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Hans-Ulrich Treichel
Frühe Störung

Mutti ante portas

In Hans-Ulrich Treichels neuem Roman Frühe Störung arbeitet sich der Held an seiner Mutter ab

  Kritik
  Hans-Ulrich Treichel
Frühe Störung
Roman
Berlin: Suhrkamp Verlag 2014
189 Seiten, 18,95 €
ISBN 978-3-518-42422-3


Dem Protagonisten seines neuen Romans Frühe Störung hat Hans-Ulrich Treichel keinen Nach-, dafür aber gleich zwei Vornamen verpasst. Franz heißt er nach dem Groß­vater und Walter nach dem ersten Mann der Mutter, einem Mode­schmuck-Ver­treter. Franz Walter – das klingt nach Stehen auf zwei starken Beinen, nach festem Ver­ankert­sein im Heute und Wurzeln, die tief in die Vergangen­heit zurück­reichen. Doch weit gefehlt. Denn dieser Mann ist eine jener typischen Treichel­figuren, die gerade keinen festen Grund unter ihre Füße bekom­men. Eigent­lich eine tra­gische, bemit­leidens­werte Exis­tenz, der der Autor durch seinen Erzähl­ton und all die klei­nen Lebens­fallen, in die er sie ziem­lich hilflos stol­pern lässt, auch wieder etwas Komi­sches abzu­gewin­nen weiß.

Das beginnt schon mit dem Beruf des Mannes. Denn ausgerechnet er, der ver­zweifelt nach existentieller Orientierung sucht, hilft anderen, sich auf unbe­kanntem Terrain zurecht­zu­finden, indem er Reiseführer verfasst. Auf den ersten „gesamt­deutschen Reise­führer über den Darß“ ist er beson­ders stolz. Verkauft sich der doch nicht nur gut, sondern muss auch von Auflage zu Auf­lage ergänzt werden, was ohne weitere Darß-Aufent­halte mit sämt­lichen dazu­gehöri­gen An­nehm­lich­keiten kaum mög­lich ist.

Doch auch unterwegs zu Studien­zwecken – der Leser erlebt den Mann nicht nur im Nordosten Deutschlands, sondern auch in Kalkutta und Rom – kommt Treichels Prota­gonist nicht los von seinem Haupt­problem, einer über­lebens­großen Mutter. Deren Stimme hat sich tief in seinem Kopf ein­genistet. So tief, dass sie selbst nach dem Tod der Frau nicht ver­stummt. Da helfen weder Psycho­analyse noch Frisch­verliebt­sein in eine junge Foto­grafin namens Andrea, die so gar nichts Mütter­liches an sich hat, ja sogar „beängs­tigend unmütter­lich [...]“ ist. Die Mutter tut Franz Walter alles andere als gut.

Wie sein Vorgänger – Grunewaldsee (Suhrkamp 2010) – spielt auch Treichels ak­tuel­les Buch zu einem Großteil in Berlin. Nur wohnen der Held und seine ihn seit Kind­heits­tagen bedrän­gende Mutter diesmal bürger­licher. Statt in Kreuz­ber­ger Studenten-WGs führt uns Frühe Störung ins „Mutti­milieu“ rund um den Savigny­platz. Da liegt der Held dann auf der Couch in einer Char­lotten­bur­ger Alt­bau­woh­nung und steht einem Psycho­analy­tiker Rede und Antwort, dessen Praxis man durch den Vorder­eingang betritt und hinten hinaus wieder ver­lässt. Da grübelt er – im Res­taurant „Cal­cutta“ oder einem Ku-Damm-Café – über Gott und die Welt, haupt­sächlich aber über eine Mutter, gegen deren ständige Präsenz kein Kraut gewachsen scheint.

Und immer wieder die verstörende Erin­nerung an eine Kindheits­szene, die das ganze Dilemma ausgelöst zu haben scheint. Sie spielt im elterlichen Bett während des Mittags­schlafs, der alles andere als erholsam, ja eigentlich überhaupt kein Schlaf gewesen ist. Denn das Kind musste neben der Mutter liegen, die, nachdem sie einge­schlafen war, immer dichter an den ver­störten Knaben heranrückte: „Da ich der immer wieder nach­drän­genden Mutter nicht ent­kommen konnte, lag ich schließ­lich voll­kommen starr neben ihr. Ich wagte nicht, mich zu rühren, denn wenn ich mich gerührt hätte, wäre die Mutter erwacht und ich hätte ihren Mittags­schlaf verdorben [...] Die Mutter hatte sich aus­geruht, und ich war dem Furcht­baren begeg­net: den Speichel­fäden, die aus dem Mund der Mutter tropften, den kleinen schwarzen Härchen, die ihr aus der Nase wuchsen, den Löchern in den gerö­teten Ohr­läppchen, dem betäu­benden Atem ihres Mundes, dem trocke­nen Schnarchen ihrer Kehle und ihrem warmen Bauch, der sich an mich drängte, denn nur hier, im Dämmerschlaf des Mittags, kam die Mutter mir nahe.“

Mutternähe im Schlaf, Mutterferne aber stets dann, wenn man die kleinen Liebes­bewei­se im Alltag, die Um­armungen hin und wieder tat­sächlich gebrauchen könnte. Das Gefühl, im Leben dieser „Unnah­bar­keits­person“ (Robert Walser) nicht mehr als eine Neben­rolle zu spielen. All das lässt die Mutter für Treichels Helden zur beherrschenden Figur seines Seelenlebens werden, der er sich lebenslang nicht zu ent­ziehen vermag. Für den Leser freilich zeitigt Franz Walters Dilemma auch amüsante Folgen – etwa wenn die Mutter wäh­rend eines gemein­samen Ahrens­hoop-Aufent­haltes mit dem Sohn von einem wohl­meinenden Apotheker umworben wird und der Sohn statt der erwarteten Erleich­terung nichts anderes zu spüren vermag als brennende Eifer­sucht.

Wie immer irrt Treichels Erzählen auch in Frühe Störung nur allzu gern und insgesamt wohl auch häufiger als in seinen bis­herigen Romanen vom Hauptpfad ab. Im Kopfe auch dieses Helden geht es eben genauso wenig gerad­linig zu wie im richtigen Leben und Denken.Und so erfährt der Leser ganz nebenbei noch, was Franz Walter von der Psycho­analyse hält, wie er über Niklas Luhmann denkt, dass er während der 68er Studenten­un­ruhen durchaus nicht nur bei Muttern zu Hause hockte, sondern einer Kriti­schen Gruppe Geo­graphie (KGG) beitrat, und wie der Auftrag, als Ghost­writer an einer Promi-Biografie mitzu­werkeln – die zu por­trätie­rende Minis­terin hat große Ähn­lich­keit mit der „Mutter Courage des Ostens“ Regine Hilde­brand – ihn beinahe zu einem landauf landab be­kannten Sach­buchautor gemacht hätte.

Insgesamt freilich gehört Frühe Störung nicht zu Treichels besten Büchern. Routi­niert geschrieben, kommt die Geschich­te den­noch nicht vom Fleck. Aus Franz Walter wird nun einmal kein „ganzer Kerl“ – immer nimmt die Mutter große Teile von ihm in Be­schlag. So dass der Satz, mit dem das Buch endet, eigent­lich auch an seinem Anfang hätte stehen können: „Ich bin ein altes Kind, das sich vor seiner toten Mutter fürchtet.“
Dietmar Jacobsen   30.06.2014   

 

 
Dietmar Jacobsen