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Natascha Wodin
Nachtgeschwister

Begegnung in der Wüste

Natascha Wodin schreibt nach Wolfgang Hilbigs Tod das Gegenstück zu seinem Roman Das Provisorium

Natascha Wodin | Nachtgeschwister
Natascha Wodin
Nachtgeschwister Roman
Antje Kunstmann 2009
„Er war hier angekommen wie in einer Hypnose. Hypno­tisiert hatten ihn seine eigenen Gedanken, und diese kreisten um die Gestalt einer Frau. Sie kreisten um ihre Gestalt und um ihr Bild, und es war ihm absolut nicht gelungen, sie zu einer wirklichen Frau für sich werden zu lassen. Das war ihm bei noch keiner Frau gelungen.“ Die Sätze stammen aus Wolfgang Hilbigs (1941 – 2007) letzten Roman Das Provisorium (2000). Dessen sich aus Gründen der Distanzierung der dritten Person Singular bedienender Erzähler heißt C. und trägt deutliche Züge seines Schöpfers – die Frau, um die es geht, wird Edda genannt. Das Provisorium ist ein so großartiger wie quälender Roman, sein Thema die Zer­rissen­heit seines Helden zwischen Ost und West. Dort (im Osten) hat er seinen Stoff, hier (im Westen) wird er veröffentlicht und gepriesen. Dort martert ihn der Ideologie-, hier der Konsum­wahn. Und in beiden Welten ist er verstrickt in Beziehungen, die ihn überfordern.

Nun, in Natascha Wodins neuem Roman, ihrem ersten seit 12 Jahren, erhält man die Gelegenheit, die gleiche Geschichte aus einem anderen Blickwinkel zu lesen. Aus Edda ist die in Wodins Nachtgeschwister namenlos bleibende Ich-Erzählerin geworden, aus C. der Dichter Jakob Stumm. Keine Frage: Die Autorin hat ihre eigenen Erlebnisse als Roman­grundlage benutzt, beginnend beim ersten Zusammen­treffen mit Hilbig nach dessen Ausreise in den Westen Mitte der 80er Jahre und nicht endend mit dem Scheitern ihrer kurzen Ehe knapp zwei Jahrzehnte später. Es ist der ungeschminkte Bericht über eine unheilvolle Verstrickung, der dem Leser hier als Roman vorgelegt wird, die Geschichte eines beide Seiten marternden Verhältnisses, aus dem der vollständige Ausbruch nie gelingen will. Dass dieses Buch erst nach Hilbigs Tod geschrieben und veröffentlicht werden konnte, begreift man ziemlich schnell. Man ahnt aber auch, je tiefer uns Natascha Wodin Einblick nehmen lässt in die Innenwelten ihrer beiden Protagonisten, dass sich hier jemand freizuschreiben sucht, sich den Weg zu einer Sprache zurückbahnt, um die er sich durch den anderen gebracht sah.

Euphorie aber ist zunächst das beherrschende Gefühl. Einer Frau, die sich als Außenseiterin sieht, Kind ukrainischer Zwangsarbeiter, die nach dem Krieg in der Bundesrepublik geblieben sind, und unter dieser „negativen Besonder­heit“ stets leidend, fällt durch Zufall der Gedichtband eines ihr völlig unbekannten Autors aus dem anderen Teil Deutschlands in die Hände. Von der ersten Seite an ist sie fasziniert, findet nicht mehr heraus aus der Gedankenwelt jenes Jakob Stumm. Sein Porträt auf der Rückseite des schmalen Bändchens zeugt für sie sowohl von der Unnahbarkeit und In-sich-Verschlossenheit des Mannes, verfügt aber auch über eine Aura, ein Leuchten, dem sie vom ersten Moment an verfällt. Die Gedanken, die er denkt und in dunkel-geheimnisvolle Bilder kleidet, vermag sie zu teilen, sein fühlbares Leid ist auch das ihre, sein Fremdsein und die verborgene Bitte um Anwesenheit im Hier und Jetzt glaubt sie mit ihrer eigenen Existenz beantworten zu können: „... ich war einem Zweiten in meiner Wüste begegnet, einem nie erträumten deutschen Bruder.“

Doch als sie sich das erste Mal gegenüber­stehen – vom Nürnberger Bahnhof nimmt die Erzählerin den Fremden mit zu sich nach Hause und es beginnt eine obsessive Liebesgeschichte –, ist bereits klar, dass der Mann all jene auf ihn proji­zierten Erlösungsfantasien nicht wird erfüllen können. Selbst in der Seele verletzt, tief in sich zurückgezogen und vollständig unfähig, sich anderen Menschen und deren Alltag anzupassen, gibt er Natascha Wodins Erzählerin alles andere als den erhofften Halt. Alkohol­exzesse, Eifer­suchts­anfälle und Gewaltaus­brüche dominieren bald die Beziehung. Mal leben die beiden, die nicht voneinander lassen können, auch wenn die Liebe immer häufiger in blinden Hass umschlägt, zusammen, dann wieder getrennt.

Nachtgeschwister wirft einen tiefen Blick hinein in jene Hölle, die sich zwei Menschen gegen­seitig bereiten können, die übersehen, wie ähnlich sie sich sind, und wechsel­seitig voneinander Errettung erwarten. Der Roman ver­schweigt nichts und weckt in seinem Leser mehr als einmal den Wunsch, sich abzu­wenden von einer Intimität, in die Einblick zu nehmen ihm fast frevelhaft erscheint. Und dennoch ist dieses Buch faszinierend und lässt nicht los. Nicht am Anfang, wenn seine Heldin in den Bannkreis Jakob Stumms gerät und alles unternimmt, in das Leben dieses in einer anderen, ihr völlig fremden Welt existierenden Mannes hineinzukommen, eine Rolle für ihn zu spielen, damit er eine Rolle für sie spielen kann. Nicht dann, wenn die Prota­gonistin sämtliche Sicher­heiten, über die sie verfügt, aufgibt einem Wahn zuliebe. Und nicht am Ende, wenn es ihr endlich gelungen ist, Distanz herzustellen zu einem, der, weil er die Welt, wie sie ist, nicht zu zerstören vermag, sich selbst zerstört und jene, die ihn lieben.

Wie Das Provisorium ist auch Nachtgeschwister ein Roman, der seine Geschichte vor dem Hintergrund von Wende und Wiedervereinigung erzählt. Wenn Wodins Heldin und ihr Dichter am Ende nach Berlin gehen, dort eine Zweckehe schließen – die ein paar Jahre später wieder getrennt wird – und ihre Tage und Nächte in zwei unweit voneinander entfernt liegenden Wohnungen verbringen, wird ganz nebenbei eine Menge von jener Atmo­sphäre eingefangen, die die frühen 90er Jahre für viele so erscheinen ließen, als wäre es möglich, in der vergessenen Welt des Ostens noch einmal ganz von vorn anzufangen. Alles scheint neu für eine gewisse Zeit und über die Leichtig­keit des Lebens­gefühls in ihrer neuen Umgebung wächst der Prota­gonistin des Romans auch die Kraft zu, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen. Vom Tod Jakob Stumms erfährt sie schließlich aus den Medien. Ihr Kommentar lautet: „Vielleicht, so dachte ich, hatte er den Untergang der DDR nicht überlebt.“
Dietmar Jacobsen     06.04.2009   
Dietmar Jacobsen