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Arno Geiger
Selbstporträt mit Flusspferd

Leben in unsicheren Zeiten

In Arno Geigers neuem Roman Selbstporträt mit Flusspferd sucht ein junger Mann seinen Platz in der Welt

  Kritik
  Arno Geiger
Selbstporträt mit Flusspferd
Roman
München: Carl Hanser Verlag 2015
288 Seiten, 19,90 €
ISBN 978-3-446-24761-1


Man schreibt den Sommer 2004. Athen richtet die 28. Olympischen Spiele der Neuzeit aus. In New York wird der Grundstein für das „One World Trade Centre“ auf Ground Zero gelegt und in Deutsch­land beginnen die Menschen, an den Mon­tagen wieder auf die Straße zu gehen – diesmal gegen die Hartz-IV-Gesetze der Regie­rung Schröder. Einen jungen Mann in Wien, Julian Birk, Student der Vete­rinär­medi­zin, interes­siert das alles nur am Rande. Denn er hat sich gerade von seiner Freundin getrennt, bläst Trübsal und ist auf der Suche nach einem neuen Halt im Leben.
  Julian ist die Hauptfigur im aktuellen Roman des ersten Deutschen-Buchpreis-Trägers Arno Geiger. 22 Jahre alt ist er und die Erkennt­nis, sich in diesem Alter nicht auf ewig binden zu müssen, weil das „Wahre“ noch irgendwo in der Zukunft auf ihn lauert, hat ihn nach über einem Jahr die Beziehung zu seiner Freundin Judith beenden lassen. Doch was nun? Der Sommer ist lang und heiß, der nach der Tren­nung eigentlich erwartete Frei­heits­rausch stellt sich nicht ein und nichts will so recht die Vakanz in seinem Dasein füllen, die von Tag zu Tag spürbarer wird.
  Da kommt ihm das Angebot eines Freundes, sich als dessen Vertreter im Hause des schwerkranken Professors Beham um ein dort provisorisch unter­ge­brachtes Zwerg­fluss­pferd zu kümmern, gerade recht. Doch nicht nur das in Wien gestran­dete massige Tier, das am Ende der Sommer­ferien in den Baseler Zoo überführt werden soll, findet Julian in der gut­bürger­lichen Villa am Stadt­rand vor, sondern auch Aiko, die Tochter des Pro­fessors. Zwischen der 27-jäh­rigen Journa­listin, die in Paris lebt und mit einem Belgier locker liiert ist, und ihrem Vater herrscht ein rau-burschi­koser Ton, der Julian zunächst ein wenig irri­tiert. Doch je besser er die lebhaft-intel­ligente junge Frau im Laufe der nächs­ten Wochen kennen­lernt, umso mehr faszi­niert sie ihn.
  Nach einer gemein­samen Nacht ist Julian schließlich neu verliebt. Doch Aiko macht ihm schnell klar, dass sie ihre kleine Affäre nicht so ernst zu nehmen gedenkt, um ihr ganzes bisheriges Leben umzu­krempeln. Als der Sommer zu Ende geht, kehrt sie deshalb nach Paris zurück, das Zwerg­fluss­pferd wird abgeholt, der Pro­fessor richtet sich aufs Sterben ein und Geigers Held kehrt in sein altes Leben zurück, das er nun allerdings mit anderen Augen sieht.
  Nach dem großartigen Gegenwartsroman Alles über Sally (2010) und dem von der Alzheimer-Erkrankung seines Vaters inspi­rierten Buch Der alte König in seinem Exil (2011), für das Geiger eine Nominierung für den Preis der Leipziger Buch­messe erhielt, scheint Selbst­porträt mit Flusspferd auf den ersten Blick ein lite­rarisches Leicht­gewicht zu sein. Eine jener Coming-of-Age-Geschich­ten halt, wie sie die deutsche Lite­ratur in den letzten Jahr­zehnten zuhauf hervor­gebracht hat: junger Mann sucht, initiiert durch eine Lebens­krise, seinen end­gülti­gen Platz im Leben. Anders als jene Autoren, die ihre jugend­lichen Helden in der Regel unter ihres­gleichen agieren lassen, bringt Geiger aller­dings drei starke Gegen­gewichte zu seinem ohne rechten Plan durch die Welt streu­nenden Prota­gonisten ins Spiel. Die abge­klärt-erfah­rene End­zwan­zigerin Aiko, den in diesem Sommer für Julian zu einer Vater­figur wer­denden Professor Beham und – nicht zuletzt – das geruh­sam in seinem Teich vor sich hin plan­tschende Zwerg­flusspferd.
  Letzteres demons­triert mit seiner erdenschweren Behäbig­keit sowohl den meta­phorischen Gegenpol zu der Flatter­haftig­keit der kapri­ziösen Pro­fes­soren­tochter wie zu all den Studien­freunden und WG-Mit­bewohnern, die, kaum weni­ger als Julian selbst, mehr kreuz und quer durch ihre Gegenwart­ laufen als auf ein kon­kretes Ziel zu.
  Aiko ist übrigens schwanger, als sie sich von Julian ver­abschiedet. Ob das irgend­eine Bedeutung für die Zukunft beider haben wird, lässt sie nicht erken­nen, als sie das Leben des jungen Mannes so unbe­sorgt und selbst­bewusst verlässt, wie sie es davor betreten hat. Alles easy eben – oder doch nur ein weiterer jener „unglückliche [n] Versuche, glück­lich zu sein“, wie sie nach Julian symptomatisch sind für unsere Welt?
Dietmar Jacobsen   03.08.2015    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Dietmar Jacobsen