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Siegfried Lenz

Landesbühne

Manchmal kann die Wahrheit nur erfunden werden

In seinem neuen Erzähltext Landesbühne übermalt Siegfried Lenz die Realität ganz im romantischen Stil

Kritik
  Siegfried Lenz
Landesbühne
Hamburg: Hoffmann & Campe 2009
120 Seiten, 17,00 Euro


Eigentlich kennt man Siegfried Lenz mehr als handfesten Realisten. Seine Figuren stehen beidbeinig in der Wirklichkeit. Die Konflikte in die sie geraten, konfrontieren sie mit ihrer Zeit und ihrer Welt. Wie er sie ausgehen lässt, weist den Autor in all seinen Werken als Humanisten aus, als einen, der sich den Schwachen an die Seite stellt, dem Erinnern als Voraus­setzung für die Bewältigung des Heute das Wort redet und im Kleinen, scheinbar Neben­sächlichen das Epochale entdeckt. Mit Träumen, mit Phantas­mago­rien hatten Lenzens boden­ständige Helden bisher nur vermittelt zu tun, etwa dann, wenn sie sich hinaus­träumten aus miss­lichen Lebens­lagen und aus diesen Visionen die Kraft bezogen für den Kampf, den sie gerade bestritten.

Mit Landesbühne nun, seinem aktuellen, knapp hundertseitigen Text, der keine spezielle Genrebezeichnung trägt, aber novellistische Züge aufweist, betritt Lenz Neuland insofern, als er vor die Wirklichkeit einen Schleier zieht und vor diesem wiederum, wie auf einer Bühne, seine Prota­gonisten ihr Spiel aufführen lässt. Ein Spiel übrigens, das, je länger es dauert, umso mehr seine räumlichen, zeitlichen und handlungs­logischen Koordinaten verliert und in einem anspie­lungs­reichen Ungefähr traum­hafte Dinge ge­sche­hen lässt, die nur noch dünne, aber feste Fäden mit dem Dahinter der Realität verbinden. In einer Schlüssel­stelle ganz am Ende des Bänd­chens lässt Lenz seine Hauptfigur übrigens selbst darüber räsonieren, ob dem Dokumenta­rischen, wenn man es denn nur mit genug Erfundenem vermengt, nicht tat­sächlich eine ganz andere, vielleicht sogar tiefere Bedeutung zu entnehmen wäre, oder, mit des Autors eigenen Worten: „Manchmal kann die Wahrheit nur erfunden werden.“

Man fühlt sich unwillkürlich an E.T.A. Hoffmanns berühmte Novelle Der goldene Topf von 1819 erinnert, wenn am Anfang von Landesbühne eine Handvoll Gefangener das Gastspiel einer Theatertruppe im Gefängnis Isenbüttel dazu nutzt, mit deren Bus auszubüxen. Wie in dem berühmten Kunstmärchen der Student Anselmus das Schwarze Tor in Dresden durch­stolpert, um sich unver­mittelt in einer ganz anderen Welt wieder­zufinden, ist auch das Gefängnis­portal eine Art Pforte ins Wunderbare. Kaum durch­fahren, eröffnen sich für die Männer um den Ich-Erzähler Clemens, einen Uni­versitäts­professor, den erkaufte Prüfungsmilde für vier Jahre hinter Gitter gebracht hat, die unwahr­schein­lichsten Möglich­keiten.

Plötzlich verschmelzen Alltag und Poesie, Broterwerb und Lebenslust stehen sich nicht mehr im Wege und jeder aus dem Haufen kleiner, sympathischer Gauner kann das Dasein genießen, das er sich schon immer ersehnt hat. Das ganze Abenteuer kulminiert schließlich – ehe es abrupt endet und die Männer wieder hinter Gitter müssen – in dem fiktiven Ort Grünau, wo sympa­thisch-einfältige Bürger Lenzens Knackis als Kultur­bringer feiern. Hier darf Clemens umjubelte Vorträge zur Literaturperiode des Sturm und Drang halten, sein Freund Hannes und weitere Klein­kriminelle machen sich an den Aufbau eines Heimat­museums.

Womit wir beim Stichwort wären. Denn natürlich spielt Grünaus Heimat­museum an auf den großen Roman von Siegfried Lenz aus dem Jahre 1978. Und es fällt nicht schwer, weitere Bezüge zum Leben des Autors zu finden. Bargte­heide, ein „verheißungs­voller Ort“, in dem Lenz nach dem Zweiten Weltkrieg für eine Weile wohnte, wird erwähnt. Mit dem Hinweis auf den 1952 erschienenen ersten Gedicht­band Paul Celans, Mohn und Gedächtnis, dürfte der Autor auch eigene lyrische Vorlieben preisgeben. Und selbst dem Verlag, dem er sich seit Langem verbunden fühlt, hat er unter dem Namen „Hoffmann und Breitner“ ein kleines Denkmal gesetzt. Landes­bühne also eine Art „Lebensbühne“? Eine bunt-fantasievolle Daseins­schau voller augen­zwinkerndem Witz und nicht wenig Melan­cholie zum Schluss hin, wenn die Schauspieler ein weiteres Mal in Isenbüttel gastieren und Becketts Warten auf Godot auf­führen? Ein Blick zurück auch auf das eigene Leben? Memoiren der etwas anderen Art? Vielleicht von jedem etwas, insgesamt aber eine neue Façette im Werk eines façetten­reichen Autors. Etwas, das man nicht erwartet hatte. Das aber, man spürt es, wenn man über die erste Verwunderung hinaus ist, ob seiner Menschlichkeit gut passt ins Œuvre des 83-Jährigen.
Dietmar Jacobsen   05.11.2009   
Dietmar Jacobsen