poetenladen    poet    web

●  Sächsische AutobiographieEine Serie von
Gerhard Zwerenz

●  Lyrik-KonferenzDieter M. Gräf und
Alessandro De Francesco

●  UmkreisungenJan Kuhlbrodt und
Jürgen Brôcan (Hg.)

●  Stelen – lyrische GedenksteineHerausgegeben
von Hans Thill

●  Americana – Lyrik aus den USAHrsg. von Annette Kühn
& Christian Lux

●  ZeitschriftenleseMichael Braun und Michael Buselmeier

●  SitemapÜberblick über
alle Seiten

●  Buchladenpoetenladen Bücher
Magazin poet ordern

●  ForumForum

●  poetenladen et ceteraBeitrag in der Presse (wechselnd)

 
Dezember 2016
0        
Zeitschriftenlese  –  Dezember 2016
von Michael Braun | Saarländischer Rundfunk – Literatur im Gespräch


In der atemlosen, von hektischer Kommentierwut geprägten Literaturdebatte unserer Tage gibt es kaum noch Theorien, deren Ausstrahlungskraft über die jeweilige Saison hinausreicht. So erscheint heute auch die „Theorie der Avantgarde“, die der mittlerweile 80jährige Literaturwissenschaftler Peter Bürger 1974 vorgelegt hat, wie ein erratischer Block, wie ein Fremdkörper aus einer fernen Epoche. Die neue Ausgabe, die Nummer 21 des Literaturmagazins Poet, veröffentlicht nun einen handschriftlich abgefassten Brief Peter Bürgers, in dem der Literaturtheoretiker ganz beiläufig zur Frage des möglichen „Fortschritts“ in der Literatur Stellung nimmt und dabei mit einigen Missverständnissen über den Begriff der „Moderne“ und „Avantgarde“ aufräumt. Seit dem Auftritt der historischen Avantgardebewegungen – damit meint Bürger im wesentlichen den Dadaismus, den Futurismus und den Surrealismus – greifen die jeweils avanciertesten Schriftsteller mehr oder weniger spielerisch auf verschiedene Materialbestände der Tradition zurück, ohne dass hier eine Hierarchie der Formen entsteht, wie sie noch der große Impresario der ästhetischen Theorie, Theodor Adorno, durchzusetzen hoffte.
  Schaut man in die wirklich relevanten Literaturzeitschriften der Gegenwart, dann kann man dort die friedliche Koexistenz der verschiedenen Avantgardismen und Post-Avantgardismen beobachten. Dann fällt auch ins Auge, dass auch so alte, als obsolet belächelte Weltkonzepte wie die Religion, die Mystik oder die Spiritualität keineswegs ausgedient haben, sondern geradezu als Treibstoff der Poesie gelten können. In der aktuellen Poet-Ausgabe bezeugt zum Beispiel der Gedichtzyklus „vasa sacra“ des deutsch-amerikanischen Dichters und Theologen Paul-Henri Campbell ein leidenschaftliches Interesse an religiöser Ikonographie. Die Fügung „Vasa sacra“ verweist auf die sakralen Gerätschaften, die in der Liturgie eingesetzt werden, also etwa die Hostienschale, der Kelch oder die Monstranz. Die „vasa sacra“ sind meist aus Edelmetallen hergestellt. In Campbells Gedichtzyklus wird etwa das Lahnsteiner Ziborium aufgerufen, ein um 1330 entstandenes Beispiel von gotischer Goldschmiedekunst am Mittelrhein.
  In der aktuellen Nummer 213 der Literaturzeitschrift manuskripte finden wir ein weiteres überraschendes Beispiel einer starken religiösen Affinität eines bedeutenden Dichters. Hier sind nämlich nachgelassene Aufzeichnungen des kürzlich verstorbenen Universalpoeten Paul Wühr aus dem Jahr 1989 abgedruckt. Paul Wühr, ein Riese der lyrischen Avantgarde, erweist sich darin als transzendentalphilosophisch versierter Gottsucher, der die Suche nach dem Heiligen und nach dem „Martyrium“ reflektiert. „Ich wollte zusammenspannen“, heißt es da, „das Martyrium und das Idealkonservative.“ Das Idealkonservative, wie es Wühr hier definiert, hat auch anarchische Anteile und steckt voller geistiger Sprengfallen, an denen die alten Institutionen der Kirche und der konservativen Politik keine Freude haben.
  Aber es gibt auch noch die grimmigen Fundamentalisten einer avantgardistischen Auslotung des Zeichensystems Sprache selbst. Besonders faszinierende Beispiele einer radikalen Versessenheit auf Sprache und Schrift präsentiert uns die aktuelle Nummer 9 der Zeitschrift Idiome, das experimentell ambitionierte „Heft für neue Prosa“. Hier beeindrucken die unglaublich intensiven Schrift-Wucherungen des Experimentalpoeten und Performance-Künstlers Hartmut Geerken, der sich in Idiome als „schriftnomade im flachland“ vorstellt. Jeder Satz hat bei Geerken Fühler, die er in alle Richtungen ausstreckt, so dass ein immer weiter verzweigtes Geflecht von Sätzen entsteht, die sich selbst zu immer neuen Verbindungen antreiben. Dabei scheint diese Art von Literatur zwei Regeln zu folgen. Erstens: Sie hält sich fern von Linearität, sie will unberechenbar, abweichlerisch und überraschungsreich sein. Zweitens: Sinnvolle Sätze, glaubt Geerken, sind gefährliche Sätze. Seine Sprache möchte weder eine sinnstiftende noch – so wörtlich – eine „seinsetzende“ Kraft besitzen. Letztere Behauptung darf man indes getrost als Koketterie verbuchen, denn die Wucht, mit der Geerken gegen den konventionellen Gebrauch von Sprache zu Felde zieht, verrät den Propheten: „Deutsch ist zur sprache der kriminellen geworden. deutsch ist zunehmend verbrechersprache.“ Seine massive Attacke auf die angebliche „Verbrechersprache Deutsch“ versendet Geerken wie einen rhetorischen Giftpfeil, ohne dafür eine Begründung zu liefern. Begründungslos bleibt auch folgender Hieb gegen die Sprache, die nicht „Wohle des Menschen“ sei:
  „Gegen die alltägliche sprache muss terroristisch vorgegangen werden, wie gegen die hochfinanz. sprache & hochfinanz sind nicht zum wohle des menschen, die aus dem himmel stürzenden gebäude verheissen glück.“ Hier ist ein alter Topos der avantgardistischen Literatur erkennbar: Der Schriftsteller als Attentäter, der die bürgerliche Ordnung der Gesellschaft und auch der Sprache zum Einsturz bringen will.
  Wer in einen literarischen Überbietungswettbewerb in Radikalität und Sarkasmus eintreten will, der muss sich auf jeden Fall auch an dem Klagenfurter Autor Alexander Widmer messen, der in Idiome seine „Fetzensammlung“ ausbreitet. Das sind samt und sonders schwarze Gedanken, fatalistische Reflexionen zur Entbehrlichkeit und Lächerlichkeit des Schreibens wie des Lebens. Der größte Fehler von Schriftstellern ist, so Widmer, dass sie ihrer Mitteilungsfreude nachgeben und uns die „exquisiten Kadaver“ ihrer Gedanken vorzeigen. „Die Literatur muß sich wichtig nehmen“, so Widmer, „weil sie es nicht ist.“ Als unerträglichsten Autorentypus hat er den redseligen älteren Dichter ausgemacht, der Aufdringlichkeit mit Präsenz verwechselt: „Die alten Lautlesemänner, da schwingen sie ihre Flachärsche auf ein Podium, so lange ich mich höre, lebe ich, sagen sie sich wohl, überziehen ihr Publikum mit ihrem Blick aus ihren Ewigkeitsaugen und krächzen das Täuschelied vom Fortleben. Ein alter Priester, knapp vorm Tod, ist eine tröstliche Erscheinung, ein alter Dichter, knapp vorm Tod, ein Zusammenstoß von Peinlichkeit und Eitelkeit.“

Diesem boshaften Porträt des prinzipiell lächerlichen Autors stellt nun der Schweizer homme de lettres Felix Philipp Ingold im aktuellen Heft 3/2016 der Zeitschrift Volltext einen Reigen von Charakterstudien entgegen, die er als „Selbstversuche“ begreift. Unter diesen eigenbrötlerischen Charakteren mit autobiografischer Färbung findet man zum Beispiel den „Verneinungsexperten“, den „Ladenhüter“ oder auch den „Diffikulter“, der es, wie sein Name schon andeutet, sich selbst und allen anderen Leuten schwer macht. Unter all diesen Vertretern einer hochintellektuellen Spezies beeindruckt der „Ladenhüter“ dadurch, dass er, der hier sich selbst als schwer verkäufliches Buch imaginiert, sich paradoxerweise selbst zur Unlesbarkeit verurteilt: „Am liebsten behielte ich alles für mich – die Wörter, die Sätze, die Gedanken, die Gefühle, die Wahrheiten, die sich in mir abgelagert haben – einfach alles. ...Ich muss nicht unbedingt zur Kenntnis genommen und auch nicht verstanden werden. ...Das Höchste wäre für mich, auch das gestehe ich, als Blindband eingeschweißt und für immer unlesbar zu sein.“ Mit solchen dandyistischen Verweigerungsgesten stemmt sich Ingold einer Literatur entgegen, die in naiver Mitteilungsfreude nur Geschichten erzählen will und dabei alle Klischees und Stereotypen der geläufigen Sprache mitschleppt.
  Wie antwortet nun die junge zeitgenössische Literatur auf Ingolds Konzept der radikalen Sprachkritik und der Verweigerung jeder Verständlichkeit? Schaut man in das aktuelle Heft 46 der Zeitschrift BELLA triste, die vor allem Beiträge von ehemaligen und aktuellen Studierenden der deutschen Literaturinstitute enthält, ist man erstaunt über die demonstrative Lässigkeit und das kollektive „Wir“-Gefühl, das dort ausgestellt wird. Von den literarischen Aufbruchsbewegungen des späten 20. Jahrhunderts unterscheidet sich diese junge Schriftstellergeneration durch ein größeres Bewusstsein für Kollektivität, vulgo „Vernetzung“. Die Textbeiträge selbst bezeugen oft eine gewisse Abstinenz gegenüber großen Theorieentwürfen und suchen zugleich eine kritische Distanz gegenüber einer durch das Internet präformierten Erfahrungswelt. Der 1990 geborene Jacob Teich konfrontiert zum Beispiel in einer Erzählung eine Erfahrung der Seelenlähmung mit der Genesis der euphorischen Hip-Hop-Kultur. Sein Protagonist, ein aus der Bahn geratener Rapper, ist für einige Monate in einer psychiatrischen Klinik untergebracht, in einer zweiten Textschicht wird die Erfolgsgeschichte des Rapper-Labels „Aggro Berlin“ rekonstruiert. Interessanter sind die kleinen poetologischen Vignetten, die im Kapitel „Pool“ zu lesen sind. Hier findet man ein lesenswertes Selbstporträt der 1984 geborenen Lyrikerin Maren Kames, deren Debütbuch „Halb Taube Halb Pfau“ soeben an prominenter Stelle als herausragendes Gedichtbuch angepriesen worden ist. In ihrer Standortbestimmung kombiniert Maren Kames geowissenschaftliche Begriffe mit poetischen Vorstellungen von Landschaft, Schnee und ewigem Weiß. Ihre Gedichte hat sie „in einem weitläufigen, ausufernden Weiß“ platziert, „sie sehen aus wie Schollen, Ablagerungen von unterschiedlicher Länge und Beschaffenheit“. Die Parallelführung von Poesie und Geowissenschaft legitimiert sie durch ihren eigenen Namen. Denn „Kames“ bezeichnen in der Geomorphologie Landschaften, die durch Ablagerung von Eis und seiner Schmelzwässer entstanden sind. Solche Verschränkungen von Geologie und Poesie, der Bezug auf „Sedimente“ und „Schichtungen“ von Naturstoff sind in der Gegenwartslyrik mittlerweile sehr häufig anzutreffen – und zwar seit der Begriff „Anthropozän“ als Bezeichnung für ein neues Erdzeitalter auch in die Poesie Einzug gehalten hat.
  Aber es gibt auch noch Autoren, die fundiert und ohne Beihilfe aus anderen Wissenschaften über Poesie und ihre Übersetzbarkeit sprechen können. Im November-Heft der Kulturzeitschrift Merkur berichtet der Lyriker Achim Wagner in der Reihe „inter_poems“ über seine vorsichtig tastende Annäherung an türkische Poesie und an die Möglichkeiten ihrer Übertragung ins Deutsche. Sehr eindrucksvoll führt Wagner vor, wie die grammatische Kluft zwischen dem Türkischen und dem Deutschen überwunden werden kann. Das Türkische, so erläutert Wagner, kennt keinen bestimmten Artikel, kein grammatisches Geschlecht, keine Präpositionen. Es besteht aus sechs Fällen, und vor allem wird es geprägt durch zwei Vokalharmonien, eine große und eine kleine, die für sprachästhetische Eigenheiten ungeheuer folgenreich sind. Und dennoch gelingt es Wagner, Möglichkeiten der Übertragung für die Gedichte der türkischen Poetin Müesser Yeniay zu finden. Und so erfüllt Wagners Essay mustergültig die Forderung Wilhelm von Humboldts, dass jede Übersetzung von einer einfachen Liebe zum Original geprägt sein muss, aber immer auch „eine gewisse Farbe der Fremdheit an sich trägt“.

Poet, No. 21 (2016)  externer Link
Poetenladen, Blumenstraße 25, 04155 Leipzig, 256 S. 9,80 Euro.

 

manuskripte, No. 213 (2016)  externer Link
Sackstraße 17, A-8010 Graz, 154 S., 10 Euro.

 

Idiome, Nr. 9 (2016)   externer Link
Klever Verlag, c/o Florian Neuner, Lübecker Str. 3, 10559 Berlin, 116 S., 9,90 Euro.

 

Volltext, H. 3/2016   externer Link
c/o Thomas Keul, Goldschlagstr. 76, A-1150 Wien, 82 S., 5,90 Euro.

 

BELLA triste, No. 46 (2016)  externer Link
Neustädter Markt 3-4, 31134 Hildesheim, 112 S., 5,35 Euro.

 

Merkur, H. 11/2016  externer Link
Klett-Cotta, Redaktion: Mommsenstr. 29, 10629 Berlin. 106 S., 12 Euro

 

 
Michael Braun
Bericht
Archiv