Stele [griech.] Pfeiler, Säule als Grab- oder Gedenkstein
Die Stelen sind der Anfang einer Sammlung kleiner literarischer Gedenksteine in Form eines Gedichtes jüngst verstorbener Dichter, überwiegend fremdsprachiger, aber auch deutschsprachiger. Ausgangspunkt sind unter anderem aktuelle Todesmeldungen in den poetry news. Idee und Konzept: Hans Thill.
(Bisbee / USA 1945 – Paris 2025)
Die Göttin, die diese vergängliche Welt geschaffen hat
Die Göttin, die diese vergängliche Welt geschaffen hat
Sagte, es soll geben Glühbirnen und Verflüssigung
Das Leben strömte auf die Straße, Farben wirbelten herum
Autos & die verschieden beschuhten Füße wurden geboren
Und die Vergangenheit, die Zukunft und ich wurde auch geboren
Leicht wie Luftpostpapier flog sie davon
Zum Annapurna oder Mt. McKinley
Oder beides, aber sofort
Abgeklärt, komponiert, für immer war ich
Von ihr bestimmt zu erkennen ein Gemälde
Als schön oder einen Film als atemberaubend
Zu bewundern die Endlichkeit der Worte
Zu verstehen als flach und meine Träume
Zu kennen das Auge als Organ der Zuneigung
Und die Tiefen als Beugungen ihrer Selbst
An Stimme & Handgelenk & Lächeln
Übersetzt von Hans Thill. Aus: Selected Poems (Talisman House, 1993). © 1993 Alice Notley
»Experiment ist das Markenzeichen von Notleys Poesie; in fast jedem Buch findet sich eine neue Methode oder Idee, mit der sie ihre Stimme kanalisiert.«
Hannah Zeavin
Alice Notley wurde 1945 in Bisbee, Arizona, geboren und studierte in Iowa und an der Columbia University in New York, wo sie Teil der sogenannten Second Generation der New York School war. In ihren Gedichten verbindet sie autobiografische Erfahrungen mit feministischer Perspektive und experimentellen Formen. Zu ihren bekanntesten Werken zählen The Descent of Alette (1996) und Mysteries of Small Houses (1998), das mit dem Los Angeles Times Book Prize ausgezeichnet wurde. Ihr Werk wurde mehrfach prämiert, unter anderem mit dem Griffin Poetry Prize und dem Ruth Lilly Poetry Prize. Alice Notley starb im Mai 2025 im Alter von 79 Jahren in Paris.