Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Ulrich Koch
die stille fällt ins wort
Mittage im August
Es ist das Licht. Es gießt
Blei in den See.
Jede Wolke zerfließt
darin wie Schnee.
Es ist der hölzerne Steg.
Das Wasser, das unter ihm klopft.
Die tote Amsel am Uferweg,
mit dem Himmel ausgestopft.
Es ist die Art und Weise,
auf die nichts geschieht.
Und von überallher ruft eine Meise:
Prinzip! Prinzip! Prinzip!
kirchenstille. unterwasserstille. hier: hochsommerstille. alles hat sich verlangsamt. auf den weiden umrunden schatten die bäume. in den schatten wandern herden. hunde schleppen ihre schritte. schwermütige wolkenstille. dann die meisen: wie anonyme anrufer von wo. und gedankenschnell läuft die fangschaltung und verliert sich im blau des himmels, den in großer höhe geräuschlos ein flugzeug kreidet. und endlichkeit.
am anfang war das wort. heißt es. aber vor dem anfang war die stille. war doch? ist es nicht so? die anfangsstille. muß so sein. fast spurlos ist sie verschwunden. manchmal ist noch ein knochenabdruck von ihr zu finden (der sternenhimmel, unter dem man liegt, nur das rauschen des eigenen blutes im ohr), eine fußspur (das wasser, in das man abtaucht, ausatmend), der schlaf, in den man sinkt (die zeit, in welcher man wartet). unter jedem wort der festgetretene schnee. dorthin einmal zurück. und sei es für einen unbemerkten vers: geschrieben bergauf im gegenwind. stromaufwärts geschrieben. lachsgleich. laichschwer.
alles schreiben beginnt mit diesem logischen zirkel: für die these, gedichte könnten leben retten, kann jeder ein schlagendes beispiel geben. der beweis: man lebt.
und ich? bis vor kurzem schrieb ich immer im glauben, daß es auf jedes wort ankomme. ich schrieb fleißig wenig. als ich nichts mehr schrieb, fühlte ich mich da geläutert? nein. es begann eine zeit innerer raserei (man stelle sich eine katze vor, die von einem fensterbrett aus in den garten schaut; ist die seeschlacht in ihrem inneren vorstellbar?). dem gras neidete ich seine verschwiegenheit. ich mied menschen, die lasen. ich wechselte die straßenseite und wechselte erst dann wieder zurück, wenn die umgangene buchhandlung weit genug entfernt hinter mir lag. ich redete mir das schreiben aus. ich hielt es für eine schwärmerei, nicht zu begründen. ich raste wortlos. ich war ein strenggläubiger atheist geworden. der verstand mein schutzpatron. irgendwann war es vorbei.
seitdem sehne ich mich nach der stille. seitdem geht es um die stille, das wesen der stille. es ist still, glaubte ich, wenn man nicht schreibt, noch stiller, erfuhr ich, wenn doch.
hochsommer, stille mittage: von oben drückt das aus- verlegenheit-irgendwie-benannte, von unten stemmt sich der boden gegen das gewicht des körpers, der seinen schatten hinter sich herschleift wie einen nassen flügel.
an diesem sonnigen, klaren, freien morgen war ich in den nebel hinausgetreten. abermals hatte ich den schnee vom sattel gewischt. leute gingen zur arbeit, sangen, trugen seide. pendler, bodenvögel. ich hob das fahrrad über den zaun, fuhr.
das licht hatte die zeitung aufgeschlagen: auf den getreidefeldern wogten die sätze im wind (in der nacht war ich einmal schon vor hunger aufgewacht). darüber rüttelten lerchen, wollten rein oder raus. ich durchfuhr den schatten der allee wie das skelett eines wals. er spuckte mich in den frühling zurück, noch weiter, ich flog in den winter. in die landschaft, gegend. kindheitslandschaft, zur heimat verfremdet.
alle jahreszeiten waren gleichzeitig da, und ich war in allen anwesend. in den gräben trocknete der himmel aus. der himmel flüsterte: licht. oder: schnee. immer näher trat ich heran. ich stand auf den pedalen. auf zehenspitzen. es war nichts zu verstehn. aber wie still auf einmal alles geworden war. wieder wird. erst leise, dann lautlos. wie alles verklungen war, verschwunden, verschallt, verschollen.
lautloser finkenschwarm.
fällt dem himmel entgegen und wird zurückgeworfen.
birken, im gegenlicht verschwindend, wind um die hüften.
wolken, perücken im spiegelsaal der seenlandschaft.
diese unmaßgeblichen betrachtungen, ich schreibe sie klein. gedichte dagegen sollte man grundsätzlich groß schreiben. größer als nichtgedichte, sehr groß am besten. überlebensgroße, haushohe buchstaben, länger als der bootsschatten auf dem grund des sees, sommers mit schlagschatten bis nach babel.
diese unmaßgeblichen betrachtungen sind ein paar vorsokratische gedanken über die quantenphysik. ach, ich bin ein anachronist: ich glaube an die augen und will die sprache nicht hintergehn. denn es gibt kein zurück. jeder versuch: als wollte man den himmel hinterrücks mit glas einwerfen. es ist alles wie es ist. es gibt kein zurück hinter die sprache, nur ein vorwärts: schweigen, poesie, geschwätz.
so stand ich am see. das wasser berührte mich mit meinen augen. ein schwarm mücken: sägespäne im fallenden licht. am anderen ufer bewachte ein graureiher sein spiegelbild.
so stand ich am zugefrorenen see. im eis eingebacken ein boot, sein augenaufschlag. auf dem bootsrand der name des verstorbenen.
das gedicht ist grundsätzlich möglich. es ist nur seine abwesenheit, die schmerzt und schwindlig macht, aber nicht so schwindlig wie jene gottes, der, wenn es ihn gäbe, fest an sich glaubte. ich will sagen: es ist eine utopie. ein papierschiff. damit es ablegt, muß man den mund öffnen, ins leere blatt blasen. man sollte warten, bis es weit genug entfernt ist vom rettenden ufer. besser es befindet sich auf dem offenen meer. dann sollte man feuer legen. es muß brennen und untergehen. oder es endet als feuerschiff im museumshafen.
was rede ich. was schrieb ich. es gibt hier keinen see. kein wasser. aber doch wohl die stille. wie sonst konnte ich mich erinnern an sie.
es ist ihr schneefall, während ich die worte festtrete.
es ist ihre lerche, die vom seegrund aufsteigt.
und noch immer kann ich die stille der kindheit riechen, sie hängt in den kleidern wie rauch, wenn wir vom fest zurückkommen und uns auf dem weg ins bett im gehen ausziehen, bis wir unsichtbar sind.
jetzt ist es wieder morgen, werktagmorgen, wirklichkeitsmorgen. wir wartenden stehen am s-bahn-steig inmitten des lärms. im fahrtwind der züge flattern die zeitungen am kiosk. ein freizeitausrüster hat über die länge des bahnsteigs eine schrittbreite werbebanderole auf den boden kleben lassen: winziges, bläulich verloren leuchtendes zelt in einer unermeßlich weiten polarnacht. daneben ein tucholsky-zitat: „es gibt vielerlei arten von lärm. aber nur eine stille.“ darüber müssen wir hinwegkommen, um die absprungkante der selbstmörder und pendler zu erreichen, wenn der zug einfährt. schon fährt der zug ein.
schon sitzen wir auf unseren stimmen.
schon erinnern wir uns an die stille.
schon ist das gedicht fertig.
ein desolater zustand: wir sind voller hoffnung.
und die stille fällt ins wort.
brennende stille.
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Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
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Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
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Ulrich Koch, * 1966 in Winsen an der Luhe. Heute lebt er nahe Lüneburg und arbeitet in Hamburg. Er erhielt mehrere Stipendien sowie den Förderpreis des Stuttgarter Schriftstellerhauses. Nach Gedichtbänden im Residenz Verlag erschien 2008 der Band Der Tag verging wie eine Nacht ohne Schlaf (Lyrikedition 2000). Das abgedruckte Gedicht stammt aus Lang ist ein kurzes Wort (Lyrikedition 2000, 2009).
Ulrich Koch 28.01.2010
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UMKREISUNGEN
netz und buch
Wöchentlich folgt
ein Beitrag online (*)
Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
Die Geometrie des Gedichts
dannmals, baldhin, dadorthier
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SIND NOCH SCHWALBEN DA?
Ein Gedicht und seine Geschichte
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
wärme (Kapitel: Wirklichkeitsmorgen)
ich denke oft an pieroschka bierofka –
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Selbstdiagnose
Im Steinbruch
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Fragmente einer naturwissenschaftlichen Poetologie
Belladonna
Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
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Von der Unmöglichkeit
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Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
oder wie ein Gedicht entsteht
J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit
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