August 2010
Von Karl Kraus stammt die schöne Maxime: „Künstler sollten Rätsel schaffen, nicht Lösungen.” Solche Appelle an den ästhetischen Eigensinn der Kunstwerke sind bis heute unpopulär. Denn noch immer dominiert beim Publikum ein Verlangen nach Sinngebung durch Klarheit, nach Lösung und Er-lösung durch die transzendenten Energien von Büchern und Bildern. Die Produktion von „Rätseln” hat man nach wie vor an die Avantgarde delegiert, an ihre schwer entzifferbaren Zeichen.
Der saarländische Schriftsteller und Musiker Alfred Gulden hat kürzlich in einem Essay für das Mai-Heft der Kulturzeitschrift „ Merkur” über eins der skandalösesten Rätsel der jüngeren Kunstgeschichte berichtet. Gulden rekonstruiert die Entstehungsgeschichte und einzelne Aktionen des sogenannten „Orgien-Mysterien-Theaters”, das der Wiener Aktionskünstler Hermann Nitsch seit 1970 in stets skandalumwitterten Inszenierungen entwickelte. An diesen pompösen Aktionen, einem meist auf blasphemischen Schockstrategien basierenden Szenario aus rituellen Kreuzigungen, blutigen Tierkadavern und frenetischer Musikbegleitung durch ein Lärmorchester, war Gulden selbst als Regisseur beteiligt. Sein „ Merkur”-Essay zitiert voller Respekt die ideologischen Selbstdeutungen von Hermann Nitsch, der an die dionysische Wirkung seiner theatralischen Aktionen, an die Befreiung der Sinne im Rausch der Mysterien glaubte. In der üblichen Unbescheidenheit des avantgardistischen Künstlers stilisierte er sein blutiges Mysterienspiel zum planetarischen Event: „Ich will das schönste fest der menschheit entwerfen”, so Nitsch, „das keinen anderen vorwand als das leben selbst hat.” Und jedes Mal erzielte der Künstler mit diesem Menschheits-Fest die absehbaren Wirkungen. Die Behörden riefen nach der Polizei, die dann die nackten Theater-Akteure vor dem wütenden Protest von Tierschützern, religiösen Fundamentalisten und anderweitig Empörten schützen musste.
Die künstlerische Avantgarde, so legt dieser „ Merkur”-Essay nahe, produziert nicht nur Rätsel, sondern auch Exzesse. Die Geburtsstunde von künstlerischer Exzentrik und ästhetischem Exzess fand indes im Frühjahr 1916 in einem kleinen Kabarett in Zürich statt, das von hungernden Emigranten gegründet wurde. Der vor dem deutschen Militarismus nach Zürich emigrierte Dichter Hugo Ball und seine spätere Frau Emmy Hennings agierten hier, im „Cabaret Voltaire”, als die literarischen Schlüsselfiguren des Dadaismus. In einem phantastischen Kostüm aus Pappe trug dort der aus dem pfälzischen Pirmasens stammende Ball im Juni 1917 als selbsternannter „magischer Bischof” die berühmten „Lautgedichte” vor, Gedichte aus rätselhaften Buchstabenkombinationen, die eine eigene Klangmagie entfalteten. Über die künstlerischen Rätsel, die der Dichter seinem Publikum und auch seinen Freunden aufgab, informiert die aktuelle Ausgabe des „ Hugo-Ball-Almanachs”, der seit 1977 in regelmäßiger Folge erscheint und nun in der Edition Text + Kritik ein neues Verlagshaus gefunden hat. Der Literaturwissenschaftler Hans Dieter Zimmermann, Mitherausgeber der Hugo Ball-Werkausgabe im Wallstein Verlag, erhellt hier beispielsweise eine verblüffende geistige Wahlverwandtschaft zwischen Hugo Ball und dem tschechischen Philosophen Tomas Masaryk, der europäische Geschichte schrieb, indem er 1918 die demokratische Republik Tschechoslowakei gründete. Hugo Ball war ein fleißiger Leser von Masaryks Werken und gab wie der Philosoph dem Protestantismus Luthers die Schuld an politisch fatalen Fehlentwicklungen, etwa dem Machtstaat und der „Theokratie” Preußens. Die deutsche Untertanengesinnung, so glaubte Ball, sei eine Folge der Reformation, ein politisches Verhängnis, das letztlich zum Ersten Weltkrieg geführt habe. In einem weiteren lesenswerten Beitrag des „ Almanachs” beschäftigt sich Robert Bernhart mit einer Frage, die alle Hugo Ball-Exegeten umtreibt: Wie kann es sein, dass sich der Herold des Dadaismus nach wenigen Monaten in Zürich von der Avantgarde abwandte und sich ins Tessin zurückzog, um dort zum frommen Katholiken zu mutieren? „Es scheint”, so glaubt nun Robert Bernhart, „dass Ball sein Bühnenexperiment später dann positiv anerkannt hätte, wenn sich während der Performance, während seinen Wortfindungen ein unmittelbarer signifikanter Gottesbezug, gewissermaßen eine Unio Mystica mit einem kulturellen Urgrund (...) ergeben hätte.” Aber da Ball zwischen seinen Dada-Spektakeln und seinen religiösen Bedürfnissen keine Verbindung herstellen konnte, blieb das „Cabaret Voltaire” in seinem Leben nur eine Episode.
Die schönsten Rätsel in ästhetischer und kultursoziologischer Theorie hat uns der Philosoph Walter Benjamin aufgegeben, der lange Jahre im intellektuellen Milieu kultisch verehrt wurde, dessen Image in jüngster Zeit aber einige Kratzer abbekommen hat. Im Juni-Heft der „ Merkur” hat ihm etwa der Literaturwissenschaftler Ingo Meyer eine ruppige Abrechnung gewidmet. Ein „stringenter Denker”, so spottet Meyer, sei Benjamin nie gewesen, seine Reflexionen zur Sprachphilosophie, zur Theorie des Films oder zum „Verlust der Aura” zeichneten sich nicht gerade durch „übermäßige Kohärenz” aus.
Im aktuellen Juli/August-Heft der Kulturzeitschrift „ Sinn und Form” fallen weitere Schatten auf die bislang strahlende Erscheinung Walter Benjamins. Detlev Schöttker kommentiert hier eine grimmige Auseinandersetzung zwischen Benjamin und dem Kultursoziologen Dolf Sternberger, die sich an zwei Buchprojekten der beiden Kontrahenten entzündete. Der Emigrant Benjamin beschuldigte den in Deutschland gebliebenen, aber von den Nazis mit Berufsverbot belegten Sternberger des Plagiats und einer geistigen Affinität zur Gedankenwelt Hitlers. Schließlich verfasste er eine aggressive Rezension zu Sternbergers Buch „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert”. Der Zorn Benjamins hatte weniger mit der Substanz des Buches als vielmehr mit Eifersucht, Rivalität und Konkurrenz-Denken zu tun. Denn Sternberger bearbeitete die gleichen Themen wie Benjamin: Beide verfassten grundlegende Studien zur Geschichte der Photographie und zur Vorgeschichte der Moderne im 19. Jahrhundert.
Dieses „Sinn-und-Form”-Heft ist insgesamt ein Musterbeispiel für funkelnden Gedankenreichtum, wie er auch in substantiellen Literaturzeitschriften nicht alle Tage anzutreffen ist. Sehr zur Lektüre zu empfehlen sind auch Thomas Karlaufs Betrachtungen zum Umgang mit den bibliophilen Kostbarkeiten aus dem Nachlass des Dichters Stefan George und Lutz Seilers exzellenter Essay über den Dichter Oskar Loerke. Wie kaum ein anderer Dichter der Moderne hat Oskar Loerke seine Weltordnung absolut nach dem „Einsamkeitsgeräusch” der Bäume und Wälder ausgerichtet, die das Zentralmotiv seiner Gedichte bilden. Wo dieser Dichter die Tonlage seines Daseins fand, dokumentiert der Titel seines letzten, 1936 erschienenen Gedichtbandes. Er lautet: „Der Wald der Welt.”
Merkur: 5 und 6 /2010
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin, je 90 Seiten, je 12 Euro.
Hugo-Ball-Almanach. Neue Folge 1. 2009/2010
Edition text + kritik, Levelingstr. 6 a,
81673 München. 184 Seiten, 16 Euro.
Sinn und Form: H. 4/2010
Postfach 210250, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro
Michael Braun 15.08.2010
Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese August 2010
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Michael Braun
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