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Ulrich Peltzer

Teil der Lösung

Die Liebe in den Zeiten der Kameras
Ulrich Peltzer durchleuchtet in seinem aktuellen Roman unsere
brüchige Gegenwart

Ulrich Peltzer | Teil der Lösung
Ulrich Peltzer
Teil der Lösung
Roman
Ammann Verlag 2007
Christian Eich gehört zum akademischen Prekariat. Der studierte Germanist schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durchs Leben. Mal schreibt er Restaurantkritiken, mal bespricht er einen neuen Film. Meistens ist er klamm. Und wenn nichts Wesentliches passiert, wird er bald auch ohne Wohnung dastehen. Eine Krankenversicherung hat er längst nicht mehr.

Jakob Schüssler, sein Freund aus Kinder- und Jugendtagen im Rheinischen, geht es da vermeintlich besser. Verheiratet und Vater zweier Kinder, verfolgt er seinen Job als unterrichtender und forschender Privatdozent und hält eifrig Ausschau nach freien Lehrstühlen im Lande, um endgültig sesshaft zu werden.

Jakob und Christian sind Mitte 30 und stehen für zwei Typen von Intellektuellen, wie man ihnen heute allenthalben begegnen kann. Der eine arriviert beziehungsweise auf dem besten Wege dahin, der andere irgendwann an einer kleinen Hürde gescheitert – ein Scheitern, dass als Scheitern womöglich gar nicht begriffen wurde – und seitdem auf dem Weg ins Abseits, das ihm freilich zu Beginn noch als autarkes Leben jenseits des Mainstreams erscheint.

Zwischen diese beiden hat Ulrich Peltzer in seinem neuen, vierten Roman Nele gestellt, Nele Fridrich, eine Dreiundzwanzigjährige, die in Berlin studiert, bei Jakob eine Arbeit über Jean Paul schreibt und sich in Christian verliebt. Sie ist wohl so, wie die beiden früher einmal waren: Spontan, wissbegierig, politisch aktiv und schnell empört. Und sie tut etwas. Bleibt nicht bei Kritik, Diskussion und Reflexion stehen, sondern schließt sich einer im Untergrund operierenden Gruppe an, die nach ein paar eher harmlosen Coups jetzt etwas Größeres plant.

Damit hätten wir die Hauptfiguren zusammen. Eingebettet sind sie in ein Buch, das sich nicht weniger vorgenommen hat, als die Umrisse unserer Gegenwart nachzuzeichnen, ihre Bruchstellen zu markieren, den dünnen Boden des Politischen auf Haltbarkeit zu testen und – in seinem Vorgänger Bryant Park hat sich Peltzer mit dem 11. September 2001 auseinandergesetzt – die Frage der Rechtmäßigkeit des Widerstands gegen ein System zu diskutieren, das inzwischen jede Bewegung außerhalb seiner mit tausend Kameraaugen beobachtet. Herausgekommen sind gleich drei Romane in einem. Ein großer Liebesroman, der mit Gefühlen nicht spart, seine Helden in Konflikte stürzt, an denen sie fast zerbrechen, am Ende aber die Tür zwischen den beiden doch nicht ganz zuschlagen lässt. Ein großer Berlin-Roman, welcher souverän umgeht mit Dutzenden von Schauplätzen, die ein erzählerisches Gitter legen über die Metropole eines Landes, das im Wandel begriffen ist und die Zeichen dieses Wandels ganz besonders deutlich in der und über seine Hauptstadt verstreut hat. Und ein großer Zeitroman, der mittels eines breit angelegten Panoramas plastisch gestalteter Nebenfiguren verschiedene Möglichkeiten unserer aktuellen Existenz durchspielt.

Um dieses Mammutprogramm ästhetisch zu bewältigen, hat Peltzer zu einer – fast kinematografisch anmutenden – Schnitttechnik gegriffen, die er seinen Helden Christian, der sich selbst mit einem Romanprojekt trägt, an einer Stelle folgendermaßen erläutern lässt: „... es handele sich um Stimmen, Stimmen aus allen Bereichen, oben, unten, die in wechselnden Tonlagen ein Alltagspanorama, Alltäglichkeit in allen ihren Facetten, entwerfen würden, wobei sich die einzelnen Geschichten durchaus überschneiden könnten ...“ Dies gelingt dem Autor geradezu bravourös. Ob es sich um eine Geburtstagsfeier bei einem Dozenten, Kneipen- und Diskothekenbesuche, Universitätsatmosphärisches, einen Ausflug an die Oder oder die den Roman beschließende konspirative Reise ins Herz von Paris handelt -stets wird mit einer präzisen, wenig Platz für Anschaulichkeit benötigenden Sprache ein sinnlich nachvollziehbarer Raum der Imagination geschaffen, in welchem die Details so stimmig wie wiedererkennbar sind.

Übrigens trägt sich auch Peltzers Held, der von den terroristischen Aktivitäten seiner belesenen Freundin zunächst nichts ahnt, mit einem Widerstandsprojekt. Für einen Feuilletonartikel, mit dem er groß herauszukommen hofft, recherchiert er die Geschichte der italienischen Roten Brigaden. Einigen von deren Mitgliedern wurde offenbar nach ihrer Flucht aus Italien in Frankreich ein auflagenstrenges Asyl gewährt. Um mit Zeugen in Verbindung zu kommen, lässt Christian sich auf ein angesichts der heute mehr oder weniger kleinbürgerlichen Lebenssituation der einstigen Terroristen geradezu absurd erscheinendes Katz-und-Maus-Spiel ein, in dessen Verlauf er sogar in Gefahr gerät, seine ihm Boden unter den Füßen verschaffende Liebe wieder zu verlieren.

Denn die Zeiten haben sich gewandelt. Feststehende Gewissheiten gibt es nicht mehr. Fronten könnten überall und nirgends verlaufen. Deshalb die vielen Kameras in diesem Buch. Die geheimen Treffpunkte. Die eingeschleusten Informanten. Die Hysterie der Überwachung, die eine Figur sogar in Wahnsinn und Suizid treibt. Und endlich die Erleichterung der Überwacher, wenn ein scheinbarer Feind endlich ins Visier gerät. Nur vorsichtig sein jetzt, nur nicht zu früh aufscheuchen, den Gegner, ihn langsam in die Falle laufen, die dann aber mit viel Lärm zuschlagen lassen.

Die geniale Eingangsszene von Teil der Lösung, eine Art Prolog, spielt in dem von Kameraaugen total überwachten Sony Center am Potsdamer Platz. Der plötzlich aufscheinende Widerstand gegen das permanente Beobachtetwerden trägt hier noch spielerisch-circensische Formen. Aber ein melonenbewehrter Zirkusdirektor, Ballerinen und Clowns, die in die Objektive winken und alle zufällig Daherkommenden darauf aufmerksam machen, dass sie Rollen spielen in einem Szenario, ohne gefragt worden zu sein, sind des Unerlaubten schon zu viel – der Staat greift ein. Und später baut derselbe Staat – der Autor personifiziert ihn, indem er seinen konspirativ operierenden Staatsschützern zwei wunderbar banale Klarnamen gibt: Eberhard Seidenhut und Klaus Witzke – aus Mangel an erkennbaren Feinden eben jene Zirkusdirektoren, Clowns und Ballerinen zu Popanzen auf, die seine Existenz gefährden.

Peltzers Text erinnert gelegentlich an Dürrenmatts Novelle Der Auftrag (1986), die den Untertitel Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter trug. Und auch etwas von Wolfgang Hilbigs großartigem Stasi-Roman <ICH> (1993) klingt in ihm an. In seiner Substanz freilich hebt er das, was seine Vorgänger beschrieben, auf ein neues Niveau. Unterm Strich entsteht dabei so etwas wie ein Hologramm unser aller Ratlosigkeit, das Selbstbildnis einer Gesellschaft mit verschwommenen Zügen, nichtsdestotrotz aber großartig und genau.
Ulrich Peltzer wurde 1956 in Krefeld geboren. Er studierte Philosophie und Psychologie in Berlin, wo er seit 1975 lebt. Im Ammann Verlag erschienen mehrere Romane von ihm, so unter anderem Bryant Park (2002). Der Autor erhielt den Anna-Seghers-Preis und den Bremer Literaturpreis.

Ulrich Peltzer | Autoren bei Ammann  externer Link

Dietmar Jacobsen     08.07.2007

Dietmar Jacobsen