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Michael Kleeberg
Karlmann

Testosteron, Tennis und Treuebrüche
Michael Kleebergs hochliterarische Beschwörung des letzten Jahrzehnts
der alten Bundesrepublik

Michael Kleeberg | Karlmann
Michael Kleeberg
Karlmann
Roman
München: DVA 2007

 
Don DeLillos Roman Unterwelt (1997) beginnt mit einer 70-seitigen Baseballszene. Am 3. Oktober 1951 traten im Finale der nordamerikanischen Meisterschaft die New York Giants gegen die Brooklyn Dodgers an. Im entscheidenden Moment des legendären Spiels beförderte der Schläger der Giants den Ball weit über das Spielfeld hinaus in die Zuschauerränge. Homerun!

Fast 34 Jahre später, am 7. Juli 1985, schlug der 17-jährige Boris Becker auf dem Center Court in Wimbledon seinen Grand-Slam-Finalgegner, den 10 Jahre älteren Kevin Curren, in 4 Sätzen. In Deutschland saßen 11 Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehgeräten. Auch dieses Match wurde zur Legende. Und mit Michael Kleebergs neuem Roman geht es nun auch in die Literatur – und auf beinahe so vielen Seiten wie sein heimliches Vorbild – ein.

Denn da sitzen sie eingangs, Charly Renn und seine Freunde Kai und Thommy, und vor ihnen – in der Glotze – macht ihnen ein „Kindmann“ mit „Schweinswimpern“, „sinnlich aufgeworfenen vollen Lippen“ und „weißbeflaumt-weißen, obszön kräftigen, säulenhaften Schenkeln“ vor, was man erreichen kann, wenn man wirklich alles in die Waagschale wirft. Da kommt ein Kraftfluss zustande, der die beiden Welten miteinander kurzschließt, ein magischer Kontakt als Versprechen in die eigene großartige Zukunft. Siegt dieses „riesige Albino-Tier“ auf der Mattscheibe, so ahnt, hofft, fantasiert und imaginiert man, dann sollte auch im eigenen Leben, das gerade langsam in die Gänge kommt, nichts mehr unmöglich sein.

Doch Kleebergs Held ist niemand, der sich von ganz unten mühevoll nach oben kämpfen muss. Da, wo es eng wird in der Gesellschaft, hat er per Zufall der Geburt längst seinen Platz. Und wenn der Vater ihm aus Anlass seiner Heirat noch das (Danaer-) Geschenk eines Autohauses macht, könnte das der Beginn einer wunderbaren Geschichte werden.

Allein wir sind in keinem Kolportageroman, auch wenn der Autor gelegentlich beweist, dass er auch mit den Mitteln der Kolportage – wie mit so vielen anderen literarischen Mitteln, Tönen, Stilen und stilistischen Fácetten – arbeiten kann. Und dass die Zukunft Karlmann Renns – wie Charly wirklich heißt – keineswegs so strahlend sein dürfte, wie der blendende Eingangsmoment verspricht, wird schon deutlich, wenn es ihn gegen Ende des ersten Kapitels ohne Not oder andere zwingende Gründe in die Arme und zwischen die Schenkel der Brautjungfer treibt, während die ihm frisch Angetraute verträumten Blicks auf die Hochzeitsnacht wartet. Peinlich, peinlich.

Allein damit ist die Richtung vorgegeben. Kapitel für Kapitel – und der Roman hält fünf davon bereit, die jeweils einen epiphanisch herausgehobenen Tag der Jahre 1985 bis 1989 erzählen – verliert Kleebergs Figur ihren Nimbus, das Boris-Becker-Hafte weicht dem Bild eines Durchschnittsmenschen, der nicht bestimmt, sondern über den bestimmt wird, der dahintreibt und sich treiben lässt durch einen Alltag, dem er nicht entkommen kann. Nicht mit hochfliegenden Plänen, nicht durch Affären mit anderen Frauen, nicht durch das Zugehörigkeitsgefühl zur „besseren“ Gesellschaft seiner Heimatstadt Hamburg.

Am Ende liegt die kleine Welt des Karlmann Renn in Trümmern und Kleebergs Buch erreicht mit dem Jahr 1989 den historischen Punkt, an dem es zeitgleich zu Ende geht mit der alten Bundesrepublik. Was da von Osten her heraufdräut, begreift die mit sich selbst beschäftigte Hauptfigur freilich kaum. Genscher auf dem Balkon der Prager Botschaft kommt einmal in den Blick, die „Gulaschkommunisten“, die den Eisernen Vorhang zwischen Ungarn und Österreich zerschneiden, finden Erwähnung – aber ansonsten gehen „diese ganzen Umtriebe drüben“ keinem so richtig nahe. Wie der Autor sie gewichtet – ob als Chance für seinen am Schluss in einer Art Pariser Exil landenden Helden, dem die Frau mit einer anderen Frau davongelaufen ist, oder Wiederkehr des ewig Gleichen – wird sicherlich der Folgeband deutlich machen.

Mit einer Hommage an Don DeLillos Unterwelt beginnt der Autor seinen Roman, mit einer an James Joyces Ulysses – wo Hamburg in die Rolle von Dublin rückt – hört er auf. Dazwischen finden sich Anklänge an John Updikes „Rabbit“-Pentalogie, Thomas Manns Lübecker Familienepos und Prousts erzählerischen Umgang mit der Zeit. Hochambitioniert also, das Ganze. Aber es funktioniert durchaus – zumindest über weite Strecken, erst jenseits der Seite 400 ergriff den Rezensenten hier und da ein Gefühl zunehmender Zähigkeit. Das mag freilich auch daran gelegen haben, dass der Autor in den drei Mittelteilen mit grandiosen Beschreibungen, Dialogpassagen und inneren Monologen die Latte für das eigene Weiterschreiben so hoch gelegt hat, dass ein (winzig-) kleines Abrutschen zwangsläufig kommen musste. Alles in allem ist dieser Roman aber ein Unternehmen, dem neidlos zu bescheinigen ist, dass es sich zu einer literarischen Höhe aufschwingt, die nur die wenigsten seiner zeitgenössischen Konkurrenten erreichen. Chapeau!
Michael Kleeberg, 1959 geboren, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Berlin. Neben Erzählungen veröffentlichte er u.a. die Romane Proteus der Pilger (1993), Ein Garten im Norden (1998) und Der König von Korsika (2001). 2004 erschien bei DVA sein Reisetagebuch Das Tier, das weint. Michael Kleeberg erhielt den Anna-Seghers-Preis und den Lion-Feuchtwanger-Preis.

Michael Kleeberg bei DVA  externer Link

Dietmar Jacobsen     26.10.2007

Dietmar Jacobsen