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August 2010
 
Zeitschriftenlese  –  August 2010
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch

Von Karl Kraus stammt die schöne Maxime: „Künstler sollten Rätsel schaf­fen, nicht Lösungen.” Solche Appelle an den ästhetischen Eigensinn der Kunst­werke sind bis heute unpopulär. Denn noch immer dominiert beim Publikum ein Verlangen nach Sinngebung durch Klarheit, nach Lösung und Er-lösung durch die trans­zendenten Energien von Büchern und Bildern. Die Produktion von „Rätseln” hat man nach wie vor an die Avantgarde delegiert, an ihre schwer ent­ziffer­baren Zeichen.
  Der saarländische Schriftsteller und Musiker Alfred Gulden hat kürzlich in einem Essay für das Mai-Heft der Kultur­zeitschrift „Merkur” über eins der skandalösesten Rätsel der jüngeren Kunst­geschichte berichtet. Gulden re­konstruiert die Entstehungsgeschichte und einzelne Aktionen des sogenann­ten „Orgien-Mysterien-Theaters”, das der Wiener Aktions­künstler Hermann Nitsch seit 1970 in stets skandal­umwit­terten Inszenie­rungen entwickelte. An diesen pompösen Aktionen, einem meist auf blasphemischen Schock­strategien basierenden Szenario aus rituellen Kreu­zigungen, blutigen Tierka­davern und frenetischer Musik­begleitung durch ein Lärmorchester, war Gulden selbst als Regisseur beteiligt. Sein „Merkur”-Essay zitiert voller Respekt die ideologischen Selbst­deutungen von Hermann Nitsch, der an die diony­sische Wirkung seiner theatra­lischen Aktionen, an die Befreiung der Sinne im Rausch der Mysterien glaubte. In der üblichen Unbescheidenheit des avant­gardistischen Künstlers stilisierte er sein blutiges Mysterienspiel zum planetarischen Event: „Ich will das schönste fest der menschheit ent­werfen”, so Nitsch, „das keinen anderen vorwand als das leben selbst hat.” Und jedes Mal erzielte der Künstler mit diesem Menschheits-Fest die abseh­baren Wirkungen. Die Behörden riefen nach der Polizei, die dann die nack­ten Theater-Akteure vor dem wütenden Protest von Tierschützern, religiösen Funda­mentalisten und anderweitig Empörten schützen musste.
  Die künstlerische Avantgarde, so legt dieser „Merkur”-Essay nahe, produziert nicht nur Rätsel, sondern auch Exzesse. Die Geburts­stunde von künstlerischer Exzentrik und ästhetischem Exzess fand indes im Frühjahr 1916 in einem kleinen Kabarett in Zürich statt, das von hungernden Emigran­ten gegründet wurde. Der vor dem deutschen Milita­rismus nach Zürich emi­grierte Dichter Hugo Ball und seine spätere Frau Emmy Hennings agierten hier, im „Cabaret Voltaire”, als die literarischen Schlüsselfiguren des Dadais­mus. In einem phantas­tischen Kostüm aus Pappe trug dort der aus dem pfälzischen Pirmasens stammende Ball im Juni 1917 als selbst­ernannter „magischer Bischof” die berühmten „Lautgedichte” vor, Gedichte aus rätsel­haften Buchstabenkombinationen, die eine eigene Klangmagie entfalteten. Über die künstlerischen Rätsel, die der Dichter seinem Publikum und auch seinen Freunden aufgab, informiert die aktuelle Ausgabe des „Hugo-Ball-Almanachs”, der seit 1977 in regel­mäßiger Folge erscheint und nun in der Edition Text + Kritik ein neues Verlagshaus gefunden hat. Der Literatur­wissenschaftler Hans Dieter Zimmermann, Mitherausgeber der Hugo Ball­-Werkausgabe im Wallstein Verlag, erhellt hier beispiels­weise eine verblüf­fende geistige Wahlverwandtschaft zwischen Hugo Ball und dem tsche­chischen Philo­sophen Tomas Masaryk, der europäische Geschichte schrieb, indem er 1918 die demokratische Republik Tschechoslowakei gründete. Hugo Ball war ein fleißiger Leser von Masaryks Werken und gab wie der Philosoph dem Protestan­tismus Luthers die Schuld an politisch fatalen Fehlentwicklungen, etwa dem Machtstaat und der „Theokratie” Preußens. Die deutsche Untertanen­gesinnung, so glaubte Ball, sei eine Folge der Reformation, ein politisches Verhängnis, das letztlich zum Ersten Weltkrieg geführt habe. In einem weiteren lesenswerten Beitrag des „Alma­nachs” beschäftigt sich Robert Bernhart mit einer Frage, die alle Hugo Ball-Exegeten umtreibt: Wie kann es sein, dass sich der Herold des Dadaismus nach wenigen Monaten in Zürich von der Avantgarde abwandte und sich ins Tessin zurückzog, um dort zum frommen Katholiken zu mutie­ren? „Es scheint”, so glaubt nun Robert Bernhart, „dass Ball sein Bühnen­experiment später dann positiv anerkannt hätte, wenn sich während der Performance, während seinen Wort­findungen ein unmittelbarer signifikanter Gottesbezug, gewissermaßen eine Unio Mystica mit einem kulturellen Urgrund (...) ergeben hätte.” Aber da Ball zwischen seinen Dada-Spektakeln und seinen religiösen Bedürf­nissen keine Verbindung herstellen konnte, blieb das „Cabaret Voltaire” in seinem Leben nur eine Episode.
  Die schönsten Rätsel in ästhetischer und kultursoziologischer Theorie hat uns der Philosoph Walter Benjamin aufgegeben, der lange Jahre im intellektuellen Milieu kultisch verehrt wurde, dessen Image in jüngster Zeit aber einige Kratzer abbekommen hat. Im Juni-Heft der „Merkur” hat ihm etwa der Literatur­wissenschaftler Ingo Meyer eine ruppige Abrechnung gewidmet. Ein „stringenter Denker”, so spottet Meyer, sei Benjamin nie gewesen, seine Reflexionen zur Sprachphilosophie, zur Theorie des Films oder zum „Verlust der Aura” zeichneten sich nicht gerade durch „übermä­ßige Kohärenz” aus.
  Im aktuellen Juli/August-Heft der Kultur­zeitschrift „Sinn und Form” fallen weitere Schatten auf die bislang strah­lende Erscheinung Walter Benjamins. Detlev Schöttker kommen­tiert hier eine grimmige Aus­einander­setzung zwi­schen Benjamin und dem Kultur­soziologen Dolf Sternberger, die sich an zwei Buch­projekten der beiden Kontrahenten entzündete. Der Emigrant Benjamin beschul­digte den in Deutsch­land gebliebenen, aber von den Nazis mit Berufs­verbot belegten Sternberger des Plagiats und einer geistigen Affi­nität zur Gedanken­welt Hitlers. Schließlich verfasste er eine aggressive Re­zension zu Sternbergers Buch „Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhun­dert”. Der Zorn Benjamins hatte weniger mit der Substanz des Buches als vielmehr mit Eifersucht, Rivalität und Konkurrenz-Denken zu tun. Denn Sternberger bearbeitete die gleichen Themen wie Benjamin: Beide verfass­ten grundlegende Studien zur Geschichte der Photographie und zur Vorge­schichte der Moderne im 19. Jahrhundert.
  Dieses „Sinn-und-Form”-Heft ist insgesamt ein Muster­beispiel für funkeln­den Gedanken­reichtum, wie er auch in substan­tiellen Literatur­zeit­schriften nicht alle Tage anzutreffen ist. Sehr zur Lektüre zu empfehlen sind auch Thomas Karlaufs Betrachtungen zum Umgang mit den bibliophilen Kostbarkeiten aus dem Nachlass des Dichters Stefan George und Lutz Seilers exzellenter Essay über den Dichter Oskar Loerke. Wie kaum ein anderer Dichter der Moderne hat Oskar Loerke seine Weltordnung absolut nach dem „Einsamkeitsgeräusch” der Bäume und Wälder ausgerichtet, die das Zentralmotiv seiner Gedichte bilden. Wo dieser Dichter die Tonlage seines Daseins fand, dokumentiert der Titel seines letzten, 1936 erschie­nenen Gedichtbandes. Er lautet: „Der Wald der Welt.”

Merkur: 5 und 6 /2010   externer Link
Mommsenstraße 27, 10629 Berlin, je 90 Seiten, je 12 Euro.

Hugo-Ball-Almanach. Neue Folge 1. 2009/2010  externer Link  
Edition text + kritik, Levelingstr. 6 a,
81673 München. 184 Seiten, 16 Euro.

Sinn und Form: H. 4/2010  externer Link
Postfach 210250, 10502 Berlin. 130 Seiten, 9 Euro

Michael Braun    15.08.2010       

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese August 2010

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