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Theo Breuer

»Fetzchen« · It's Mayröcker Time
Wörter, die Lektüre von Friederike Mayröckers Proëmbuch
»études« umkreiselnd

 
Friederike Mayröcker études
 


La poésie doit être faite par tous. Non par un.
Isidore Lucien Ducasse

1 · Gassenbauer

Wir allesamt einsamen Menschen
FM

dieses Vöglein Vögelchen mit der Trompete nämlich im Regen- / schauer des Morgens wehe mein Herz wie Tränen am Fenster Perlen / April usw., trippele durch die Träume, Sufi­stimme Satie, kretische / Steine auf meinem Herzen wie ich erkenne Weide Flüsse und Wälder / damals im Brausen und Hand in Hand, die weiszen Füsze des Kranichs / das Blättchen Entzündung der Rose, die er­röten­de Blume und wie / sie ins Herz ge­lodert bin eingesponnen in Forste Fittiche Finger- / chen, les ich in Friederike Mayröckers Proëmbuch études, und eine aus­geprägt rigoros formu­lierte, vor endlos langer Zeitzeitzeit gelesne Bekundung kata­pul­tiert sich vorlaut ins Hirn: Wir über­schätzen maßlos das Gegenwärtige, das Gefühl der Gegen­wart, das, was da ist. Wir über­schätzen das, steht nämlich, schwarz auf weiß, so daß ich mich also total drauf ver­laß, in Robert Musils Mann ohne Eigen­schaften, und in El­friede Gerstls Essay Vom damaligen Jandl in meinem jetzigen Kopf (der in der 1996 er­schie­nenen 129. Ausgabe von text+kritik abge­druckt ist, die Hans Bender mir an einem Tag im Juli 2012 während eines Besuchs in der Taube­ngasse schenkt) les ich ganz am End, es ist weit nach Mitter­nacht (Fragmentos de mis dias, salvados de mis noches, prolongan mis noches · Antonio Porchia), und die Stunden auch dieses Tages haben sich ebenso fluchtartig, unheimlich aus dem Staub gemacht wie die Stunden an jedem Tag (In solcher Weise ver­ging die Zeit, meint der eigen­schafts­lose Mann …): »was in der Zukunft geschieht, ist immer schon gesche­hen, und geschieht auch jetzt jetzt, denn jetzt ist schon immer Zukunft von allem bisher gewesen, und so geht es immerzu weiter«, spricht Ernst Jandl. Und ich sage, lieber Ernst Jandl, bitte weiter so.

 

Am Nachmittag zuvor darf ich Friederike Mayröckers Brief an Hans Bender vom 2. Oktober 1997 lesen, der mit den Worten Sie noch immer in der Tauben­gasse, ich noch immer in der Zenta­gasse, so vergehen die Jahre anhebt. (The moment we step into the space of memory, we walk into the world : Paul Auster · The Book of Memory) Und an jenem Tag HEUT, an dem ich mich so herr­lich berei­chert und be­seelt fühl von gemein­sam mit Hans Bender und Hans Georg Schwark verbrachten, tief­gehenden, guten Stunden, in denen ich weitre Briefe, von Paul Celan und Jo­han­nes Bobrowski, in Händen halt, Photos von Hans Bender, Thomas Bern­hard, Elfriede Jelinek sehe, denk ich:

 

Lernen, Zeit zu haben (Elisabeth Borchers), fünfzehn Jahr sind seit May­röckers Brief an Bender vergangen, und FM noch immer in der Wiener Zentagasse, HB noch immer in der Kölner Tauben­gasse, ich noch immer in der Sistiger Neugasse, die in der andren ›Wirk­lichkeit‹, die nicht die meine ist (schon gar nicht, wenn ich schreib), Neu­straße heißt. (»Warum denn nicht ›Neugasse‹«, mault Peer Quer, »was doch viel passen­der wär fürs Dorf und so gut in diesen Zu­sammen­hang passen tät.« Wo er recht hat … und das auch noch mit der Text­stell im Rücken, die er aus Der Mann ohne Eigen­schaften heraus­geschrie­ben hat: Und was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag lang das Weltregiment hätten? – Es würde mir wohl nichts übrigbleiben, als die Wirklichkeit abzschaffen.)

 

Und dann, heißt es in Als käme noch jemand, Francisca Ricinskis lyrischem Prosa­buch, verfing sich die Zeit in einer Öffnung des Resonanz­kastens und blieb einen Augen­blick lang stehen, und Bender erzählt von text+kritik-Heraus­geber Heinz Ludwig Arnold, dem Freund, der ihn regel­mäßig in der Tauben­gasse be­suchte, und ich gedenk Ernst Jandls, der von 1925 bis 2000 lebte, Elfriede Gerstls, die von 1932 bis 2009 lebte, Heinz Ludwig Arnolds, der von 1940 bis 2011 lebte, und in der hier von mir ge­schaf­fnen Wortwelt, die mir gerade jetzt wieder soviel wirklicher erscheint als die angeb­lich so w|i|r|k|l|i|c|h|e ›Wirk­lichkeit‹ (Wie wirklich ist die Wirk­lichkeit, fragt Paul Watzlawick), leben sie weiter, Arnold, Gerstl, Jandl: seh sie doch, hör sie doch, les sie doch (Eternity bores me, I never wanted it · Sylvia Plath), und du willst auferstehen lebens­lang, les ich bei Elisabeth Borchers, die von 1926 bis 2013 lebte, und Im Mai muß der Flieder blühn bei Inger Christen­sen, die von 1935 bis 2009 lebte, und Ilse Kilic schreibt im Gedicht Sommer, blüh wieder! (Ilse Kilic schreibt ein Gedicht für Friederike Mayröcker), das sie fürs Atmende Alphabet für FM gemacht hat:

Ich wusste, dass es Friederike gibt, lang bevor ich sie sah.
Freifach Literaturpflege. Danke.
Und dass sie im selben Jahr geboren ist wie meine Mutter.
Ich kenne niemand, die sonst noch in diesem Jahr geboren ist.
Meine Mutter und Friederike.

Das Jahr, das Ilse Kilic meint, ist das Jahr 1924, und ich kenn gleich zwei (mir sogar besonders nahe­stehende) Menschen des­selben Jahr­gangs, denn 1924 ist Mutter geboren, die im September 2003 stirbt und doch bei mir ist wie eh und je, genauso wie Vater, ebenfalls Jahr­gang 1924, der 2006 das ›Zeit­liche‹ segnet. Ist, also, May­röckers lapi­darer Mundsatz Ich bin ja eigent­lich gegen den Tod je so wertvoll wie HEUT gewesen?

 

Paul Auster schreibt: The sky is blue and black and grey and yellow. The sky is not there, and it is red. All this was yesterday. All this was a hundred years ago. The sky is white. It smells of the earth, and it is not there. The sky is white like the earth, and it smells of yester­day. All this was tomorrow. All this was a hundred years from now. The sky is lemon and rose and lavender. The sky is the earth. The sky is white, and it is not there.

 

Mit der Wirklich­keit finden wir uns leicht ab, vielleicht weil wir einsehen, daß nichts wirklich ist, les ich bei Jorge Luis Borges – und bei Musil: Die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende. Ist das so? frag ich und frag weiter, ob ich diesen Satz wohl ›wirk­lich‹ versteh. I don't know – maybe not really. Alles was unbegreifbar ist, hört nicht auf zu sein. (Blaise Pascal) Ja: Es geht um den Wahnwitz der Sprache (FM)

2 · Buchlichtung

Zug um Zug, eine Entgleisung
A. J. Weigoni · Zombies

Alles wandelt sich von einem Augenblick zum andern, jeder Bezug ist ein doppelter und kreuzt ständig vom wirk­lichen zum Unwirk­lichen. (Christine Lavant) Durch welche Asso­ziation wird wohl, just in dem ›Augenblick‹, als ich im Garten zwei präch­tige Saat­krähen beluchs, die unterm rin­digen Berg­ahorn landen (abseits stand mein baum / fern und nah hausten die vögel · Margot Ehrich), gleich­sam von Geister­hand, die synaptische Weichen­zung bewegt, jeden­falls rasen die Gedanken (Die Welt der Literatur ist furcht­bar und obendrein lächerlich · Roberto Bolaño, Tele­fon­gespräche) blitzartig und ungefragt in eine radi­kal andre Buch­richtung, während mir das dem Proëmbuch études voran­gestellte Motto und ich hasse doch, sogar im Roman, das Erzählen so sehr (Jean Paul) moment­lang noch durch den Kopf schwirrt, und ich (kein andrer) les, zum wie­vielten Male?, mit geschloßnen Augen, wieder im roman­haften Mosaik Zombies (das mich nun schon, um es so zu sagen, seit ›Jahr und Tag‹ be­glei­tet), ein mehr als eigen­stimmi­ges, hoch­origi­nelles, radikales, mords­mäßig sau­starkes Schrift­stück, an vier auf­einander fol­genden Aben­den im späten stürmi­schen Oktober; die ab­schlie­ßenden Etap­pen erleb ich (ab 23 Uhr, die Mitternacht zog näher schon, mich nach einer rausch­haften Begeg­nung mit Ardbeg, Bensch, Glenlivet, Knockando, Lagavulin, Macallan und Talisker zu Fuß durch den strömen­den Regen trollend, unend­lich be­schwingt, nach Hause zu­rückg­ekehrt), als Cre­scendo, das den Boden bebe­beben läßt … – – – … aber auch nüch­tern be­trachtet, macht sich auf Anhieb der Ein­druck breit, an einem wuch­tigen, in zumeist im Prä­sens verfaßten, hieb- und stich­festen (dann und wann, um des Rhythmus willen, hypo­taktisch flankierten) Para­taxen, von Allu­sion, Idiosyn­krasie, Ironie, Oxymo­ron, Para­doxon, Para­gramm, Sarkas­mus, Wort­spiel, Zynis­mus – usw. – durch­wirkten Drama in 65 – hete­rogens­te Lebens[t]räume der mittel­euro­päischen Groß­stadt bis in die unzu­gläng­lichsten Mauer­ver­tiefungen aus­leuch­ten­den/aus­räuchern­den, aphoris­mierenden, konter­kari­kieren­den, persi­flie­renden, philo­sophie­renden, ver­gegen­wider­wärti­genden, zise­lie­renden – Erzähl-Akten teil­zuhaben, dessen voll­schrun­dige, im Ab­gang toll­mundige Aus­drucks­weise mich 320 Seiten lang total beGEISTert – – – das ist, denk ich, NEONEUE FACHLICHKEIT, haar­scharf beo­bach­tete, messer­genau reche­rchierte, cool / glatt / profes­sionell sezie­rende ANALYTIC FICTION, in der dieser un­garhei­nische Teufels­kerl A. J. Weigoni mit ballharten Sequen­zen den zwi­schen allem und nichts chan­gie­renden Zeit­geist nach 2000 ein­fängt – Zombies, flaszi­vi­nieren­de, formifable, fulmi­nanris­kante, fam­furi­virtuo­se Formu­verlie­rungen, die mich ans Heute fesseln und die ich immer immer immer lesen will, day and night, ab­solument moderne, denk ich, sitze nur GRAUSAM da. /// Und ›ich‹ – bezie­hungs­weis das, was mich schreibt – verortet sich wort­schröpfend, gern borgend (ver­schmel­zend mit Bensch / Kraus / Peer Quer), im n/irgend­wo – fragil, f·®/a|g›m‹e↔n⌂t@rΔi÷s‼¢×h – zwischen Hinter­land­schlucht und Zentral­straßen­flucht: Wo anders als dort könnt ich, ernst­saftig, buch­fluch­such­stäb­lich … A bis Z … ver­wor­ten … nach (fast) allen Fle­geln der Brunst – laß klingen / verschrotte / rocke / wie dereinst mal im Mai), bes/offen von bunten Tinten und Korn (stieloben), post­wärts, rüdwärts, test­wärts, wortmerz, welt­endlich … feel on the brink of poetry …

3 · Fesselbinde · Spindelpresse · Rindenriß

„ach das Beigesellen des Monds …… Licht-Messen einer Land­schaft ich meine / foto­grafi­sche Träume von Land­schaft ver­gnüg­licher Wirbel = Wind eines / Birn­baums welchen 1 Vögelchen zierte kopierte Waldsaum = „da waren wir / doch schon 1 Mal!“ silberner Falten­wurf eines Himmels, Echo eines immerzu / Geländes …… Schrift oder schritt im Schimmer des Vorfrühlings, schlingernde / Schlinge Wiesenweg's: da bogen wir ein.

FM


Nachdem ich das über die Seiten zweihundert­sechs­und­dreißig und zwei­hundert­äsieben­und­dreißig sich er­stre­ckende May­röcker-Ge­dicht (OpenOffice bietet hier alter.änativ ›Maxiröcke-Gedicht‹ an ...) vom Bei­gesellen des Monds (und einige tau­send Wörter mehr … Anflug · Brücke · Charade · Dröh­nen · Echo · Flut­linie · Ghetto · Härte­grad · Inter­ruption · Jet-Stream · Kabbeln · Lücke · Mär­chen­land · Nessel­rinde · Oster­brief · Propel­ler­ma­schine · Quer­ver­bin­dung · Reifrock · Schön­heits­depres­sion · Trauer­man­tel · Unter­grund­kämp­fer · Vogel · Wie­sen­süd · XII · Yahoo · Ziegel­bau …) in der zwei­hun­derts­ten – viel­hun­dert­sei­tigen – pfun­digen manu­skripte-Ausgabe les, die mir auf wunder­same Weise zufällt (›zufallen‹, ›Zufall‹, ich seh das Leben als einen in erster Linie zufalls­bestimm­ten, immer­fort­endlos ge­steppten, mit hundert Was­sern gewas­chnen, der Zeit davon­flie­gen­den Fli­cken­teppich, in dessen viel­leicht leben­digstes, schöns­tes Füll­stück die Wörter ›to · fall · in · love‹, was für ein ZUFALL, vier­klee­blatt­artig eingestickt sind … oh, oh, oh, verlier mich, bieg wieder ein), syn­chron Sergej Rach­maninows Sin­fonie Nummer 2 sowie Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps hörend, schreib ich, im Sep­tember, an drei auf­einander folgenden Tagen ein Gedicht und

durch eine Spalte in der Stallwand erblickte ich alles
(Oswald Egger)

und es glänzt die wilde Welt
(FM)

momentane aufschlitzung […]

manchmal : morgenmeer – manchmal : musenmund – manchmal : mutminsch – manchmal : muschelmörtelmauer ––– manchmal : matra­tzen­mitmaid : manchmal ahnen – allüberall – atmende alpen­tal­amsel­augen alte akkordeo­nspieler am angstab­hang … aber nun natürlich : neugier ☞ nicht ›nacht‹ nicht ›name‹ nicht ›natur‹ – nicht : ›nichts‹ ––– ungeachtet ungeheurer urzeit : unscharfe unruh um unweite ufer unken unterwürfige und … summ summ segeln silber­fischchen summ süßsalzberg summ substan­ziellen som­mer­sprossen­garten … summ-klänge : kein kummer­sieb könnte knarzen | katzen­kopf­kalkül | krokus · kranker · kuckuck kuckuck (kind­konzept­gedanke) ––– replay (raumrest richten) : riesen robinien rauschen ruckweise rollen räder · rettung : rachmaninow · irgendein imperativ­intermez­zo → ich immer ihr immanuel | ich ist installiert in ihrer privat­paraphrase (((präludium? … platz­programm?))) : plastik­pyjama­höschen · plitsch­platsch­nächte ↔ plötz­lich poren papier­patronen – – – tadel­los trüber ter­rassen­treppen­traum : tränend text – TÄUBCHENTURM · TINGELTANGEL · TALGLICHT · TRÜGERISCHE TODESTRAUER – tippentippentippentippen endlich einfache episode (effizienz­exkurs) : erdendlager eröffnet – elende e-mission · ermüdet – – – erlebnisscheuer … enterich

für karl von kobenz am 17./18./19.09.2013

4 · Niederschlag

Dieses Buch will
nur ein winziges Stück
meines inneren Lebens sein.
Jacques Derrida

»Ich les Friederike Mayröckers Fußnoten­buch ich bin in der Anstalt«, schreib ich in einem Monat August, während es draußen so elysäisch regnet. Die wenigsten Menschen, die ich kenn, mögen Regen. How about you? Bringt denn Regen keinen Segen? (Wie Mutter bei jedemjedem Regen meinte.) Ich jeden­falls liebe Regen, fühl mich Regen hautnah ver­bunden, geh gern direkt in Regen hinein (bin dann minuten­lang ver­schwunden), auch mitten in der Nacht (mit Negelken besteeken), blick ins Gewitter (Leni beim Blitzen · Marcel Beyer), in den Himmel, funkelnder Feuer­ball grellt auf, unmittelbar über mir, wie ich ihn noch nie gesehn, Donner (kopfalarm · Thomas Kling) reißt die Füße unterm Körper weg, manoeuvres of a most extra­ordinary kind were going on in the vast firma­mental hollows overhead (Thomas Hardy · Far From the Madding Crowd), ich renne · rette · flücht um die Hauseck in den Gedanken Ich habe den Regen sehr gern, leider regnet es in Wien viel zu selten, den Friederike Mayröcker in einem Gespräch mit Paul Jandl äußert, und bin, TOTAL, g·l·ü·c·k·l·i·c·h, voll­kommen nackt in diesem Wörter­meer zu schwimmen, in die Wörter einzu­tauchen, mal mit weit aufgerißnen, mal mit fest verschloßnen Augen, die Mayröcker­wort­kaskaden kribbeln, bitzeln, prickeln: Wenn ich nicht verbrenne beim Schrei­ben eines Gedichtes, ist es kein gutes Gedicht und wird den Leser kalt­lassen. So laß ich mich treiben, hierhin, dorthin, Perlen­schnüre der Tränen, weg­tragen von Wellen, wasser­klar strömen Wörter über mich hinweg, durch mich hindurch, in mich hinein: und es tobte in mir aber ich konnte es nicht unterdrücken und mein Herz wallte und mein Blut­druck war in die Höhe ge­schnellt und meine Hand zitterte dasz ich meine Notizen nicht mehr entziffern konnte, und die Finger­spitzen in der Butterdose und der Suppen­löffel im Honigglas, und die Walze des Kopierapparates griff nicht mehr nach dem einge­legten Papier und die letzten Mai Tage waren kalt und es war 1 kalte Sonne und 1 wütender Wind und 1 Übelkeit hatte mich befallen


5 · Sehheld

Language seems to me intrinsically comic – noises of the tongue, lips, larynx, and palate rendered in ink on paper with the deepest and airiest thoughts in mind and the harshest and tenderest feelings at heart.

Roy Blount Jr.


Das Proëmbuch étudesmit Schneeflocken in den Augen bin ich nach Hause gefahren – an die Spitz der List setzend (Who can ever say the perfect thing to the poet about his poetry? And not too much or not too little, just enough · Alice Munro), laß ich, wie jedes Mal, wenn ich einen Titel hinzufüg, die Lektüre der Bücher Friederike Mayröckers, die ich im Laufe der Zeit (die laut Shakespeare aus den Fugen ist) gelesen hab, den ersten Satz von Gustav Mahlers G-dur-Sinfonie im Vollrauschohr, Revue passieren, naturgemäß, wie jedes Mal, wie immer die Eisenbahnfahrt von Köln nach Kall im Jahre 1991 lebhaft erinnernd, die Dinge anschauend, die Welt anschauend, das Leben anschauend, als ich Winterglück erstmals les … les … les … in études (2013): der kl.Hund und rasend das Gebüsch ich bin UMBUSCHT … / … die errötende Blume : mein Geschwisterchen Sprache am Morgen … / … das Zucken der Lider Liebster der Vögelchen offene / Schnäbel Schädel morgen wie's mundet, schnäbelnd um einen / blühenden Ast … les in ich sitze nur GRAUSAM da (2012): so verfilzt in den träumen, kurz vor dem Erwachen am frühen Morgen träumte ich eine von Gänseblümchen getupfte Wiese … les in Von den Umarmungen (2012): die Huflattichbüsche Huflattichbäume wild-stumpf verwachsenen / Augenbälle unter dem Balkonfenster in Bad Ischl leuchtend vom / Auge Gottes wo ich weine wo die Tränenfluten eines gläsernen / Flusses nämlich die zarten Wellen und Wolken der Traum usw. … les in vom Umhalsen der Sperlingswand, 1 Schumannwahnsinn (2011): das Lorbeerbäumchen spricht zu mir sehr leise man hört es kaum es drückt / sich grün in die Ecke des Zimmers oh sagte ich wie schön du bist … les in ich bin in der Anstalt · Fusznoten zu einem ungeschriebenen Werk (2010): hatte ich mich nicht immer selbst betrogen? … les in dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif · Gedichte 2004 – 2009 (2009): die alten Nuszbäume in der Nuszberg­gasse das fiel mir ein in / der Frühe an jenem Augusttag … les in Scardanelli (2009): während der Fliederbusch wehte, während die Füsze der Amsel sind / abgefallen, während der Freund einen Feigenbaum gepflanzt, während / der Lerche Lied zu den Blumen flüchtet so immer mein Herz, Scardanelli … les in Das zärtliche Sakrament der Sehnsucht (2009): plötzlich der stille Ruf … les in Paloma (2008): heute halb sechs zu schrei­ben begonnen … les in Letzte Dinge (2008): Ich schwanke einfach nur sehr … les in Magische Blätter VI (2007): Da ist so 1 kleine Dissonanz Dif­ferenz … les in Liebes­gedichte (2006): mit seiner groszen linken Hand / bedeckt er meine grosze rechte Hand … les in Und ich schüttelte einen Liebling (2005): meine Nerven waren sehr aufgeregt, und Gertrude Stein sagt, in dem Gesicht stand, dasz er, wenn er ein Stück Wiese angeschaut hatte, es immer ein Stück Wiese für ihn gewesen wäre … les in Gesammelte Gedichte · 1939 – 2003 (2004): und die Schrift bei zerflieszender Tinte auf meinen / Händen … les in Die kommunizierenden Gefäße (2003): ach wohlgefälliges Chaos … les in Mein Arbeitstirol · Gedichte 1996 – 2001 (2003): ach die Stunde die Staude STAUDE in meinem Kopf … les in Requiem für Ernst Jandl (2001): Mich hineinweinen ins ungefegte Nachtgewand, wilde Tröstung, mich in seine Nahtwäsche zu verweinen, auf seinem Bett, usw. … les in Magische Blätter I – V (2001): Wien ist eine Schreibstadt. Hier kann man verrückt werden … les in brütt oder Die seuf­zenden Gärten (1998): ach Joseph, schreibe ich an Joseph, jetzt lese ich schon 4 x 12 Stunden deinen Brief, und obwohl ich ihn gelesen habe in allen Variationen nämlich in allen Laut und Leise Variationen, und Schrei Varia­tionen und überhaupt sämtlich schon installiert, laut leise schreiend stumm usw., ohnehin habe ich ihn gelesen und empfinde dennoch ich habe ihn nicht gelesen, lese ihn abermals, Wort für Wort, Satz für Satz … les in das zu Sehende, das zu Hörende (1997): fast möchte ich sagen im Augenblick ist die Welt mir erschütternd … les in Notizen auf einem Kamel · Gedichte 1991 – 1996 (1996): SPRACHGEIGE / SPRACHHERZ, ich schreibe … les in Das besessene Alter · Gedichte 1986 – 1991 (1992): mein Blick schweift über das leise bewegte Kleefeld / darin die Mohn­blumen schwellen … les in Stilleben (1991): Dann wimpelte in meiner Brust, in meinem Kopf hallu­zinato­rischer Slang, oder was, brillantes Wunder, als hätte mir einer das glühendste Morgenrot an meinen Horizont herüber­gepinselt … les in Zittergaul (1989): oh! Vögelchen mein Frühlingskind … les in mein Herz, mein Zimmer, mein Name (1988): durch einen Lidspalt dringt trübes Morgenlicht in meinen Schädel, nachts war Regen, Gewitter … les in Die Abschiede (1987): Sie ließen mich mitten im Wort zurück … les in Blauer Streusand (1987): ich hänge an dieser Stadt, wie ich hänge an dieser Stadt, warum hänge ich an dieser Stadt … les in Winterglück · Gedichte 1981 – 1985 (1986): da fliegt mir / das Auge davon … les in Das Jahr Schnee · Eine Auswahl (1985): heute gewaltige Angriffe … les in Das Herz­zer­reißende der Dinge (1985): ich suche ein Buch, aber ich finde das Buch nicht … les in Reise durch die Nacht (1984): Man zeigte mir die Zähne, gewaltig! … les in Magische Blätter (1983): wir bewegen uns sitzend fort, in meinem Kopf rasseln mehrere Gespräche mit ihm gleich­zeitig ab, wie bei eingebrochenen Leitungen … les in Fast ein Frühling des Markus M. (1976): Verminderungen widerkehrende Verminderungen, in Wirbeln stehende Blickblüten von einem Glanz umgeben – Fiktion einer Wiederbegegnung mit Ihnen? … les in Das Licht in der Landschaft (1975): es sei ein Versinken in tiefes Ruhen wo keine Angst mehr ist … les In langsamen Blitzen (1974): Drauszen die Fichte die graue Tanne die Regenföhre / und das Gespräch in der Gasthauslaube / so nach Bier duftend … les in Blaue Erleuchtungen · Erste Gedichte (1973): und die wippenden / Winde klirren Kränze ins / Gras … les in Fantom Fan (1971): flog wolkwärts, östlang, querschweiz, krapplack, vom umbrischen ins doppelspindel vom halbgelb ins trans vom feuergrau ins dunkel, ein Glückszeichen an jenem Tag über dem Kanal … les in Minimonsters Traumlexikon (1968): unverzüglich im Verlaufe von während bis ans Ende hin (die zeit) anbinden fesseln kerkern haften nötigen zwingen hindern hemmen ihr einen Fusz & mehr stellen ……… and: ………. The more written the more seems to remain to be written, and the night cometh (Thomas Hardy) …


6 · Scheibenspähers Lieblingsspeise

Im November Sternenschauer
fegen die Äste von den Bäumen
Kann da noch etwas
geheimnisten
im Eschenherz
Gabriele Frings

›A Pair of Blue Eyes‹ habe ich vor einigen Jahren gelesen, und ich fand es ebenfalls atemberaubend, les ich in Ludwig Stein­herrs E-Mail und seh eben das Eich­hörnchen im Oktober­garten (und drei zitronen­gelbe Blüten in der Nachtkerze), die Lüfte wehen, wie es von der Blumenesche zum Walnußbaum flitzt/huscht, an der äußers­ten Spitze des feinsten Zweig­leins klebt, die Nuß im Mäulchen usw., und ich denk, das kleine Tierlein macht den großen Unterschied in diesem A·u·g·e·n·b·l·i·c·k, und ich denk – – – Friederike Mayröckers offne études in Händen haltend: ich schreibe Proëme, Stunden später im LAROUSSE blätternd und lesend:

Francis Ponge invente le «proème» (Proêmes, 1948), mot forgé par contamination de PRO(se) et de (po)ÈME, mais qui reprend en réalité à la poésie grecque le terme de prooimon («ce qui vient avant le chant» : oimè), qui désigne le prélude des joueurs de lyre. Le proème est donc un texte de préparation, mais Ponge lui donne une véritable auto­nomie : s'il précède le poème, c'est qu'il énonce en tant que «fragment méta-technique» ses conditions d'apparition. Le proème transcende à la fois le poème et la prose, la prose poétique et le poème en prose, pour devenir un texte et un genre qui se placent au-delà de toute catégorie comme d'autres créations ou réactivations de Ponge, le momon (texte qui inclut sa propre critique) et le sapate (texte insignifiant en apparence, mais qui contient une «leçon» capitale) –, – –

denk also an die Lektüre der wie stets so schnell vergangnen letzten Tage: Die Tage schaukelten und bildeten Wochen (Robert Musil · Der Mann ohne Eigenschaften), und heut ist ein neuer Tag, was mag er bringen … (Vitam continet una dies · Samuel Johnson), denk an Thomas Hardys A Pair of Blue Eyes : A white border to a black sea – his funeral pall and its edging und Far From the Madding Crowd : H. appeared in a drab kerseymere great-coat, buttoned over his smock-frock, an Ludwig Steinherrs Flüstergalerie : Dein rasender Geist schrie lautlos / wie Sylvia Plath unter der Glasglocke –, an Guiseppe Tomasi di Lampedusas Leopard : Die Straßen waren nichts als unbestimmte Spuren, holperig vor lauter Löchern und dick voll Staub, und, zack, fällt Leopardenhaut mir zu, nämlich in études, auf Seite 101, an Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse : Es ist eigentlich eine böse Zeit! Das Lachen ist teuer geworden in der Welt, Stirnrunzeln und Seufzen gar wohlfeil und les in Friederike Mayröckers Etüden auf Seite 30 : und plötzlich hat man erkannt des Freundes Alphabet. —

 

Ich nehm Raabes Chronik noch einmal zur Hand und find die Stell auf Anhieb:

Ich hab's mir wohl gedacht, als ich diese Bogen falzte, und ich hab's auch wohl mit aufgeschrieben, daß ihr Inhalt nicht viel Zusammenhang haben würde. Ich weile in der Minute und springe über Jahre fort; ich male Bilder und bringe keine Handlung: ich breche ab, ohne den alten Ton ausklingen zu lassen: ich will nicht lehren, sondern ich will vergessen, ich – schreibe keinen Roman!
Heute werfe ich zum erstenmal einen Blick zurück und muß selber lächeln. Alter Kopf, was machst du? Was werden die vernünftigen Leute sagen, wenn diese Blätter einmal das Unglück haben sollten, hinauszugeraten unter sie?
Doch – einerlei! Laß sie sprechen, was sie wollen: ich segne doch die Stunde, wo ich den Entschluß fasste, diese Blätter zu bekritzeln, mit einem Fuß in der Gegenwart und Wirklichkeit, mit dem andern im Traum und in der Vergangenheit! – Wieviel trübe, einsame Stunden sind mir dadurch nicht vorübergeschlüpft sonnig und hell, ein Bild das andere nachziehend, dieses festgehalten, jenes entgleitend: ein buntes, freundliches Wechselspiel! So schreibe ich weiter.

»Was guckst du denn wie ein müdes Schaf?« fragt das Kind Anna die junge Mutter, auch nach Jahrzehnten flattert die Frage immer noch, weißfledermäusig, durch den Raum, und im selben Moment, als ich die acht Wörter feixend vor mich hin flüstre, schlägt das Telefon auf möbelverrückende Weis Alarm, und, klar, es ist Anna, die nach der Bedeutung des englischen Worts ›shamrock‹ fragt, one o'clock, two o'clock, three o'clock, rock, und fragen alle was liest du zur Zeit usw. […] alles nur Bricolage (FM).


7 · Feiner Schnee

Fetzchen vom Himmel
FM · études

Du liebes Kind, SHAMROCK, vom irischen ›seamróg‹ (›kleiner Klee‹) abgeleitet, ist ein drei­blätt­riges Exemplar vom Weißklee oder Fadenklee. Oh, by the way (Die Künste nämlich, die zer­plit­terten · FM): Frisch weht der Wind / Der Heimat zu / Mein Irisch Kind, / Wo weilest du? (T. S. Eliot · The Waste Land) Und les in FMs Übung vom 12.2.12: ach kleines Mäd­chen Schnee, usw. […] Nerven­schnee […] das tolle Angelesene. Am 10.2. indes heißt es: ich machte mir vor dasz ich läse aber hatte es nur ge­träumt nämlich mit bloszen Füßen über Schnee­rosen Ge­fild so kaltes Ge­löb­nis, zwei Blätter vor: alles Be­rech­nung alles Bricolage : habe keine poet.Ethik – und, schließ­lich, vier zurück:

Gruszbotschaft, etwa:
Ich meine bin Konstruktivistin bin Simulantin, habe 1 Tränen Tännchen daheim ob­wohl CHRISTMAS vor­über. Söhnchen ver­senkte eins meiner Kraus­haare ver­senkte mein Kraus­haar in seine Hosen­tasche, Amsel an meiner Seite hatte Träne im Aug und Pelz, blickte zur Seite : welch poe­tische Idee usw., habe dann wieder »Abend­empfin­dung an Laura« gespielt, ach ihr seid wie 1 offe­nes Buch, bin hinge­rissen in eurer Mitte

22.1.12


8 · Auskalten

Immer mehr fliegt die Seele : stehe ich nachts am Fenster frierend in Tränenschleier gehüllt, zum vollen Mond = spüre ich wie ich mich erhebe zum vollen Mond : über die Weite der Landschaft breitet sich sein Glanz usw., so wird meine Seele fliegen in meiner Todesstunde zum vollen Mond und spüre sein kaltes Gewand in das ich frierend gehüllt während mein Liebster taumelnd in seinen Träumen: »bist Ziergarten bist Blume in meinem Ziergarten bist Zephir bist Gras Schrift bist leichten Herzens«

FM · études


Dieser Tage habe ich erblickt, gefühlt & verstanden, / daß in meinem Schreib-Ich das Kind-Ich, / die Eifeler Ich-Person mispricht. // Sie ist noch da, ich habe sie er­blickt: / kenntlich an Augen und Stirn. (Elke Erb) Also: Mayröcker­wör­ter hin, Raabe­wörter her (dazwi­schen Jan Skud­lareks Wörter herbst wie hornissen im hirn) — zwei dia­lektale Kind­heits­wörter gehn mir, wie seit Tagen, auch jetzt nicht aus dem Kopf, klingeln in den Ohren, leuchten weither wie die Martins­feuer auf dem Bür­venicher Berg der 1960er Jahre –: ›vehuse‹ und ›Knühles‹. / Das Verb ›vehuse‹ (mit weich arti­kulier­tem ›v‹), offen­bar abge­lei­tet von ›ver­hausen‹, das, je nach Land­strich bzw. Epoche, ›durch schlech­tes Haus­halten auf­brauchen‹ oder ›nicht gut haus­halten‹ oder ›durch­bringen‹ oder ›vertun‹ oder ›ver­derben‹ oder ›zugrunde richten‹ und andres mehr (alles ist ver­haust, wann einer nicht hat geler­net Christum den hei­land erkennen · Samuel von Butschky) bedeuten kann, wird im rheini­schen Bürvenich (wie Elke Erbs Scher­bach zur soge­nannten ›Voreifel‹ gehörig – Zwischen­frage: Gibt's ana­log auch Gegenden, die ›Vorhunsrück‹ oder ›Vor­taunus‹ genannt werden?) ver­wendet, wenn mir etwas, schuldhaft!, abhan­den gekommen ist. Wehe, ein wichti­ger Gegen­stand in Garage oder Scheun, im Wohnzimmer oder auf dem Speicher (wohin ich mich schon als Dreijähriger vorzugs­weis verkriech, mich in alte Bücher ein­grab, Zettel bekritzle) war nicht auf­find­bar, ich hör noch heut den Vor­wurf: »Du häs et bestemp vehus« … O, gab das knitter­böse Blicke … /// ›Knühles‹ bedeutet soviel wie ›Mies­macher‹ oder ›Trauer­kloß‹ – im Englischen wird diese Art Mensch ›wet blanket‹ genannt, ›nasse Wolldecke‹? Also bitte! Obwohl, ein ›Knühles‹ hat viel­leicht nichts Beßres verdient … /// ›Zu guter Letzt‹ noch dies (stets einge­denk der Worte des ›Mannes ohne Eigen­schaften‹: Es könnte ebenso­gut anders sein): Friederike May­röcker beschließt das études-Gedicht von Pfingstmontag 2011 mit vier ein­zwei­drei­silbigen Wörtern: bin nicht gesel­lig, Ende

Zuerst erschienen in manuskripte

Theo Breuer    18.05.2014   

 

 
Theo Breuer
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