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August 2014
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Zeitschriftenlese  –  August 2014
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


Die Hauptstadt der Weltliteratur ist Sankt Peters­burg, die russische Metro­pole an den Ufern der Newa. So er­zählen es uns die moder­nen Lite­ratur­geschich­ten – und so hat es nun der polnische Schrift­steller Tomasz Rózycki in der aktuel­len Ausgabe, dem Heft 4/2014 der Lite­ratur­zeit­schrift „Sinn und Form“ wieder­holt. „Die rus­sische Lite­ratur begann mit dem Ent­stehen Peters­burgs“, wird hier Joseph Brodsky zitiert. Eine nicht un­we­sent­liche geo­grafi­sche Kor­rektur dieser These hat nun der Dichter, Slawist und Über­setzer Felix Philipp Ingold in einem Aufsatz für die „Neue Zürcher Zeitung“ präsen­tiert. Die russische Avant­garde, so kann Ingold belegen, war in wesent­lichen Teilen eine ukraini­sche Er­fin­dung – sie formierte sich in Kiew, Charkow und Odessa, um von dort aus die russischen Metro­polen Moskau und Sankt Peters­burg zu erobern. Und wenn nun Moskau große Teile der östlichen Ukraine als angeblich in der kultu­rellen Substanz russisches Terrain für sich bean­spruche, dann sei dies eine Ver­dre­hung geschicht­li­cher Fak­ten. Denn das mosko­witische Reich sei nicht die Wiege der ukraini­schen Kultur gewesen, viel­mehr liege umge­kehrt der kultu­relle Ur­sprung des rus­sischen Impe­riums in Kiew.
  Im Blick auf den immer weiter eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat sich nun die aktuelle Nummer 83 der Lite­ratu­rzeit­schrift „Schreib­heft“ den lite­rari­schen Strö­mungs­linien und Reso­nanzen zwischen diesen Ländern gewidmet. In einer faszinierenden Reise­erzäh­lung führt uns die Schrift­stel­lerin Esther Kinsky auf jenes mythische Terrain, auf dem einst Goethe sein Drama um Iphigenie, die Tochter des antiken Heer­führers Aga­memnon, ange­siedelt hat: auf die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer, die mit der antiken Land­schaft „Tauris“ iden­tisch ist. Kinsky trat ihre Reise im Oktober 2013 an, kurz vor dem Aus­bruch des russisch-ukraini­schen Konflikts, der zur fakti­schen Annek­tierung der Krim durch Russland führte. Das von der rus­sischen Poesie um­schwärmte „blaue Land“, in dem auch Ossip Mandel­stam und Marina Zwetajewa längere Zeit zu Gast waren, erscheint in Kinskys Erzäh­lung als eine Reste­land­schaft voller Beton­trümmer, ein graues Beton-Eldo­rado, das mehr von streu­nenden Katzen und Hun­den bewohnt wird als von Menschen. In der Nach­saison sind Bade­orte wie Kur­ortne, Feodosia oder Koktebel menschen­leer. Das als „blaue Stadt am blauen Meer“ besun­gene Koktebel ent­puppt sich als ausge­storbene Land­schaft von karger Felsig­keit in unm­ittel­barer Nach­bar­schaft zur Steppe. Der ukraini­sche Dichter und Musi­ker Sherjij Zhadan liefert im „Schreib­heft“ zu dieser Beschrei­bung die pas­sende fatalis­ti­sche Be­gleit­musik. In seinem Lang­gedicht „Big Gangsta Party“ von 2007 spricht er schon von einer „ange­spannten / krimi­nogenen Situation“ in der ost­ukraini­schen Indu­strie­stadt Charkiw, einer trost­losen Ge­menge­lage aus Kor­ruption und Banden­krimi­na­lität, die vom perma­nenten Bürger­krieg nicht weit ent­fernt ist.
  Eine offene Landschaft der russischen Poesie und Ästhetik, bevöl­kert von nonkon­formis­ti­schen Geistern, zeigen uns dagegen Oleg Jurjew und Olga Marty­nova, die in Frank­furt lebenden Dichter und Vermittler zwischen der russi­schen und der deut­schen Literatur. Sie haben ein lehrreiches Dossier über die „geheime Revo­lution“ der „inof­fiziellen Lite­ratur“ in Lenin­grad zwischen 1960 und 1980 zu­sammen­ge­stellt. Dieses lite­ra­rische „Paral­lel­uni­versum“, das sich wie in anderen ost­euro­päischen Ländern zunächst in Privat­wohnungen konsti­tuierte, hatte seinen eigent­lichen Grün­dungs­akt im Jahr 1975, bei einer Konfe­renz zum fünften Todestag von Leonid Aronson, des – wie Oleg Jurjew schreibt – „ge­heimnis­vollen Dichters der Stille“ und großen Rivalen von Joseph Brodsky. Im Zentrum des „Schreib­heft“-Dossiers steht die Erzählung „Sommertag“ des früh ver­storbenen Schrift­stel­lers Oleg Grigorjew, ein ver­stören­der, aus der Kinder­per­spekti­ve erzählter Text über einen Tag in einem Kinder-Ferien­lager in der Nähe von Lenin­grad. Oleg Jurjew stellt das Meister­werk Grigorjews an die Seite von Alexander Solsche­nizyns be­rühmter Erzäh­lung „Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch“, des lite­rarischen Elemen­tar­textes über den Archipel Gulag. Als sich in der späten Sowjetunion im Zuge der Perestroika die kultur­poli­tische Paranoia auflöste, zerfiel auch die unab­hängige Lite­ratur­gemeinde in Lenin­grad – eine neue, von Rück­fällen ins Reaktionäre bedrohte Ära der Offen­heit begann.
  Was von den Verheißungen von Gorbatoschows Perestroika übrig geblieben ist, dokumentiert nun ein grimmiger Essay in der aktuel­len August-Ausgabe des „Mer­kur“. Wolfgang Kemp hat hier den neuen Phänotyp des russischen und ukraini­schen Macht­menschen porträtiert: den Oli­garchen. Im Russland der neunziger Jahre, als man die Unter­nehmen in Staats­eigentum auf aben­teuer­liche Weise priva­tisierte, erwarben die Oligarchen als die neuen Glücks­ritter riesige Roh­stoff-Impe­rien im Durch­schnitt für ein Zwei­hundertstel ihres realen Wertes. Dieser räuberische Zugriff gelang natürlich nur durch die Komplizenschaft mit der Politik, die für die not­wen­digen Rahmen­bedin­gungen und für den unkomplizierten Zugriff auf Staats­eigentum sorgte. „Woran erkennt man den Oli­garchen?“ fragt nun Kemp in seinem „Merkur“-Essay und liefert in seiner Antwort eine kleine Soziologie des Macht­menschen. Denn der Oligarch besitzt nicht nur ein sünd­haft teures Pent­house in London und eine extra­vagante Geliebte, sondern auch – als das Maß aller Omni­potenz-Dinge – eine pompöse Jacht, für die er einen Millionen­betrag in zwei­stelliger Höhe bezahlt hat. Und auf dieser Ebene der materiellen Potenzphantasie sehen sich die ukraini­schen Stahl­magnaten und die rus­sischen Öl- und Medien-Tycoons ziem­lich ähnlich. Ihr zu­sammen­geraff­tes Vermögen depo­nieren die Oligarchen meist in soge­nannten Off­shore-Firmen, die dann auf weit ent­fernten Insel­welten ange­sie­delt sind – die wiederum bevor­zugt von den Super­reichen in ihren Jachten ange­steuert werden. Wen wundert es da noch, dass Wiktor Januko­witsch, der Ex-Staats­präsident der Ukraine, nachdem er während seiner Amts­zeit etwas dreißig Milliarden Dollar aus dem Staats­haus­halt für seinen Familien­clan abgezweigt hatte, nach dem Umsturz in Kiew mit seiner Luxus­jacht aufs Schwar­ze Meer floh und schließ­lich nach Sewasto­pol auf die Krim?

Sinn und Form, H. 4/2014.  externer Link
Redaktion, Postfach 21 02 50, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro.

Schreibheft 83 (2014)  externer Link
Rigodon Verlag, Nieberdingstr. 18, 45147 Essen. 184 Seiten, 13 Euro.

Merkur, H. 8/2014  externer Link
Klett-Cotta Verlag, Redaktion: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin. 96 Seiten, 12 Euro.

 

 
Michael Braun
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