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Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner lite­rarischer Gedenks­teine in Form eines Gedichtes jüngst ver­stor­bener Dichter, über­wiegend fremd­sprachiger, aber auch deutsch­sprachiger. Aus­gangs­punkt sind unter ande­rem aktuelle Todes­mel­dungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.

Liste der Stelen   ↓

 

Yaak Karsunke
(Berlin 1934 – ebenda 2025)


für trommel allein

»wer der trommel lauscht, hört die stille«
Georges Braque


1
die trommel
beschwört die stille
die aufkommt zwischen den schlägen
die von geräuschen markiert wird
die zwischen uns aufkommt
nicht zu täuschen durch worte
& dauerhafter als wir

2
trommeln wie schritte
wie schritte wie schreie wie schläge
wie schritte auf treppen auf stufen
in korridoren
bürokratischen gelbs
wie schritte auf schotter

trommeln wie steinschlag
wie schienenstöße & -schläge
(& der zwiefarbne mißton
einer streckentrompete)
trommeln wie herzschlag
wie adern zu unzeit
auf dem weg ins exil
in die kleinen hotels
in die kammern

trommeln wie aufschlag wie anschlag
wie sprünge
wie risse
wie knöchel im kalk
wie risse im holz & im schweigen
wie schreie wie schläge
trommeln wie trommeln wie schüsse

3
die trommel
wirbelt geräusch auf
wer der trommel lauscht
hört die stille
trommeln wie schweigen
wie hände
gewaschen im rauch

Aus: Kilroy & andere, Wagenbach, Berlin 1967.

 

»Ausgangspunkt sind in den Gedichten meist Alltagserfahrungen; oft handelt es sich um Gegenentwürfe, z. B. zu Brechts ›Radwechsel‹ [...]. K. bedient sich einer bewusst unkomplizierten, dabei keineswegs kunstlosen Sprache. Durch Collage u. Montage, durch Wortspiele u. Zeilenbrüche erreicht er eine Unterbrechung des Assoziationsflusses u. eine krit. Durchleuchtung traditioneller Motive u. Denkgewohnheiten.«
Killy Literaturlexikon, 2. Aufl. Band 6, De Gruyter, Berlin/Boston 2009

 

Yaak Karsunke wurde 1934 in Berlin geboren und wandte sich nach seinem Schauspielstudium dem Schreiben zu. Er war Mitbegründer der Literaturzeitschrift Kürbiskern und engagierte sich in der Außerparlamentarischen Opposition. Ab den 1970er-Jahren verband ihn eine Freundschaft mit Rainer Werner Fassbinder, in dessen Filmen er gelegentlich Nebenrollen spielte. Sein literarisches Werk umfasst unter anderem Theaterstücke, Hörspiele und Lyrik, darunter Kilroy & andere (1967) und hand & fuß (2004). 2005 wurde er mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. Yaak Karsunke starb im Mai 2025 im Alter von 90 Jahren im Berlin.