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Theo Breuer

Francisca Ricinski

Zug ohne Räder

Die Wörter, die Wörter
Beim Lesen im Zug ohne Räder

Francisca Ricinski | Zug ohne Räder
Francisca Ricinski
Zug ohne Räder /
Trenul fara roti
lyrische Prosa,
rumänisch und deutsch
Editura Fundatiei Culturale Poezia
Iasi/Rumänien 2008
ISBN 978-973-881139-5-3
Seit 1984 in dem 545 Meter hoch gelegenen Dorf Sistig inmitten des hüglig-waldigen Nationalparks Eifel am Rande der deutsch-belgischen Grenze lebend, frage ich mich auch heute (einsamer nie als im ... Dezember 2008) – so, wie ich immer schon gefragt habe, seit ich Fragen denken und Abgeschiedenheit fühlen kann –, wo wohl meine Heimat sei, mehr noch: ob es überhaupt so etwas geben kann wie Heimat. Ich sehe mich als Knirps inmitten einer um mich herum erbauten Sandburg sitzen und im nichts als blauen Himmel mein Wolken­kuckucks­heim suchend. Vergebens suchen Spatzen und Hasen Spielkameraden in unserem Hof: Ja, sehen sie mich denn nicht?

Früh, bereits bevor ich lesen konnte, ent­deckte ich in der wortlosen, harschen Welt des elterlichen Bauernhofs die Bücher. Ich bat die jeweiligen Autoren um Asyl zwischen den Buchdeckeln und konnte seitdem nicht mehr von ihnen lassen, und auf diese Weise lernte ich sie lieben, die Wörter.

Dichter sind Heimatlose und suchen ein Leben lang nach Wohnung und Nest, in dem sie sich, stundenweise wenigstens, zuhause fühlen dürfen, und auch ich frage mich, ob Ulysses je sein Ithaka verließ oder alles nur Einbildung war. Denn die echten Landschaften sind diejenigen, die wir selber erschaffen. Francisca Ricinski hat un/zweifel/haft das Glück, in zwei Sprachen – die rumänische und deutsche – hineinkriechen zu können, um sich zuhause zu fühlen und hier und dort zu finden, was nicht nur schreibende, Sprache liebende Menschen brauchen. Ich fühle mich schon mit den schönen Auftaktworten Als in diesen oft lyriknahen, klingenden Texten heimisch. Die Autorin, die seit 1980 in Deutschland lebt, hat sich diese mitteleuropäische Sprache mit den vielen zusammengesetzten Wörtern, die ganz anders klingt als ihre Muttersprache, wie in Heimkehr vollkommen anverwandelt:

Jahrelang schrieb ich euch Worte, in denen keine
Samen keimten, und liebte nur das Singen im Meer
und nackt auf den Hügeln zu tanzen, unser Storch
fand nicht mehr sein Nest, Tauben starben an den
Reben.
Der Tag bricht nun auf, der Tag der Heimkehr. Zeit
ohne Uhren und fremde Lüfte, Himmelsweinberge
lasse ich zurück. Armer Gast vor eurer Tür stehe ich.

Ich lese täglich Gedichte und Geschichten. Mir scheint, ich lese literarische Texte, um Luft zu bekommen in einer Welt, die mich immer wieder des Atems beraubt. Wenn ich lese, bin ich auf der Jagd nach Wörtern. Was schlimm ist, Herr Benn? Wenn ich sie nicht aufspüre, die Wörter. Bei Francisca Ricinski lese ich die Wörter, auf die es mir ankommt, zuhauf: Wespe, Jasminblätter, Lindenblütentee und Madeleine-Krümel im ersten, Ungerechtigkeitswut, Windmühlen, Hühnerstall, Olivenhain im zweiten, Kirschblüten, Baumkritzeleien, Stampfwille und Speicheltropf im dritten Text. In diesem Augenblick legt der schiffbrüchige Franzose Mallarmé mir den Arm um die Schulter und murmelt in meine Ohrmuschel: „Na, habe ich zuviel versprochen? Franciscas Text ist aus Wörtern gemacht, n'est ce pas.“

Je tiefer ich in das Wortbad eintauche, um so wohler fühle ich mich in den schaumigen Wortgebilden. Immerhin noch jemand im Haus: Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Fernando Pessoa, Marcel Proust, George Tabori und viele andere Menschen sind zu Gast in Francisca Ricinskis fabulösen, luftdurchlässigen Wortnestern, sie hat sie in das warme Wortland (wahrhaftig ein wunder|volles Herzland) hineingewoben, und wir hoffen gemeinsam – bei allem Überfluß der Wörter: Vielleicht kommt Godot, wenn ihn niemand mehr erwartet.

Ich schließe die Augen, so kann ich dich hören, Silbe, Klang, Wort, eindringlich quietschender Nachhall, der mir die Lider auseinanderreißt, ich erblicke ein Abschieds/ Tlegramm, das alles bisher Niedergeschriebene sichtbar macht – Flackerbilder auf meiner Netzhaut. Vielfältig sind die (auch hochmodernen) Möglichkeiten der Francisca Ricinski, die Bleistiftspur bemerkbar zu machen. Ich wandle weiter. Heute Nacht fielen wieder Kastanien vor meine Füße. Ich lese den Kurzbrief an die Schmetterlinge. Neue Wörter kommen und bleiben im leeren Nachtzug, diesem Zug ohne Räder Nevermore!: Apfelfleisch, Kauderwelschspruch, Krempelleib, Schmet­terlings­straße, Schrumpfmond, Vogelauge, Wundprotokolle – im letzten Wagen, bevor ich auf die Fähre steige, treffe ich auf die klein und kleiner werdenden Ameiseninseln, die mich Wachgebliebenen hinausstoßen in die löchrige Galaxie dieser inkohärenten Was-sind-das-für-Zeiten. Francisca Ricinskis in leichtem, luftigem, melancholischem Ton an vom Regen verwischte (belebtetote) Adressen geschriebene Briefe mit meiner linken Hand umschließend, hüpfe ich auf einem Bein meinem Schatten.
Francisca Ricinski wurde 1943 in Tupilati/Rumänien geboren und studierte Romanistik und Altphilologie an der Universität Bukarest. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin für Französisch und Latein in Konstanza am Schwarzen Meer und siedelte 1980 nach Westdeutschland über. Zahlreiche Einzeltitel (Lyrik, Prosa, Kinderbuch) sowie Theaterstücke. Sie ist Redaktionsmitglied der rumänischen Kulturzeitschriften Poezia und Antiteze, Redakteurin der Literaturzeitschrift Matrix (Ludwigsburg) sowie Mitherausgeberin der Lite­ratur­zeitschrift Dichtungsring (Bonn).

Bestellmöglichkeit des Buches über: poezia95@yahoo.com
Theo Breuer   05.12.2008   

 

 
Theo Breuer
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