Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer „Gedenksteine“ in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
Giorgio Orelli
(Airolo 1921 – Ravecchia 2013)
Dorf
Jedes Jahr ist ein Jahr, das vorbeigeht.
Jeden Abend ist da ein Alter, der sich zum Fenster
hinauslehnt, die Augen auf den Weg
wirft, schnell den Topf leert,
die Läden geräuschlos schliesst.
(Oft sehe ich nur einen schneeweissen Arm)
Die Mütter kennen zerreissende Schmerzen.
Doch jedes Jahr, das vorbeigeht , ist immerhin
ein geborenes Kind.
Aus: »Rückspiel«, übersetzt von Christoph Ferber. Limmat, Zürich 1998.
»Bescheidene Seitenzahl, grossartiges Werk. Orellis Gedichte sind auf vertrackte Weise präzise und bleiben durchlässig für alles, was bis zuletzt ungenau bleiben muss. Der Dichter, sagt er, werde nicht dafür sorgen, verstanden zu werden. Sondern: ›Worte zu finden, die den Notwendigkeiten des Ausdrucks am ehesten dienen.‹« Martin Zingg
Giorgio Orelli wurde 1921 in Airolo, Kanton Tessin; geboren und unterrichtete nach seinem Studium italienische Literatur. Er verfasste Lyrik und Essays in italienischer Sprache und wurde 1988 mit dem Grossen Schillerpreis der Schweizer Schillerstiftung ausgezeichnet. Giorgio Orelli starb am 10. November 2013 in Ravecchia.
16.01.2014