schneeleopard
Tschingis Aitmatow
Der Schneeleopard
Roman
Unionsverlag 2007
An einen neuen Text von Tschingis Aitmatow, Jahrgang 1928 und seit dem Erscheinen seiner Erzählung Dshamilja Ende der fünfziger Jahre weltberühmt, geht man mit einer ganz bestimmten Erwartungshaltung heran. Zumal der heute als Botschafter der Republik Kyrgyzstan in Brüssel residierende Autor seit zehn Jahren keinen Roman mehr vorgelegt hat. Aber man erinnert sich natürlich noch an all jene wunderbaren Bücher, die von dem poetischen Können des Kirgisen zeugen. Weiß um seine Fähigkeit zur Zusammenschau von Natur und Menschenwelt. Hat sie noch im Kopf, jene bewegenden Bilder, die mitrissen und sich ohne Weiteres in die intellektuellen Bemühungen einordnen ließen, ohne die Gorbatschows Perestroika kaum möglich gewesen wäre. Und zerlesen im Regal stehen Der weiße Dampfer, Die Richtstatt oder Ein Tag länger als ein Leben – mit ihren Helden in dramatischen Situationen, bei denen es stets um alles ging oder nichts. Triumphieren oder Sterben, Himmel oder Hölle, Mensch oder Bestie, Humanismus oder Untergang.

Nun also Der Schneeleopard. Auf den ersten Blick ein Roman, der ins Œuvre Aitmatows passt. Vom (deutschen) Titel her – sein letztes fiktionales Buch hieß bei uns Die Träume der Wölfin – wie auch sonst. Erneut geht es um Entscheidungen eines Einzelnen, durch die dieser nicht nur seinem eigenen, aus dem Ruder laufenden Leben eine Wendung ins Gattungsgeschichtliche verleiht, sondern gleichzeitig rettend in Vorgänge in Natur und Gesellschaft eingreift, die ein als kosmisch-schicksalhaft gesehenes, irdisches Gleichgewicht zu zerstören drohen.

Arsen Samantschin, Held des Romans, ist ein Außenseiter. Einer von jenen freien Journalisten, wie sie jetzt immer häufiger in den Blickwinkel der internationalen Öffentlichkeit geraten, mutig und der Wahrheit verpflichtet, kritisch den neuen Herrschern Russlands gegenüber und bedacht darauf, aufzuklären über die Hintergründe und dunklen Geheimnnisse von deren Macht. Anna Politkovskaja, am 7. Oktober 2006 in Moskau getötet, war eine von ihnen. Wie sie steht auch Aitmatows Protagonist nahezu allein einer sich etablierenden Gesellschaft gegenüber, in der die alten Werte nicht mehr gültig sind, Verkaufszahlen über Erfolge entscheiden und einfach alles für Geld zu haben ist. Es ist die „Bisnes-Epoche“, der sein ganzer Zorn gilt, und der wird noch verschärft dadurch, dass Samantschin seine große Liebe ausgerechnet an einen Neureichen, einen Oligarchen verliert, der ihn demütigen kann, ohne Bestrafung fürchten zu müssen.

Entschlossen, sein Scheitern nicht hinzunehmen, sinnt er auf Rache und schreckt auch vor Tötungsfantasien nicht zurück. Doch zunächst hat er selbst ein „Bisnes“ zu erledigen. Für einen Onkel, der im Bergland des Tienschan Jagden für Vermögende organisiert, soll er als Dolmetscher tätig werden. Zwei arabische Prinzen sind auf dem Weg in die kirgisische Hochgebirgsregion. Ihr Auftritt bringt der armen Gegend Arbeit und Geld. Im Gegenzug begehren die gebildeten Potentaten eine der schönsten und seltensten Kostbarkeiten, die man am Himmelsgebirge zu bieten hat: Felle von Schneeleoparden, für deren Schutz Aitmatow im Rahmen eines internationalen Projekts selbst eintritt. Und damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf.

Tschingis Aitmatow hat im ersten Viertel seines neuen Romans schnell wieder beieinander, was seinen Büchern von jeher Gewicht verlieh. Einen Menschen in der Krise. Eine zu Ende gehende Liebesgeschichte und eine neue, die an deren Stelle tritt. Die exotisch-reiche Mythologie und Märchenwelt seiner Heimat. Deren überwältigende Natur, der der Mensch ausgeliefert ist und die er vergeblich zu beherrschen sucht. Eine Art Totemtier für den Text – diesmal den Schneeleoparden –, das er auf grandiose Weise zu vermenschlichen versteht. Und über all dem schließlich die Besorgnis um die Zukunft des Menschengeschlechts, das mit der Natur, den Ressourcen, die ihm anvertraut sind, allzu verschwenderisch umgeht und keine Ehrfurcht zeigt vor dem Hergebrachten.

Dem Leoparden begegnet der Leser übrigens zuerst und in seiner Beschreibung entfaltet der Text auch seine größten Stärken. Dschaa-Bars, einst mächtig, gefürchtet und – darauf spielt sein Name an – schnell wie der Pfeil, ist müde und allein. Seine beste Zeit ist vorbei. Zur Jagd auf flinke Beute ist er kaum mehr in der Lage. Die Gefährtin, mit der er Junge zeugte, hat ihm den Rücken gekehrt. Kein Rudel lässt ihn mehr in seine Nähe. Und so sehnt er sich nach dem Tod, zumal es ihm die schwindenden Kräfte des Alters nicht mehr erlauben, sein angestammtes Winterquartier zu erreichen – der Weg über den Pass ist ihm zu steil geworden.

In anfangs enger Parallelführung erzählt der Roman von den letzten Tagen dieses Tiers und einem Menschen, dessen Geschick dem seinen nicht unähnlich ist. Ihr jeweiliger Weg führt beide auf einen gemeinsamen Endpunkt zu. Denn die Zukunft des einen wie des anderen ist unvorstellbar in einer Natur, die nicht mehr intakt ist. Instinktiv fühlt das der Schneeleopard. In eine befreiende, zeichensetzende Tat setzt der Mensch diese Erkenntnis um.

Arsen Samantschin hinterlässt nicht nur die gelebte Weigerung, am Tanz um das goldene Kalb, in dem die Nachperestroika-Epoche gefangen zu sein scheint, teilzunehmen. Als Text im Text – und Epilog – beschließt das Buch die Erzählung Töten-Nichttöten, in der alle Motive noch einmal zusammengefasst werden. Der Journalist hat die ihm einst erzählte Geschichte aus dem Großen Vaterländischen Krieg aufgeschrieben, aber nie veröffentlicht. Nun wird sie praktisch sein Vermächtnis und appelliert an das Verantwortungsbewusstsein des Menschen, sein Vermögen, Gut und Böse unterscheiden zu können und sich, dank der im innewohnenden Moral, auf die richtige Seite zu schlagen.

Zum Ende hin freilich hat das Buch auch seine größten literarischen Schwächen. Dem Übersetzer, Friedrich Hitzer – unmittelbar nach Beendigung seiner Arbeit an diesem Roman verstarb er im Alter von 72 Jahren –, lag keine russische Ausgabe des Textes vor, sondern das Manuskript Aitmatows. Und dem, so hat man den Eindruck beim Lesen, fehlte es auf den letzten einhundert Seiten deutlich an der nötigen Konzentration und sprachlichen Klarheit. Unfertige und holprige Sätze sind plötzlich die Regel. Die Figuren wirken nicht mehr lebendig und individuell, sondern sind nur noch Sprechorgane ihres Autors, dessen Verbitterung zu spüren ist und der selbst offensichtlich Schwierigkeiten hat, sich in seiner Gegenwart zurechtzufinden. Die Frage, ob ein „Zurück zum Sozialismus“ aus den Dilemmata des heutigen Lebens herauszuführen vermöchte, wird zwar klar verneint, aber die gebetsmühlenartige Verdammung der „Markwirtschaft“ – während der Lektüre ging mir auf, dass es tatsächlich kein unliterarischeres Wort gibt als diesen sperrigen Dreisilber – führt nicht zu neuen Ufern, sondern beharrt auf ziemlich alten Ressentiments.
Tschingis Aitmatow gehört zu den bekanntesten Autoren der Sowjetunion. Er wurde 1928 im Dorf Sheker, Kirgisien, geboren. 1946 ging er an die Technische Hochschule in Dshambul, um Veterinärmedizin zu studieren. 1958 entstand seine Erzählung Dschamilja, eine der „schönsten Liebesgeschichten der Welt“ (Louis Aragon). Er schrieb Romane und Erzählungen und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (Leninpreis, Staatspreis der UdSSR, Friedrich-Rückert-Preis, Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur).
Der Autor im Unionsverlag

Dietmar Jacobsen     04.04.2007    

Dietmar Jacobsen