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Umkreisungen    25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt

Jürgen Brôcan
Einige Vorsätze
Orte und Ideen: Sie gehören zueinander wie ein Paar, und unter besonders günstigen Bedingungen befruchtet der Ort den Gedanken (denn nicht alle Ideen können jederzeit und überall entstehen). Die Idee zu dieser Antho­logie mit poetolo­gischen Statements (oder weniger pathos­geladen: mit Über­legungen und Beobach­tungen zur Poesie) wurde jedenfalls nicht auf einer Tagung in einer der Weltstädte ins Leben gerufen, nicht als Nachhall einer scharf­züngigen Diskussion, nicht im Rampenlicht medialer Aufmerksamkeit, sondern an einem Holztisch, gedeckt mit weißem Tuch und alt­modischem Kaffee­service, in einer Fenster­nische mit Blick auf die Fachwerkhäuser auf der anderen Straßenseite, im Hintergrund das Geplauder der Bedienungen, und aus dem Raucher­zimmer im Erdgeschoß waberte Zigarettenqualm herauf.

Das Café war uns empfohlen worden. Jan Kuhlbrodt und ich nahmen teil an einem Stipendiatentreffen in Wolfenbüttel. Es ging um den Essay, aber wir schweiften immer wieder in die Lyrik ab. Vielleicht sind die Gattungen gar nicht so weit auseinander, wie man gemeinhin glaubt. „Prosa: Die meine wird immer ›Essays‹ sein, und meine Verse: Beobachtungen“, schrieb Marianne Moore. Sie hätte ebenso gut und zutreffend schreiben können: Meine Gedichte sind Essays.

Die Dichtung befindet sich wieder im Aufwind. Sie hat ihr Eckchen in vielen Feuilletons. Trotzdem, es schreiben viel mehr ausgezeichnete Lyriker und Lyrikerinnen in Deutschland, als Namen in jenen Feuilletons auftauchen. Oder die großen Verlage zu drucken wagen.

Avantgardistisch oder reaktionär – diese Begriffe sind überholt und unangebracht. Wo befindet sich also die Dichtung heute? Es fehlen Standort­bestim­mungen. Paradoxer­weise scheint es zuweilen, das Gedicht drohe im theoretischen Lyrik­diskurs zu verschwinden. Als sei es nichts als Konse­quenz und Abson­derung dieses Diskurses, ein schmäch­tiger Erfül­lungs­gehilfe, dem es an eigenem Leben fehlt. Gegen einen solchen Akade­mismus wollen die Herausgeber dieser Antho­logie das Gedicht belebt sehen durch alles, was uns umgibt. Ein Gedicht, das auf­geladen ist mit Beobach­ter­schaft.

Ein Blick hinüber zu den amerika­nischen Dichtern und ihren zahlreichen Aufsätzen und Büchern zur Poesie zeigt, daß sich sehr wohl auf breitem Raum und mit intel­lektuel­lem Anspruch über Lyrik reden läßt – und zwar erklärend, und zwar über Gedichte, die weder den Bezug zum Publikum noch zur Welt verloren haben.

Das Gedicht ist vor Ort. Es vermißt die Welt und zeigt, wie maßlos und wie unermeßlich sie ist. Das Gedicht ist überall, im Irren­haus, am Kran­ken­bett, auf dem Klo, im Warte­zimmer des Arztes, im Central Park, unter Strom­masten, auf dem Pferde­rücken, in den unter­schied­lichsten Land­schaften.

In welcher Form und mit welchem Sprachgestus auch immer: diese Gedichte affirmieren.

Die Fragen, die sich an das Gedicht stellen lassen, sind endlos. Einige können beantwortet werden, andere sind unbeant­wortbar. Das Gedicht, selbst wenn bis in die letzte Silbe verfugt, bleibt ein offenes Gebilde. Aufschluß­reicher ist es daher, auf das Gedicht zuzu­gehen. Es zu umkreisen. Von verschie­denen Posi­tionen aus zu beobach­ten.

Die vorliegende Anthologie ist eine Sammlung solcher Weg­warten.

Vielleicht – nein: sehr wahrscheinlich – ist die Welt seit Jahren kompli­zierter geworden, hat sich mit dem Zuwachs an vernetztem Wissen auch unsere Wahrnehmung verändert. Darauf kann und soll das Gedicht reagieren, mit scharfen Schnitten und Montagen. Doch letzten Endes greift es auf den alchemistischen Grundbaukasten zurück – : damit Wunder­bares entsteht.

Wir haben um Äußerungen zum Gedicht und zum eigenen Schreiben gebeten. Die Beiträge fächern sich in ihrer Buntheit wie Kalei­doskope auf, sie reichen vom auto­biographischen Bericht über das Werkstatt­protokoll bis zum lyrischen Fragment und zur pole­mischen Abgren­zung.

Natürlich, am Ende ist das Gedicht wichtig, nicht das Schreiben über Gedichte. Aber ein Statement klärt das Gedicht ein paar Schritte weit, nicht selten auch für den Autor selbst. Man entlockt dem Gedicht neue, andere, bislang ungesehene / unbeachtete Aspekte und beweist seine Vielfalt – (entlocken, das heißt auch: entriegeln, mit einem drolli­gen Schlenker übers Englische).


Jürgen Brôcan, im September 2009

Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR

portofrei lieferbar   externer Link
Das Buch im Verlag   externer Link

Kapitel

1   Die Innenseite des Papiers
2   Reste in der Hosentasche
3   Handwerk und Rätsel
4   Wirklichkeitsmorgen

Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker

Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND

In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder

Jürgen Brôcan  08.09.2009   

UMKREISUNGEN

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   Einige Vorsätze
  Einige Vorsätze *
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Ein Gedicht und seine Geschichte
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
wärme (Kapitel: Wirklichkeitsmorgen)
ich denke oft an pieroschka bierofka –
ein sattes grün in kleinen schritten
Luftwurzeln
Hochhäuser bestimmen
Selbstdiagnose
Im Steinbruch
Da Apfl
die stille fällt ins wort
Fragmente einer natur­wissen­schaft­lichen Poetologie
Belladonna
Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
L’ autre monde oder:
Von der Unmöglichkeit
Ins Leere
Mikroklima, Mikroflora, Mikrofauna
Nomaden
Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
oder wie ein Gedicht entsteht
J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit