Die Geometrie des Gedichts
Gepriesen sei der Ort
Zugeklinkt, monastisch, die Brummtöne steigen an
den steilen, schnörkellosen, hell getünchten
Wänden hinauf, Ort der Einkehr,
wo dein Innerstes ans Licht kommt, Leibbeichte:
zuerst der Verlust an Substanz und später
der Beweis, daß wir Wesen aus lauter Wasser sind:
diese Exerzitien in Leichenblässe, unterm Gedröhn
der Rohre, die in Apsishöhe verschwinden
wie Orgelpfeifen, mit Dünn-
pfiff, Flottem (im Tempo Allegro vivace),
wenn du den Abzugshebel drückst.
Windrippeln überm Wasser, wie Gänsehaut
– Hönnetal –
Tropische Meere, die niemals kartographierten Lagunen,
ein Kliff aus rugosen Korallen, Stromatoporen, Brachiopoden,
im Ergebnis: Grauwacke neben devonischem Massenkalk,
worin der Fluß sich einschnitt und Höhlen auswusch,
Kriechhöhlen, Leichenhöhlen, Höhlen für Bär und Hyäne,
mit Mammut und Wollnashorn in der Nachbarschaft,
dann die Kielkratzer des Aurignacien, Streitäxte, Steinbeile,
Scherben mit Sonnensymbolen, Schmuck und Gerät,
später zwischen Marken Rennfeuer, Blasdüsen, Masseln,
Kupolöfen, Koks, Möller, Gicht, Schlackenpoche, Pechhaus;
einmal war auch die Droste hier, unterm „Volk der Eulen
und Schuhue“, dachte an Schauerroman und Höllenschlund,
schließlich wir, im winterlichen Graubraun, am Kalkbruch,
seinen gebankten Fazies, wie mit einem Rastral gezogen:
diese alkalischen Augen, die lidlos zum Himmel starren,
das Karibikblau! wiedergekehrt nach Millionen von Jahren.
Die Geometrie des Gedichts
a)
Jeden Morgen, wenn vorm Fenster die Welt mit Vogelgesang und Automotoren beginnt, stelle ich mir dieselbe Frage: Aus welchem Grund schreibe ich Lyrik? (Und warum stattdessen nicht Prosa? warum überhaupt schreiben, was bekanntlich wenig Geld im Beutel und selten anerkennend schulterklopfende Hände bedeutet?) Ich mag keine Standortbestimmungen, in ihnen schwingt mit, was für Dichtung schädlich ist: Abgrenzung und Rechtfertigung. Aber mir selbst darf ich’s eingestehen: Ich liebe es, Worte auf dem Papier zu konstruieren, ihre Statik zu prüfen. Ein Gedicht schreiben bedeutet für mich, die Schönheit – der Begriff ist für mich trotz allem nicht antiquiert – in Sprache zu bündeln und den eigenen Blick zu justieren. Es bedeutet, ein paar seltene, verlorene, wunderbar präzise Worte zu bergen, sie wieder anzusiedeln, endemisch zu machen.
b)
Die Leere des weißen Blattes Papier ist keine Metapher für ein Nichts, das mit Sinn gefüllt oder schlimmer: mit Originalität vollgestopft werden muß. Wie das weiße Licht sämtliche Spektralfarben einschließt, so sind die Worte bereits auf der Seite enthalten, ist die Form vorhanden, wenn ich erst weiß,
worüber ich schreiben will. J.H. Matthews definierte das Gedicht einmal als „arrangement of words on a printed page“. Das Papier, das weiße Quadrat, gibt die Grenzen vor. Innerhalb dieser Grenzen werden die Worte in Beziehung gesetzt, in Bewegung gesetzt, in Bewegung gehalten. Man läßt sie aufeinanderstoßen, wie damals im heißen Universum Photon auf Photon prallte, wodurch Materie hervorgezaubert wurde. Man versucht, Ordnung in die Worte, die Gedanken zu bringen, auf dem Papier, weil außerhalb Unordnung herrscht.
c)
In unseren Tagen rasanten Strukturwandels gehören alte, nicht mehr genutzte Bahndämme zum gewöhnlichen Stadt- und Landschaftsbild. Engmaschig sind sie über die Landschaft oder die Landkarte ausgebreitet, falls die Karte sie überhaupt verzeichnet, und bilden zusammen mit Wasserläufen und Wegen ein eigenes Koordinatensystem. Orte wie diese haben etwas von einem Spukhaus, die früheren Bewohner sind noch nicht vollends gegangen, ein Teil von ihnen hängt noch in der Luft. Einmal bin ich einer solchen Strecke gefolgt, sie war oft kaum zu erkennen, hier ein schmaler Weg, eingeklemmt zwischen Schallschutzmauer und Gräbern des alten Friedhofs, dort eine Brücke, unter der seit Jahrzehnten Ruß klebt; und ich bin ihr auch gefolgt, wo sie im Unterholz verschwindet, zugewuchert von Bäumen. Einem Lindwurm ähnlich schlängelt sich der Bahndamm durch den Wald – von seiner ursprünglichen Funktion erlöst, in keine neue Funktion überführt, erlangt er die melancholische Würde der von der Natur wiedereroberten Dinge zurück. Was mich am stärksten faszinierte, war dieser symmetrische Schlenker um den Vorort, der die beträchtliche Steigung über eine Wasserscheide derart nivelliert, daß man auf dem Hinweg keine Steigung und auf dem Rückweg keine Senkung bemerkt. So hat die damalige Vermessungstechnik ihre unerwarteten Spätwirkungen. Waren es erste, ungeordnete Eindrücke, Punkte auf dem Meßtischblatt, die mich anstifteten, ein Gedicht zu schreiben? Buchstaben, die aus einem Satz herausgerissen wurden, oder vielmehr: Buchstaben eines Satzes, der nicht im Ganzen, in seiner sinnvollen Struktur sichtbar wurde, sondern eben nur buchstabenweise? Die mich vielleicht erst dazu ermunterten, mich auf den Weg zu machen und mir alle Einzelheiten einzuprägen? Ist, wer ein Gedicht schreiben will, ein Jäger solcher Einzelheiten? oder geht er absichtslos, unvoreingenommen auf die Dinge zu? Und wie verbindet sich, was er sieht, zu den Sätzen seines Gedichts?
Ich bin auf der Suche nach solchen Orten. Ich bin in ein zerfallenes Haus gestiegen und habe mir gewünscht, daß ihm die Schnellbauten ringsum einen langsamen Abschied gönnen würden. Ich habe mitten im tristen Wintergrau die karibikblauen Lagunen eines Kalkbruchs gesehen, nach Millionen Jahren an diese Stelle zurückgekehrt. Ich betrat eine heimliche Kammer am Portal eines Friedhofs, in der damals die Nazi-Spitzel gesessen und jede Bemerkung der Trauernden notiert haben. Ich habe Brücken gesehen, die in der Landschaft abreißen, wie überdimensionale Zahnlücken, Vogelbeerbäume stehen zu beiden Seiten des Brückenkopfs, die Gleise, die zu ihnen führten, von gewöhnlichen Nachtkerzen erobert, waren längst in irgendeiner Recyclinganlage eingeschmolzen, ich sah bloß Holzstücke ehemaliger Schwellen, von Zeit, Witterung, mechanischen Gewalten zerschreddert, und einige Schrauben, verschiedene rostige Metallteile, deren Funktion, aus dem Zusammenhang gerissen, nicht mehr ersichtlich war, eines erinnerte mich an ein von Skoliose gräßlich verkrümmtes Rückgrat. Bierdosen, Schuhe, Fischkonserven, Plastikverpackungen lagen am Rand, die Archäologen der Zukunft könnten es für einen Ritualplatz halten, an dem die Wegwerfzivilisation verehrt wurde. Möwen kreisten überm Wasser, tauchten ihre Schnäbel ein, nach einem vorbeischwimmenden Stück Kot. Ich habe den Verlauf der Emscher gesucht, einmal als schmutzigster Fluß Deutschlands berüchtigt, einer der ungedeckelten Abwasserkanäle, die ein Netzwerk ökologischer Katastrophen über das Ruhrgebiet legen, auf ihrer gesamten Länge als
terra ingrata durch Zäune abgetrennt, jetzt auf dem Weg zur Renaturierung.
Ich habe gesehen, wie ein ganzes Birkenwäldchen das Dach einer Kokerei in Besitz genommen hat. Ich habe mir vorgestellt, wie die Arbeiter auf der „Weißen Straße“ und der „Schwarzen Straße“ herumliefen, wie groß der Lärm war, das Zischen des Wasserdampfs in den Kühltürmen oder des glühenden Koks, der von riesigen Druckmaschinen aus den Ofenbatterien in die Löschwagen gepreßt wurde, welche Gerüche in der Luft lagen. Der Teergeruch, der aus der Öffnung eines Rohres steigt, benimmt einem beinahe den Atem, er ist noch so stark, als sei die Produktion erst gestern eingestellt worden. Die Spuren bleiben, die Zeitschichten werden transparent, Rost blättert in Schichten ab, aus Leitungen quillt Isolationsmaterial wie etwas Tierisches, wie Fell. Hinterm Fenster einer Maschinenhalle steht ein Baum, der in einer Betonritze auf wundersame Weise genügend Raum und Nährstoffe gefunden hat, und in dem Fenster spiegelt sich ein Baum von der anderen Seite. Bild und Spiegelbild fließen ineinander, eine Flut von Grün, die allein auf dem Fensterglas existiert. In solchem Zusammenprall entsteht etwas, und die Poesie ist ein Verzeichnis dieser Zusammenpralle, eine Zusammenführungskunst.
Die Dinge wandeln sich. Das Gedicht macht Schnappschüsse,
close-ups. Es registriert und archiviert. Das war in Kinderzeiten mein Traum: Ein Archiv von der Größe der Welt, damit nichts verloren geht. Es scheint manchmal, als würden heute zwei Klassen von Dichtung eröffnet sein: die aus den Weltstädten, Venedig, New York, Paris, Berlin, und die aus der Provinz. Meine Orte sind weder mondän noch provinziell abseitig, vielmehr so gewöhnlich und oft betrachtet worden, daß die vielen Blicke sie zum Verschwinden gebracht haben. Dicht unter ihrer Oberfläche vibrieren noch Melancholie, Einklang usw., man kann sie hervorkitzeln, bei genauer Betrachtung. Ein Lockstoff, außerhalb der Reichweite von Applaus und Scheinwerfer.
d)
Vielleicht ist eine der erstaunlichsten Eigenschaften des Gedichts: Daß soviel auf eine weiße Seite paßt, und daß sich diese Seite beim Lesen in Hunderte weiterer Seiten im Kopf entfaltet. Zu einem Atlas? einem Logbuch? einem Inventar? Das ungeheuer gefächerte Wissen, wie es Physik und Biologie bereithalten, meine eigenen Seh-Erlebnisse, meine Lektüren: Das Gedicht zieht Diagonalen, von der ersten zur siebten, zehnten, zwölften Zeile, oder nach Belieben anderswohin, oder es macht Kreisbewe–gungen. Ich möchte Welt und Sprache nicht trennen, ich möchte, daß sie sich gegenseitig aufladen. Trotzdem sind mir bisher kaum Gedichte gelungen, die thematisieren, was am dringlichsten wäre – aber aus Flüchen über unsere Halbdemokratie und die Dummdreistigkeit von Ministern und Managern kann ich keinen haltbaren Text herstellen. Aber womöglich setzt bereits jedes Gedicht, das eine Lektion in Aufmerksamkeit ist, ein Signal, ein Fanal.
Ist das Gedicht nicht überhaupt ein Niederschlag, eine Destillation von Phänomenen, eine stärkste Einschrumpfung, die nicht weiter reduziert und deswegen auch nicht weiter paraphrasiert, erläutert oder in andere Medien übertragen werden kann? Aber dann, beim Öffnen des Buches, so würde ich mir wünschen, müßte ein Wort wie die begeisternde „Morgen=
Abendröthe“ (Tieck) dazu führen, daß man die Augen über irgendeine der vier Seiten des Papiers hinauswandern läßt. Nach der Theorie der Neptunisten und zufolge der modernen Evolutionsbiologie hat das Leben seinen Ursprung im Flüssigen, im Fließenden, dem
panta rhei des Herakleitos – deshalb kann sich die Geometrie des Papiers in eine dritte, vierte Dimension entfalten. Nicht Diskurs, sondern Exkurs, Exkursion zu den Dingen.