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Umkreisungen    25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt

Ulrich Koch
die stille fällt ins wort


Mittage im August

Es ist das Licht. Es gießt
Blei in den See.
Jede Wolke zerfließt
darin wie Schnee.

Es ist der hölzerne Steg.
Das Wasser, das unter ihm klopft.
Die tote Amsel am Uferweg,
mit dem Himmel ausgestopft.

Es ist die Art und Weise,
auf die nichts geschieht.
Und von überallher ruft eine Meise:
Prinzip! Prinzip! Prinzip!


kirchenstille. unterwasserstille. hier: hoch­sommerstille. alles hat sich ver­lang­samt. auf den weiden umrunden schat­ten die bäume. in den schatten wandern herden. hunde schleppen ihre schritte. schwermütige wolkenstille. dann die meisen: wie anonyme anrufer von wo. und gedankenschnell läuft die fangschaltung und verliert sich im blau des himmels, den in großer höhe geräusch­los ein flugzeug kreidet. und endlichkeit.

am anfang war das wort. heißt es. aber vor dem anfang war die stille. war doch? ist es nicht so? die anfangsstille. muß so sein. fast spurlos ist sie verschwunden. manchmal ist noch ein knochenabdruck von ihr zu finden (der sternenhimmel, unter dem man liegt, nur das rauschen des eigenen blutes im ohr), eine fußspur (das wasser, in das man abtaucht, ausatmend), der schlaf, in den man sinkt (die zeit, in welcher man wartet). unter jedem wort der fest­getretene schnee. dorthin einmal zurück. und sei es für einen unbemerk­ten vers: geschrieben bergauf im gegenwind. strom­aufwärts ge­schrieben. lachsgleich. laichschwer.
  alles schreiben beginnt mit diesem logischen zirkel: für die these, gedichte könnten leben retten, kann jeder ein schlagendes beispiel geben. der beweis: man lebt.
  und ich? bis vor kurzem schrieb ich immer im glauben, daß es auf jedes wort ankomme. ich schrieb fleißig wenig. als ich nichts mehr schrieb, fühlte ich mich da geläutert? nein. es begann eine zeit innerer raserei (man stelle sich eine katze vor, die von einem fensterbrett aus in den garten schaut; ist die see­schlacht in ihrem inneren vorstellbar?). dem gras neidete ich seine ver­schwie­gen­heit. ich mied menschen, die lasen. ich wechselte die straßen­seite und wechselte erst dann wieder zurück, wenn die umgangene buch­handlung weit genug entfernt hinter mir lag. ich redete mir das schreiben aus. ich hielt es für eine schwärmerei, nicht zu begründen. ich raste wortlos. ich war ein strenggläubiger atheist geworden. der verstand mein schutz­patron. irgend­wann war es vorbei.
  seitdem sehne ich mich nach der stille. seitdem geht es um die stille, das wesen der stille. es ist still, glaubte ich, wenn man nicht schreibt, noch stiller, erfuhr ich, wenn doch.

hochsommer, stille mittage: von oben drückt das aus-verlegen­heit-irgendwie-benannte, von unten stemmt sich der boden gegen das gewicht des körpers, der seinen schatten hinter sich her­schleift wie einen nassen flügel.
  an diesem sonnigen, klaren, freien morgen war ich in den nebel hinaus­getreten. abermals hatte ich den schnee vom sattel gewischt. leute gingen zur arbeit, sangen, trugen seide. pendler, bodenvögel. ich hob das fahrrad über den zaun, fuhr.
  das licht hatte die zeitung aufgeschlagen: auf den getreidefeldern wogten die sätze im wind (in der nacht war ich einmal schon vor hunger aufgewacht). darüber rüttelten lerchen, wollten rein oder raus. ich durchfuhr den schatten der allee wie das skelett eines wals. er spuckte mich in den frühling zurück, noch weiter, ich flog in den winter. in die land­schaft, gegend. kindheits­landschaft, zur heimat ver­fremdet.
  alle jahres­zeiten waren gleichzeitig da, und ich war in allen anwesend. in den gräben trocknete der himmel aus. der himmel flüsterte: licht. oder: schnee. immer näher trat ich heran. ich stand auf den pedalen. auf zehen­spitzen. es war nichts zu verstehn. aber wie still auf einmal alles geworden war. wieder wird. erst leise, dann lautlos. wie alles ver­klungen war, ver­schwunden, verschallt, ver­schollen.

lautloser finkenschwarm.
fällt dem himmel entgegen und wird zurückgeworfen.
birken, im gegenlicht verschwindend, wind um die hüften.
wolken, perücken im spiegelsaal der seenlandschaft.


diese unmaß­gebli­chen betrach­tungen, ich schreibe sie klein. gedichte dagegen sollte man grund­sätzlich groß schreiben. größer als nicht­gedichte, sehr groß am besten. überlebens­große, haushohe buchstaben, länger als der bootsschatten auf dem grund des sees, sommers mit schlag­schatten bis nach babel.
  diese unmaßgeblichen betrachtungen sind ein paar vor­sokra­tische gedanken über die quanten­physik. ach, ich bin ein anachronist: ich glaube an die augen und will die sprache nicht hintergehn. denn es gibt kein zurück. jeder versuch: als wollte man den himmel hinterrücks mit glas einwerfen. es ist alles wie es ist. es gibt kein zurück hinter die sprache, nur ein vorwärts: schweigen, poesie, geschwätz.

so stand ich am see. das wasser berührte mich mit meinen augen. ein schwarm mücken: sägespäne im fallenden licht. am anderen ufer bewachte ein graureiher sein spiegelbild.
  so stand ich am zugefrorenen see. im eis eingebacken ein boot, sein augenaufschlag. auf dem bootsrand der name des ver­stor­benen.

das gedicht ist grund­sätzlich möglich. es ist nur seine abwesen­heit, die schmerzt und schwindlig macht, aber nicht so schwindlig wie jene gottes, der, wenn es ihn gäbe, fest an sich glaubte. ich will sagen: es ist eine utopie. ein papier­schiff. damit es ablegt, muß man den mund öffnen, ins leere blatt blasen. man sollte warten, bis es weit genug entfernt ist vom rettenden ufer. besser es befindet sich auf dem offenen meer. dann sollte man feuer legen. es muß brennen und untergehen. oder es endet als feuerschiff im museums­hafen.

was rede ich. was schrieb ich. es gibt hier keinen see. kein wasser. aber doch wohl die stille. wie sonst konnte ich mich erinnern an sie.

es ist ihr schneefall, während ich die worte festtrete.
es ist ihre lerche, die vom seegrund aufsteigt.


und noch immer kann ich die stille der kind­heit riechen, sie hängt in den kleidern wie rauch, wenn wir vom fest zurück­kommen und uns auf dem weg ins bett im gehen ausziehen, bis wir unsichtbar sind.

jetzt ist es wieder morgen, werktagmorgen, wirklich­keits­morgen. wir wartenden stehen am s-bahn-steig inmitten des lärms. im fahrtwind der züge flattern die zeitungen am kiosk. ein freizeit­ausrüster hat über die länge des bahnsteigs eine schrittbreite werbebanderole auf den boden kleben lassen: winziges, bläulich verloren leuchtendes zelt in einer unermeß­lich weiten polarnacht. daneben ein tucholsky-zitat: „es gibt vielerlei arten von lärm. aber nur eine stil­le.“ darüber müssen wir hinweg­kommen, um die absprung­kante der selbst­mörder und pendler zu erreichen, wenn der zug einfährt. schon fährt der zug ein.

schon sitzen wir auf unseren stimmen.
schon erinnern wir uns an die stille.
schon ist das gedicht fertig.
ein desolater zustand: wir sind voller hoffnung.
und die stille fällt ins wort.
brennende stille.


Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR

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Das Buch im Verlag   externer Link

Kapitel

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2   Reste in der Hosentasche
3   Handwerk und Rätsel
4   Wirklichkeitsmorgen

Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker

Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND

In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder

Ulrich Koch, * 1966 in Winsen an der Luhe. Heute lebt er nahe Lüneburg und arbeitet in Hamburg. Er erhielt mehrere Stipendien sowie den Förder­preis des Stuttgarter Schrift­steller­hauses. Nach Gedicht­bänden im Residenz Verlag erschien 2008 der Band Der Tag verging wie eine Nacht ohne Schlaf (Lyrikedition 2000). Das ab­gedruckte Gedicht stammt aus Lang ist ein kurzes Wort (Lyrik­edition 2000, 2009).

Ulrich Koch  28.01.2010   

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