poeten | loslesen | gegenlesen | kritik | tendenz | news | links | info | verlag | poet |
Theo Breuer
Francisca RicinskiZug ohne RäderDie Wörter, die Wörter
Früh, bereits bevor ich lesen konnte, entdeckte ich in der wortlosen, harschen Welt des elterlichen Bauernhofs die Bücher. Ich bat die jeweiligen Autoren um Asyl zwischen den Buchdeckeln und konnte seitdem nicht mehr von ihnen lassen, und auf diese Weise lernte ich sie lieben, die Wörter. Dichter sind Heimatlose und suchen ein Leben lang nach Wohnung und Nest, in dem sie sich, stundenweise wenigstens, zuhause fühlen dürfen, und auch ich frage mich, ob Ulysses je sein Ithaka verließ oder alles nur Einbildung war. Denn die echten Landschaften sind diejenigen, die wir selber erschaffen. Francisca Ricinski hat un/zweifel/haft das Glück, in zwei Sprachen – die rumänische und deutsche – hineinkriechen zu können, um sich zuhause zu fühlen und hier und dort zu finden, was nicht nur schreibende, Sprache liebende Menschen brauchen. Ich fühle mich schon mit den schönen Auftaktworten Als in diesen oft lyriknahen, klingenden Texten heimisch. Die Autorin, die seit 1980 in Deutschland lebt, hat sich diese mitteleuropäische Sprache mit den vielen zusammengesetzten Wörtern, die ganz anders klingt als ihre Muttersprache, wie in Heimkehr vollkommen anverwandelt: Jahrelang schrieb ich euch Worte, in denen keine Je tiefer ich in das Wortbad eintauche, um so wohler fühle ich mich in den schaumigen Wortgebilden. Immerhin noch jemand im Haus: Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Fernando Pessoa, Marcel Proust, George Tabori und viele andere Menschen sind zu Gast in Francisca Ricinskis fabulösen, luftdurchlässigen Wortnestern, sie hat sie in das warme Wortland (wahrhaftig ein wunder|volles Herzland) hineingewoben, und wir hoffen gemeinsam – bei allem Überfluß der Wörter: Vielleicht kommt Godot, wenn ihn niemand mehr erwartet. Ich schließe die Augen, so kann ich dich hören, Silbe, Klang, Wort, eindringlich quietschender Nachhall, der mir die Lider auseinanderreißt, ich erblicke ein Abschieds/ Tlegramm, das alles bisher Niedergeschriebene sichtbar macht – Flackerbilder auf meiner Netzhaut. Vielfältig sind die (auch hochmodernen) Möglichkeiten der Francisca Ricinski, die Bleistiftspur bemerkbar zu machen. Ich wandle weiter. Heute Nacht fielen wieder Kastanien vor meine Füße. Ich lese den Kurzbrief an die Schmetterlinge. Neue Wörter kommen und bleiben im leeren Nachtzug, diesem Zug ohne Räder Nevermore!: Apfelfleisch, Kauderwelschspruch, Krempelleib, Schmetterlingsstraße, Schrumpfmond, Vogelauge, Wundprotokolle – im letzten Wagen, bevor ich auf die Fähre steige, treffe ich auf die klein und kleiner werdenden Ameiseninseln, die mich Wachgebliebenen hinausstoßen in die löchrige Galaxie dieser inkohärenten Was-sind-das-für-Zeiten. Francisca Ricinskis in leichtem, luftigem, melancholischem Ton an vom Regen verwischte (belebtetote) Adressen geschriebene Briefe mit meiner linken Hand umschließend, hüpfe ich auf einem Bein meinem Schatten.
|
Theo Breuer
Lyrik
Gespräch
Porträt
|
poetenladen | Blumenstraße 25 | 04155 Leipzig | Germany |
virtueller raum für dichtung |