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Leukerbad 2008
 
Michael Braun
Parallelgeschichten und Atemgedichte
Die Leukerbader Katharsis – ein Literaturfestival in Höhenluft

 Leukerbader Literaturfestival
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Der Atem ist seit alters her die primäre Antriebskraft der Poesie, ihr Ur-Rhythmus und metrischer Grundschritt. Das 13. internationale Literaturfestival im Walliser Kurort Leukerbad hat am ersten Juli-Wochenende diese Erfahrung eindrucks­voll bestätigt. Denn der wirkungsvollste Text des Festivals war zweifellos das „Atemgedicht“ von Gerhard Rühm. Ein Elementargedicht ohne Wörter. Der Dichter zelebrierte das Geräusch des Einatmens und Ausatmens – und plötzlich wurde für ein paar Augenblicke die Festival-Routine suspendiert. Und einen Augenblick lang erhielt man wieder jene Lektion in Demut, die in Leukerbad meist nur beim rituellen Pilgern durch die Dalaschlucht präsent ist.

Damit Demut nicht in Hybris umschlägt, steht am Anfang des vom Berner Kultur-Manager Hans Ruprecht umsichtig geleiteten Festivals stets die Begegnung mit einer undomestizierten Natur. In alpiner Höhenlage, auf 1411 Metern, sieht man sich in fast klaustrophobischer Einkreisung schroff aufragenden Berggipfeln gegenüber, die den an urbane Kulissen gewöhnten Literaturfreund zu erdrücken drohen. So wirkt zum Auftakt der Gang in die Dalaschlucht wie eine Katharsis. Auf leicht schwankenden, aber verlässlich stabilen Metall-Leitern und -Brücken überquert man auf dem Thermal­quellenweg die tosenden Wasser der Dala und die wilde Natur zeigt ihre Macht. Erst danach kann die Literatur ihre Stärke zeigen – was auch in diesem Jahr, in dem insgesamt 23 Autoren aus Ungarn, Frankreich, Österreich, Israel, der Schweiz, Deutschland und dem Senegal zusammentrafen, in vielen Fällen gelang.

In Leukerbad hat man ungewöhnliche Orte für die literarische Präsentation ausgewählt: ein stillgelegtes Thermalbad, einen ausrangierten alter Bahnhof, nicht zuletzt die Passhöhe der 2350 Meter hohen „Gemmi“, wo die „Mitternachtslesung“ zelebriert wird. Um die „Gemmi“ zu erreichen, muss man sich zuvor in kleine Seilbahnen quetschen lassen, um dann in absoluter Finsternis und mittelschweren Schwindelgefühlen nach oben zu schweben.

Vor allem den Auftritt des ungarischen Weltbürgers Péter Nádas hatte man beim diesjährigen Festival mit Spannung erwartet. Angekündigt war die deutsche Lesepremiere des dreibändigen Jahrhundertepos „Parallel­geschichten“, an dem Nádas 18 Jahre gearbeitet hat und das in Ungarn 2005 erschienen ist. Am Schicksal einer ungarischen und einer deutschen Familie wird hier ein Panorama des 20. Jahrhunderts entrollt. Aber Nádas verstand sich auf die Kunst des Aufschubs und las statt dessen aus der autobiografischen Fallstudie „Der eigene Tod“, in der er mit einer des­illusionierenden Selbst-Inspektion als Sterbender alle metaphysischen Tröstungen verscheucht. In der Kunst der sarkastischen Ernüchterung kam ihm der ukrainische Autor Andrej Kurkow sehr nahe. Die Absurditäten der postkommunistischen Gesellschaft in der Ukraine beantwortet der Diogenes-Autor Kurkow mit lakonisch erzählten Geschichten, die mit einer Neigung zum Skurrilen und böse-Phantastischen die Grenze zur Sur-Realität überschreiten. Im Gespräch mit einer etwas indisponiert wirkenden Moderatorin enttäuschte Kurkow allerdings mit einer etwas grobschlächtigen Küchenpsychologie zur ukrainischen Politik.

Ein Thema vieler Leukerbader Lesungen war der Zusammenbruch alter Welt-Ordnungen und der Aufbruch und Übergang in eine neue Zeit. Fatou Diome aus dem Senegal erzählte von der Rückkehr einer in Frankreich gescheiterten und tödlich erkrankten Immigrantin in ihre archaische Lebenswelt. Vor dem Tod der Protagonistin beginnen die Gegenstände und Möbel in ihrer Wohnung ihr Trost zuzusprechen – ein Vorgang magisch-animistischer Belehnung der Dinge, wie er in der europäischen Literatur kaum noch anzutreffen ist.

Wie ein internationaler Literaturdialog mit Leben erfüllt werden kann, demonstrierte schließlich die in Kooperation mit dem Berliner LCB organisierte Übersetzerwerkstatt. Sechs Übersetzerinnen und Übersetzer beugten sich über den Schweizer Erfolgsroman des Frühjahrs, Lukas Bärfuss' „Hundert Tage“, der vom Völkermord in Ruanda des Jahres 1994 handelt. Es wurde deutlich, dass eine textgetreue Übertragung dieses Romans ins Türkische oder das Chinesische unmöglich ist. Der türkische Übersetzer machte klar, dass Bärfuss' drastische Darstellung von Sex-­Szenen „abgemildert“ werden muss, um von der literarischen Öffentlichkeit der Türkei akzeptiert zu werden. Erstmals nach 1996 wurde schließlich die Verleihung des „Spycher Literaturpreises Leuk“ wieder ins Festival integriert. Dieser ungewöhnliche Preis gewährt dem jeweiligen Autor fünf Jahre lang für jeweils zwei Monate ein Aufenthaltsrecht im Walliser Städtchen Leuk. Ein Refugium für disziplinierte Schreibarbeiter. Als Preisträger und Hausautor auf Schloss Leuk gastiert nun einige Jahre lang Ulrich Peltzer, der mit seinem fesselnden Zeitroman „Teil der Lösung“ das am intensivsten diskutierte Buch des Jahres 2007 vorgelegt hat.

Der neue König von Leukerbad aber heißt Gerhard Rühm. Seine sarkastischen „Sprechgedichte“ und „Sprech-Duette“, die er mit seiner künstlerischen Partnerin Monika Lichtenfeld zelebrierte, sind zwar uralte magische Tricks aus der Sprachalchemie-Werkstatt der Wiener Gruppe. Aber der charmante Altmeister, ein Mann von immerhin schon 78 Jahren, wirkte in seinem strengen Minimalismus um vieles frischer und un­prätentiöser als so mancher selbsternannte Weltautor.

Michael Braun08.07.2008
 

Michael Braun
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