Im Steinbruch
Lese ich Gedichte, kommt es vor, dass ich neben dem Text, der auf dem Blatt steht, andere, ebenso plausible Möglichkeiten entdecke, wie der Text hätte aussehen können, aber nicht aussieht. Jeder Schreibende, der noch ungedruckte Texte vorzeigt, erhält erbetene oder unerbetene Vorschläge, wie der Text zu ändern sei. Lesen ist wie Schreiben ein kreativer Prozess. Schreiben lässt sich als das Auffinden eines verborgenen, inneren Textes auffassen.
Leser scheinen es dabei oft als unbefriedigend zu empfinden, wenn die implizit im Text angelegten ästhetischen Normative ihnen nicht vollständig in deren konkreter Gestalt gerechtfertigt sind.
Es wird dann oft die „innere Notwendigkeit“ eines Textes vermisst. So will ich nicht sprechen. Denn argumentiert man, dass ein Text einer solchen Forderung gerecht wird, müssen innere ästhetische Messlatten als solche gemeinsam bekannt und akzeptiert sein. Texte, die unbekanntere Verfahren verwenden, werden gegenüber hergebrachten Schreibweisen ins Hintertreffen geraten. Selbst ein Dichter wie Priessnitz, dessen Hauptwerk weit im vorigen Jahrhundert liegt, würde sich nur schwer fassen lassen. Ähnlich verhalten sich die Forderung nach Natürlichkeit und ihre Verwandten.
Dem Streit um das Experiment scheint ein inverses Problem zu Grunde zu liegen. Hier gilt mitunter das Unverständnis des Lesers schon als Beleg dafür, dass neue ästhetische Verfahren zum Einsatz kamen.
Der Glaube, dass ein Gedicht der kreativen Beschäftigung lohnt, löst sich in beiden Fällen nicht über Textelemente ein, sondern dem Autor müssen (überlegene) Einsichten und Fähigkeiten unterstellt werden. Man sähe den „Zufall“, dass der Autor den Text eben gerade so und nicht anders gemacht hat, nur nicht unmittelbar ein.
Lyrische Texte scheinen damit oft etwas von oben herab zu sprechen. So möchte ich meinen Leser nicht anreden, unbeschadet der Tatsache, dass ich mich nicht rechtfertigen muss, wo ein Leser nicht verständig genug ist, zu sehen, warum ich etwas genau so gemacht habe.
Auch anderen ist dies autoritäre Moment befremdlich. Deshalb wird gern von Geschmack geredet und Geschmack sei eben eine Sache, die man habe oder nicht habe, ohne dass in den Blick gerät, dass Geschmacksurteile gesellschaftlich geprägt sind.
Brecht galt erst als geschmacklos, wurde zur ästhetischen Norm und wird heute häufig abgeschmackt genannt. Das Beispiel mag zu wohlfeil sein. Ähnliches ließe sich an Celan oder Kling und denen, die solche Arbeitsweisen fruchtbar machen wollen, beobachten. Zwei Hauptvorwürfe gibt es: Wenn es so sehr nach Celan (Kling) klingt, sei es epigonal, es klänge im Übrigen bei Celan (Kling) doch anders und besser. Man wirft kurz gesagt gleichzeitig beides vor, dass es wie Celan (Kling) sei und dass es dies nicht sei. Man gibt dem Dichter von vornherein keine Chance, sich an Celan (Kling) abarbeitend über ihn hinaus zu bewegen. Es geht also um etwas anderes: Ein junger Dichter, der sich heute solche ästhetische (oder im Fall Celan auch moralische) Hochgespanntheit zutraut, habe die Zeit verfehlt und sei ein Trottel. (Warum war es gestern anders?)
Man kann fortfahren: Warum beruft sich Dichtung der „jüngeren Generation“ so oft auf Gefühl und Authentizität? Weil es ihr zugestanden wird. Heiß und hungrig sei die Jugend. Jede neue Generation wird auch beobachtet, ja überwacht, welche neuen Trends sie erspürt.
Kann man nicht in der jüngeren Dichtung die verschiedensten Umgehungsstrategien für das Pathosverbot einer Generation bemerken, die in einem sich als weitgehend wohlgeordnet verstehenden Gemeinwesen per se als schicksallos zu gelten scheint? Sei es ein Pathos, das sich nur ironisiert oder durch Stimmwechsel gebrochen vorwagt. Sei es, dass sich andere ganz auf ein Alltagsvokabular konzentrieren, das neben der konkreten Bedeutung auf riesige abstrakte Sinnwelten verweist (Auge, Fenster, Tier, Straße etc.), um Bedeutungsvolles zu sagen, ohne darauf festgenagelt zu werden. Je näher man der Gegenwart kommt, desto streitbarer die Beispiele. Ich breche deshalb hier ab. Solche Geschmacksökonomie sei meinen Texten fern!
Wer mit fremder Stimme redet, wer seine Texte zu hundert Prozent aus Fremdtext zusammensetzt, gewinnt eine neue Unschuld. Alternativer Text neben dem Text wird sich nicht ohne weiteres einstellen. (Allenfalls bleiben Kürzungen oder Umstellungen denkbar. Viel Spaß!) Wo er sich am Fremdmaterial abreibt, blendet ein Anspruch an Homogenität und Gefälligkeit nicht mehr Welt aus und kann wieder zum Fluchtpunkt der spracharbeitenden Auseinandersetzung, zur Utopie werden. Ohne des Subjektiven gänzlich zu entraten, wird die eigene Sprache in diesem Bekenntnis zum radikal Künstlichen objektiviert, nachvollziehbar, ja nachschlagbar. Subjektive Momente liegen hier etwa in der Entscheidung stärker mit kleinen Wörtern (Konjunktionen usw.) zu arbeiten als der Durchschnitt der Vorlagen. Außerdem liegt etwas, dass man in erster Näherung semantischen Überraschungswert nennen könnte, höher als bei den meisten Texten aus Jahrbuch und Quellenkunde. (Man decke den Text ab und versuche nach und nach aus der Bedeutung des Vortextes das nächste Wort zu erraten. Je mehr Fragen man braucht desto höher dieser Wert.) Wann ein solcher Überraschungswert in die Beliebigkeit eines anything goes abkippt, wo also ihre Informationsdichte damit nicht mehr steigt, sondern abrupt abfällt, dafür lassen sich sicher subjektiv sehr verschiedene Antworten geben. (Gegengesteuert wird in „Nykur“ durch stärkere Bindekräfte rhetorisch-gestischer Art. Man lese laut!) Dieser hohe Überraschungswert dient nicht zuletzt dazu, in der Form möglicherweise angelegten Inhalten zu entgehen. Freilich wird die Gefahr, dass historische Formen schon an sich bestimmte zeittypische Inhalte transportieren meist überschätzt. Wenn man Simon Dachs Versen vornehmlich solche entnimmt, die nicht barocke Topoi und seine sprachlichen Klischees enthalten, gewinnt man Gedichte, die eher dem Freigeist Lohenstein ähneln. Konsequenter gegen den Strich arbeitend, erreicht man Texte, die etwa solchen aus Peter Geißlers „18 Liedern“ und damit zeitgenössischen Gedichten gleichen. Solche Überraschungswerte sind also wesentliches Element eines Personalstils.
Will man diese neue Unschuld erreichen sind freilich Vorkehrungen zu treffen: Grenzfall des Fremdtextes ist ja schon das Nachschlagen im Duden. Ebenso ein Grenzfall wäre Herta Müllers Verfahren (die Zeitung als permutiertes Wörterbuch). Dass meine Spielregel hier darin besteht, aus einer festgelegten (endlichen) Vorlage ganze Zeilen zu exportieren, ist zunächst rein technische Vorkehrung und nicht mehr als Zufall. (Interpunktion sowie die Schreibung sind frei wie schon im klassischen Cento.) Auf der anderen Seite kommt meinen Schreibgewohnheiten die relative Strenge der Spielregel entgegen. Wenn ich gegen die Widerstände eines Verfahrens anschreibe, rückt mir deutlicher ins Bewusstsein, was ich im konkreten Fall zu sagen habe.
Die ästhetische Ansetzung ist ergebnisoffen und kann scheitern. (Die knappe Mehrzahl der Versuche bleibt in der Schublade.)
Bei dieser Arbeit war die Vielstimmigkeit der Vorlage das Hauptproblem. Deshalb habe ich den Quellcorpus größer gewählt. Ich sortiere die Zeilen zunächst nach dem Zeilenende, um den Suggestionen der Quellzeilen in ihrem Kontext nicht zu erliegen. Welche Zeile von wem stammt, weiß ich so erst hinterher. Wenn eine Zeile meinem dichterischen Umgang liegt, heißt das noch nicht, dass mir der dichterische Ton der Quelle zusagt, wie auch umgekehrt. (Mit Heinezeilen könnte ich nichts anfangen, wiewohl ich den Dichter ansonsten schätze.) Hier werden verwendet: Rilke, Wolf, Nendza, Kuhligk, Hülshoff, Hartung, Schmitzer, Rilke, Bleutge, Brischke, Bleutge, Tellkamp, Keller, Wagner.
Der Titel benennt lediglich Quelle und Thema. Das Thema ergibt sich während des Schreibens und wird am Schluss eingefügt. Es soll nichts als ein erster Lesepfad sein. (Nykur: ein Fabelwesen, eine Art, Metaphern zu verwenden, eine isländische Dichtergruppe.) Um Themen geht es mir nur mittelbar.