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Umkreisungen    25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt

Jürgen Brôcan
Die Geometrie des Gedichts

Gepriesen sei der Ort

Zugeklinkt, monastisch, die Brummtöne steigen an
den steilen, schnörkellosen, hell getünchten
Wänden hinauf, Ort der Einkehr,

wo dein Innerstes ans Licht kommt, Leibbeichte:
zuerst der Verlust an Substanz und später
der Beweis, daß wir Wesen aus lauter Wasser sind:

diese Exerzitien in Leichenblässe, unterm Gedröhn
der Rohre, die in Apsishöhe verschwinden
wie Orgelpfeifen, mit Dünn-
pfiff, Flottem (im Tempo Allegro vivace),
wenn du den Abzugshebel drückst.

Windrippeln überm Wasser, wie Gänsehaut

Hönnetal

Tropische Meere, die niemals kartographierten Lagunen,
ein Kliff aus rugosen Korallen, Stromatoporen, Brachiopoden,

im Ergebnis: Grauwacke neben devonischem Massenkalk,
worin der Fluß sich einschnitt und Höhlen auswusch,

Kriechhöhlen, Leichenhöhlen, Höhlen für Bär und Hyäne,
mit Mammut und Wollnashorn in der Nachbarschaft,

dann die Kielkratzer des Aurignacien, Streitäxte, Steinbeile,
Scherben mit Sonnensymbolen, Schmuck und Gerät,

später zwischen Marken Rennfeuer, Blasdüsen, Masseln,
Kupolöfen, Koks, Möller, Gicht, Schlackenpoche, Pechhaus;

einmal war auch die Droste hier, unterm „Volk der Eulen
und Schuhue“, dachte an Schauerroman und Höllenschlund,

schließlich wir, im winterlichen Graubraun, am Kalkbruch,
seinen gebankten Fazies, wie mit einem Rastral gezogen:

diese alkalischen Augen, die lidlos zum Himmel starren,
das Karibikblau! wiedergekehrt nach Millionen von Jahren.


Die Geometrie des Gedichts

a)
Jeden Morgen, wenn vorm Fenster die Welt mit Vogel­gesang und Auto­motoren beginnt, stelle ich mir dieselbe Frage: Aus welchem Grund schreibe ich Lyrik? (Und warum statt­dessen nicht Prosa? warum überhaupt schrei­ben, was bekannt­lich wenig Geld im Beutel und selten anerken­nend schul­ter­klopfende Hände bedeutet?) Ich mag keine Stand­ort­bestim­mungen, in ihnen schwingt mit, was für Dichtung schädlich ist: Abgrenzung und Recht­fertigung. Aber mir selbst darf ich’s eingestehen: Ich liebe es, Worte auf dem Papier zu kon­struieren, ihre Statik zu prüfen. Ein Gedicht schreiben bedeutet für mich, die Schönheit – der Begriff ist für mich trotz allem nicht antiquiert – in Sprache zu bündeln und den eigenen Blick zu justieren. Es bedeutet, ein paar seltene, verlorene, wunderbar präzise Worte zu bergen, sie wieder anzusiedeln, endemisch zu machen.

b)
Die Leere des weißen Blattes Papier ist keine Metapher für ein Nichts, das mit Sinn gefüllt oder schlimmer: mit Originalität vollgestopft werden muß. Wie das weiße Licht sämtliche Spektral­farben einschließt, so sind die Worte bereits auf der Seite enthalten, ist die Form vorhanden, wenn ich erst weiß, worüber ich schreiben will. J.H. Matthews definierte das Gedicht einmal als „arrangement of words on a printed page“. Das Papier, das weiße Quadrat, gibt die Grenzen vor. Inner­halb dieser Grenzen werden die Worte in Bezie­hung gesetzt, in Bewegung gesetzt, in Bewegung gehalten. Man läßt sie aufeinanderstoßen, wie damals im heißen Universum Photon auf Photon prallte, wodurch Materie hervor­gezaubert wurde. Man versucht, Ordnung in die Worte, die Gedanken zu bringen, auf dem Papier, weil außerhalb Un­ordnung herrscht.

c)
In unseren Tagen rasanten Struk­tur­wandels gehören alte, nicht mehr genutzte Bahn­dämme zum gewöhn­lichen Stadt- und Land­schafts­bild. Eng­maschig sind sie über die Landschaft oder die Landkarte ausgebreitet, falls die Karte sie überhaupt verzeichnet, und bilden zusammen mit Wasser­läufen und Wegen ein eigenes Ko­ordinaten­system. Orte wie diese haben etwas von einem Spukhaus, die früheren Bewohner sind noch nicht vollends gegangen, ein Teil von ihnen hängt noch in der Luft. Einmal bin ich einer solchen Strecke gefolgt, sie war oft kaum zu erken­nen, hier ein schmaler Weg, eingeklemmt zwischen Schall­schutz­mauer und Gräbern des alten Friedhofs, dort eine Brücke, unter der seit Jahrzehnten Ruß klebt; und ich bin ihr auch gefolgt, wo sie im Unterholz verschwindet, zugewuchert von Bäumen. Einem Lindwurm ähnlich schlängelt sich der Bahndamm durch den Wald – von seiner ursprünglichen Funktion erlöst, in keine neue Funktion überführt, erlangt er die melancholische Würde der von der Natur wieder­eroberten Dinge zurück. Was mich am stärksten faszinierte, war dieser symme­trische Schlenker um den Vorort, der die beträchtliche Steigung über eine Wasser­scheide derart nivelliert, daß man auf dem Hinweg keine Steigung und auf dem Rückweg keine Senkung bemerkt. So hat die damalige Ver­messungs­technik ihre unerwar­teten Spät­wirkungen. Waren es erste, ungeordnete Eindrücke, Punkte auf dem Meßtisch­blatt, die mich anstifteten, ein Gedicht zu schreiben? Buchstaben, die aus einem Satz heraus­gerissen wurden, oder vielmehr: Buchstaben eines Satzes, der nicht im Ganzen, in seiner sinn­vollen Struktur sichtbar wurde, sondern eben nur buch­staben­weise? Die mich vielleicht erst dazu ermun­terten, mich auf den Weg zu machen und mir alle Einzel­heiten einzu­prägen? Ist, wer ein Gedicht schreiben will, ein Jäger solcher Einzelheiten? oder geht er absichtslos, un­vorein­genommen auf die Dinge zu? Und wie verbindet sich, was er sieht, zu den Sätzen seines Gedichts?

Ich bin auf der Suche nach solchen Orten. Ich bin in ein zerfal­lenes Haus gestiegen und habe mir gewünscht, daß ihm die Schnell­bauten ringsum einen langsamen Abschied gönnen würden. Ich habe mitten im tristen Winter­grau die karibik­blauen Lagunen eines Kalkbruchs gesehen, nach Millionen Jahren an diese Stelle zurück­gekehrt. Ich betrat eine heimliche Kammer am Portal eines Friedhofs, in der damals die Nazi-Spitzel gesessen und jede Bemerkung der Trauern­den notiert haben. Ich habe Brücken gesehen, die in der Landschaft abreißen, wie über­dimensionale Zahnlücken, Vogel­beer­bäume stehen zu beiden Seiten des Brücken­kopfs, die Gleise, die zu ihnen führten, von gewöhn­lichen Nacht­kerzen erobert, waren längst in irgendeiner Recycling­anlage einge­schmolzen, ich sah bloß Holz­stücke ehe­maliger Schwellen, von Zeit, Wit­terung, mechanischen Gewalten zer­schreddert, und einige Schrauben, verschie­dene rostige Metall­teile, deren Funktion, aus dem Zu­sammen­hang gerissen, nicht mehr ersichtlich war, eines erinnerte mich an ein von Skoliose gräßlich ver­krümm­tes Rückgrat. Bierdosen, Schuhe, Fisch­konserven, Plastik­ver­packungen lagen am Rand, die Archäologen der Zukunft könnten es für einen Ritual­platz halten, an dem die Wegwerf­zivili­sation verehrt wurde. Möwen kreisten überm Wasser, tauchten ihre Schnäbel ein, nach einem vorbei­schwim­menden Stück Kot. Ich habe den Verlauf der Emscher gesucht, einmal als schmutzigster Fluß Deutsch­lands berüchtigt, einer der unge­deckelten Ab­wasser­kanäle, die ein Netzwerk ökolo­gischer Kata­stro­phen über das Ruhr­gebiet legen, auf ihrer gesamten Länge als terra ingrata durch Zäune abgetrennt, jetzt auf dem Weg zur Renaturierung.

Ich habe gesehen, wie ein ganzes Birken­wäldchen das Dach einer Kokerei in Besitz genommen hat. Ich habe mir vorgestellt, wie die Arbeiter auf der „Weißen Straße“ und der „Schwarzen Straße“ herumliefen, wie groß der Lärm war, das Zischen des Wasser­dampfs in den Kühl­türmen oder des glühenden Koks, der von riesigen Druckmaschinen aus den Ofenbatterien in die Lösch­wagen gepreßt wurde, welche Gerüche in der Luft lagen. Der Teergeruch, der aus der Öffnung eines Rohres steigt, benimmt einem beinahe den Atem, er ist noch so stark, als sei die Produktion erst gestern einge­stellt worden. Die Spuren bleiben, die Zeit­schichten werden trans­parent, Rost blättert in Schichten ab, aus Leitungen quillt Iso­lations­material wie etwas Tierisches, wie Fell. Hinterm Fenster einer Maschinen­halle steht ein Baum, der in einer Beton­ritze auf wundersame Weise genügend Raum und Nährstoffe gefunden hat, und in dem Fenster spiegelt sich ein Baum von der anderen Seite. Bild und Spiegelbild fließen ineinander, eine Flut von Grün, die allein auf dem Fensterglas existiert. In solchem Zusammenprall entsteht etwas, und die Poesie ist ein Verzeichnis dieser Zusammenpralle, eine Zusammenführungskunst.

Die Dinge wandeln sich. Das Gedicht macht Schnapp­schüsse, close-ups. Es registriert und archiviert. Das war in Kinderzeiten mein Traum: Ein Archiv von der Größe der Welt, damit nichts verloren geht. Es scheint manchmal, als würden heute zwei Klassen von Dichtung eröffnet sein: die aus den Weltstädten, Venedig, New York, Paris, Berlin, und die aus der Provinz. Meine Orte sind weder mondän noch pro­vinziell abseitig, vielmehr so gewöhn­lich und oft betrach­tet worden, daß die vielen Blicke sie zum Verschwin­den gebracht haben. Dicht unter ihrer Oberfläche vibrieren noch Melan­cholie, Einklang usw., man kann sie hervor­kitzeln, bei genauer Betrachtung. Ein Lockstoff, außer­halb der Reich­weite von Applaus und Scheinwerfer.

d)
Vielleicht ist eine der erstaun­lichsten Eigen­schaf­ten des Gedichts: Daß soviel auf eine weiße Seite paßt, und daß sich diese Seite beim Lesen in Hunderte weiterer Seiten im Kopf entfaltet. Zu einem Atlas? einem Logbuch? einem Inventar? Das unge­heuer gefächerte Wissen, wie es Physik und Biologie bereithalten, meine eigenen Seh-Erleb­nisse, meine Lektüren: Das Gedicht zieht Diagonalen, von der ersten zur siebten, zehnten, zwölften Zeile, oder nach Belieben anders­wohin, oder es macht Kreis­bewe–gungen. Ich möchte Welt und Sprache nicht trennen, ich möchte, daß sie sich gegen­seitig aufladen. Trotzdem sind mir bisher kaum Gedichte gelungen, die thema­tisieren, was am dringlichsten wäre – aber aus Flüchen über unsere Halb­demokratie und die Dumm­dreistig­keit von Ministern und Managern kann ich keinen haltbaren Text herstellen. Aber womöglich setzt bereits jedes Gedicht, das eine Lektion in Auf­merksamkeit ist, ein Signal, ein Fanal.

Ist das Gedicht nicht über­haupt ein Nieder­schlag, eine Destillation von Phäno­menen, eine stärkste Ein­schrumpfung, die nicht weiter reduziert und des­wegen auch nicht weiter para­phrasiert, erläutert oder in andere Medien über­tragen werden kann? Aber dann, beim Öffnen des Buches, so würde ich mir wünschen, müßte ein Wort wie die begeisternde „Morgen= Abendröthe“ (Tieck) dazu führen, daß man die Augen über irgendeine der vier Seiten des Papiers hinaus­wandern läßt. Nach der Theorie der Neptu­nisten und zufolge der modernen Evo­lu­tions­biologie hat das Leben seinen Ursprung im Flüssigen, im Flie­ßenden, dem panta rhei des Herakleitos – deshalb kann sich die Geometrie des Papiers in eine dritte, vierte Dimension entfalten. Nicht Diskurs, sondern Exkurs, Exkursion zu den Dingen.

Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR

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Das Buch im Verlag   externer Link

Kapitel

1   Die Innenseite des Papiers
2   Reste in der Hosentasche
3   Handwerk und Rätsel
4   Wirklichkeitsmorgen

Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker

Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND

In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder

Jürgen Brôcan,* 1965, lebt in Dortmund. In Göttingen studierte er Germanistik und Europäische Ethnologie. Neben der Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Altgriechischen ist er publizistisch tätig. Er war Stipendiat des Autorenförderungsprogramms der Stiftung Niedersachsen für Essay. Letzter Gedichtband: Ortskenntnis. Gedichte 1996-2006 (Lyrikedition 2000, 2008).

Jürgen Brôcan  19.02.2010   

UMKREISUNGEN

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