Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Ludwig Steinherr
Belladonna
Ein Tropfen
in jedes Auge –
es brannte kaum
Dann schickte man mich
auf einen Spaziergang:
das Gift sollte wirken
die Pupillen sich weiten
zur Untersuchung –
Ziellos lief ich
durch die Straßen
die plötzlich
zu leuchten begannen
zu strahlen
heller und heller
Welcher Ausbruch
von Festlichkeit!
Rausch des Sehens!
Welches Gleißen!
Jedes Ding entstellt
entrückt
von nie geschautem Glanz!
Prozessionen verklärter
Gestalten wandelten
auf mich zu
Insel der Seligen
Lichtpalmen winkten
mitten im Verkehrsgebraus
während ich weiterlief
im Taumel –
Meine Netzhaut
ausgesetzt
wehrlos
gegen die überbelichtete
Schöpfung
die grundlose
Ekstase
die Klinge
aus Licht
Es gibt Gedichte, die wachsen über Jahre. Sie beginnen unauffällig, als Notiz. Werden weggelegt, wieder aufgenommen, wieder weggelegt. Begleiten ihren Autor. Und irgendwann kommt der Moment, in dem sie ganz unvermittelt ein Ganzes sind, ein selbständiges Leben führen können. Wann sind sie entstanden? Keiner kann es sagen.
Dann wieder gibt es Gedichte, die in einem Atemzug entstehen – nicht in einem physiologischen, wohl aber in einem lyrischen Atemzug.
Ein solches Gedicht ist „Belladonna“. Ich habe es fast ebenso schnell geschrieben, wie der Leser es lesen kann – ohne bewußte Gedanken –, und es waren danach nur noch zwei, drei Silben daran zu ändern.
Es ist ein ganz unmittelbar autobiographisches Gedicht, entstanden im August 2007. Ich hatte damals als Juror ein sehr großes Lesepensum zu bewältigen, war mit der Lektüre ins Hintertreffen geraten und versuchte dann, das Versäumte in wenigen Tagen nachzuholen – jeden Tag einen Roman.
Plötzlich verschwammen mir die Buchstaben vor Augen. Ich sah Lichtblitze, Schlieren.
Von einem Freund wußte ich, daß dies Anzeichen einer Netzhautablösung sein konnten.
Als die Symptome auch nach einer Ruhepause wiederkehrten, ließ ich mir sofort einen Termin beim Augenarzt geben.
Natürlich hoffte ich, daß alles nur auf Überanstrengung beruhte – aber ich befand mich doch, das muß ich gestehen, in einem Zustand der Panik.
Der Gesichtssinn war mir immer der wichtigste aller Sinne. Das Schreiben ist für mich wesentlich eine Arbeit des Sehens, der Bilder. Es geht mir um Lichtverhältnisse unter den Worten. Ich muß Gedichte SEHEN, um sie beurteilen zu können. Mit dem Ohr allein gelingt mir das nicht.
Seit meiner Kindheit habe ich mich gegen jede Augenuntersuchung gewehrt. Das Auge schien mir immer ein heiliger Gegenstand. Eine Operation des Auges ist mir nach wie vor so unvorstellbar wie eine Operation der Seele.
So betrat ich die Praxis bereits im Adrenalinrausch. Es war ein heißer, überheller Augustnachmittag. Nun kann Angst und Krankheit – vor allem, wenn sie nicht mit Schmerzen verbunden ist – ja eine paradoxe Art von Festlichkeit besitzen, das habe ich oft am eigenen Leib und literarisch gespiegelt bei der Lektüre von Thomas Manns „Zauberberg“ erlebt.
Auch die Untersuchungen, denen ich mich unterziehen mußte, hatten durchaus etwas Poetisches – ich saß in einem dunklen Raum und starrte in ein Periskop, bis plötzlich von fern auf gleißend blauen Wellen ein helles Segel auftauchte – „Ich sehe das Schiff!“ jauchzte neben mir ein kleiner Junge, der die gleiche Untersuchung machte.
Dann mußte ich zur Absteckung des Gesichtfeldes aufblitzende Lichtpunkte benennen – Gestirn um Gestirn glühte auf – und ich antwortete mit einem Impuls, einem Tastendruck – am Ende saß ich unter einem leuchtenden Nachthimmel, dessen Sterne so unverstellt gleißten wie vor Jahrtausenden jene über den allerersten Denkern der griechischen Philosophie.
Die Ergebnisse waren bestens – als der Arzt im Halbdunkel in den Ausdrucken blätterte, erklärte er eine Netzhautablösung bereits für sehr unwahrscheinlich, doch er hielt noch eine Spiegelung des Augenhintergrundes für nötig.
Für diese Untersuchung müssen die Pupillen geweitet werden, um die Ränder der Netzhaut inspizieren zu können. Dazu verwendet man in der Regel Atropin, das nach der Tollkirsche (atropa belladonna) so benannt ist, also Belladonna – ein sehr starkes Gift.
Der Arzt tropfte mir die Lösung in die Augen und schickte mich, bis das Mittel wirkte, zu einem kleinen Spaziergang auf die Straße.
Dies ist nun die Ausgangssituation meines Gedichtes. Ich befand mich in einem Zustand hoher physischer und psychischer Erregung. Ich spürte, daß sich mit meinen Augen eine seltsame Verwandlung vollzog – wie in einem Märchen. Gleichzeitig war meiner Angst eine reale Grundlage schon beinahe entzogen. Doch körperlich war sie noch präsent.
Was nun geschah – wie dieser ohnehin überbelichtete Nachmittag unter der Wirkung des Medikaments zum Lichtrausch eskalierte – das steht in den Versen von „Belladonna“, und ich kann es in Prosa nicht wiederholen.
Sofort nach dem Abschluß der Untersuchung und der erlösenden Nachricht, daß tatsächlich nur eine Überanstrengung vorlag, lief ich durch noch immer leuchtende Straßen nach Hause, setzte mich an meinen Schreibtisch – und schrieb in einem Zug das Gedicht.
Dann legte ich es erschöpft beiseite. Zu einer objektiveren Sicht war ich erst am nächsten Morgen fähig. Ich staunte über das, was ich am Vorabend niedergeschrieben hatte. Hier schaltete sich die Ratio ein, die sich nachträglich klarzumachen versuchte, warum ich die Worte gerade so und nicht anders gesetzt hatte.
Am Corpus des Gedichtes hatte ich – abgesehen von zwei, drei rhythmischen Winzigkeiten, die sich durch Umstellungen beheben ließen – nichts zu verbessern. Was mich aber entschieden irritierte, war der Titel.
Ich wußte intuitiv, daß er „Belladonna“ lauten mußte – und die Vernunft war bereit zuzugestehen, daß es Gründe dafür gab.
Zunächst war er sachlich korrekt – und er zentrierte das Gedicht völlig auf die physische Ursache seines Entstehens.
Die Tatsache, daß ein nüchternes Medikament einen so poetischen Beinamen besitzt, war natürlich ein Geschenk. „Belladonna“ ließ gleichzeitig die „Festlichkeit“ dieses Erlebnisses, den Taumel, den Rausch anklingen, der durchaus an Symptome der Verliebtheit erinnert hatte. Auch das Märchenhafte und Gefährliche der Tollkirsche hörte man im Hintergrund – und beide Assoziationen stimmten mit meiner Erfahrung überein. Soweit also war die Ratio noch einverstanden.
Dann aber kamen mir Bedenken. „Belladonna“ hat seinen Namen ja dadurch erworben, daß italienische Frauen in der Renaissance es sich als höchst gefährliches Schönheitsmittel in die Augen träufelten, um diese groß und tief und dunkel und leidenschaftlich erscheinen zu lassen.
Hier also ging es ums Gesehenwerden – mein Gedicht aber sprach vom Sehen. Hatte ich unwillkürlich die Perspektive gewechselt? Und wenn ja – warum hatte ich das getan? Widersprach das der Logik des Gedichts?
Meine Vernunft meinte: Ja! – Meine Intuition schrie: Nein!
In diesem Augenblick fiel mir eine Stelle aus Platons „Politeia“ ein, die mich seit jeher fasziniert hat. Im berühmten „Sonnengleichnis“ des sechsten Buches heißt es, das Auge sei zwar nicht die Sonne, aber doch das „sonnenartigste“ von allen Organen.
Wie seltsam! Das Auge, das die Sonne nur ansieht, sie ansieht durch ihr eigenes Licht, soll selbst der Sonne ähnlich sein! Indem es die Schönheit sieht, ist es selbst schön!
Es ist, als würden hier Innen- und Außenperspektive verwechselt oder aufgehoben.
Und tatsächlich gehörte zu meinem in „Belladonna“ beschriebenen Erlebnis ganz wesentlich das Abenteuer einer Entgrenzung – durch die geweiteten Pupillen schien die Welt in mich einzudringen, wie ich in die Welt.
Die verklärte Welt, die ich ansah, sah ebenso mich an. Sehen und Gesehenwerden machte keinen Unterschied mehr. Beides war eins. Wie Rainer Malkowski in einem Gedicht über „Musik“ schreibt: „Innen und außen/ ein einziger / flutender Raum.“
Sind damit alle Fragen geklärt? Keineswegs. Woher kommt die wortmagisch herbeibeschworene Frau in dem Gedicht? Wie verhält sie sich zur Sonne? Wie zum Auge?
Es gibt viele Möglichkeiten der Interpretation. Doch die Ratio weiß, daß die Lyrik nicht ganz ihr Gebiet ist. Ihr Widerspruch ist zumindest insoweit entkräftet, daß sie der Intuition keinen Widerstand mehr leistet. Sie räumt das Feld.
Das Gedicht trägt den Titel „Belladonna“!
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Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
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Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
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Ludwig Steinherr, * 1962 in München, studierte Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Hochschule für Philosophie München. Nachdem er 1993 zusammen mit Anton G. Leitner die Zeitschrift DAS GEDICHT begründete, promovierte er 1995 über Hegel und Quine. Seit 1996 freier Schriftsteller und Lehrbeauftragter für Philosophie. Das abgedruckte Gedicht stammt aus Kometenjagd (Lyrikedition 2000, 2009).
Ludwig Steinherr 04.06.2010
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UMKREISUNGEN
netz und buch
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Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
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Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
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