Umkreisungen 25 Auskünfte zum Gedicht
Herausgegeben von Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt
Mit Beiträgen von Andreas Altmann, Klaus Anders, Jürgen Brôcan, Matthias Buth, Hugo Dittberner, Dieter M. Gräf, Martina Hefter, Manfred Peter Hein, Henning Heske, Stefan Heuer, Norbert Hummelt, Ulrich Koch, Jan Kuhlbrodt, Norbert Lange, Christine Langer, Stefan Monhardt, Jürgen Nendza, Tom Pohlmann, Marion Poschmann, Bertram Reinecke, Lars Reyer, Walle Sayer, Ludwig Steinherr, André Schinkel, Mathias Traxler
Vorwort | Nachwort
Martina Hefter
Da Unapfl
Sickat wos ins Hirn? Nüance, Riesln,
a Strichal siaß, zwoa Fadn bitta, oda ned? Geh.
Kannstma nix vaklickan. So wie ois noch
nix schmeckd is aa nix an Freudnschrei wert.
Offnbarung, naa, beiß nei in d’Luft und schlaf.
Aufjauln, null, bei so am flochn Graph
bist du bloß der der moant er fuit wos,
flehst um Licht bei iargndam Boss – dea sogt: erzähl!
Und glaubds ma schlogt an Salto
wenn vor seine Fiaß da kurze Abriss gschafft is?
Gengdeil! Ganz Matsch, siaß’ Mehl,
an Datschn host, im Hochdeitsch:
Apfel-Pulp im Schädel.
Des kenntsa ned? Omei. Omeitsch.
Da Apfl
Mundart-Gedichte – mir fällt der fränkische Dichter und Dramatiker Fitzgerald Kusz ein, den ich in einigen Lyrik-Jahrbüchern entdeckte. Ich mag, wie Kusz scheinbar selbstverständlich im Dialekt schreibt, ihn aber gleichzeitig als Kunstkniff anwendet. Kusz schreibt wie gesprochen – oder? Der Dialekt ist doch bei ihm Kunstgriff; kann es dann wie gesprochen sein? Ich dachte immer, nur durch größtmögliche Künstlichkeit entstehe das. Außerdem fallen mir die Weanerischen Gedichte des H.C. Artmann ein – wo das Gedicht auf den ersten Blick wie in einer Fremdsprache geschrieben scheint, und erst nach einer Weile entpuppt es sich als die Sprechweise alteingesessener Wiener – entsteht der Klang im Kopf des Lesers, oder entsteht dort neu, wird wieder neu zusammengesetzt.
Das wollte ich gar nicht schreiben: ein Gedicht über eine Apfelsorte in einer Art imaginiertem „Hochoberbayrisch“, um die vielen Nuancen, die es da sicher gibt, zu vernachlässigen. Nicht im Allgäuer/Pfrontener Dialekt, wie es vielleicht meine Herkunft verlangen müsste (und in dem Fall müsste ich noch differenzieren zwischen Steinach-Pfrontener und Berg-Pfrontener Dialekt, denn es gibt eine Dialektgrenze in Pfronten, die ungefähr mit dem Lauf der Vils übereinstimmt, die von West nach Ost den Ort durchschneidet).
Ich hatte vielleicht den breiten, immer etwas grantelnden Ton von Alfred Pongratz im Ohr, der in meiner Kindheit dem Meister Eder die Stimme lieh, in dessen Schreinerwerkstatt der Pumuckl wohnte. Nachmittage, eingetönt von/in Vertonungen. Die Pumuckl-Bücher von Ellis Kaut. Das Bayrische des Meister Eder: etwas Vertrautes, Väterliches, zugleich eine wilde, fremdartige Sprechform. Ein Volkstanz aus dem Süddeutschen Raum, der Chiemgauer Dreher, der Sautanz, die Kreuzpolka, der Kikeriki. Schafkopf spielende Männer, Karten auf den Tisch hauend, begleitet von allerlei Schimpfkanonaden, denen ich in einem Wirtshaus am Chiemsee zusah, als Kind, während eines Ausflugs. Ja Sakra! Eine fremde und zugleich vertraute Erinnerung, die ihren Weg ins Gedicht fand, an einem Sommertag 2008, ein plötzlicher Blitz.
Geschah das zuerst aus rhythmischer Verlegenheit? Weil sich hier und da die Silbenzahl gegenüber dem Hochdeutschen zum Besseren änderte? Aber ich hatte das Gedicht vorher nicht im Hochdeutschen geschrieben und machte diese Feststellung erst nachträglich. Als wäre das Hochoberbayrisch erst durch das Gedicht geboren. Ich hatte eine Sprache erfunden.
In der Kaufhalle stand ich vor den verspiegelten Regalen mit den vielen verschiedenen Apfelsorten. Die alten, ehrwürdigen Sorten. Die grünen, harten, die Jahre überdauernden Sorten. Die Sorten der Gegenwart, pink und riesig, technoide Züchtungen, irgendwie obszön. Was hatten sie denn mit mir zu tun? Was hatte ich mit den Äpfeln zu tun? So viel, wie ich mit der übrigen Welt auch zu tun habe. Darin der Apfel: Verführung, Erkenntnis. Der sterbende Aristoteles beschnuppert einen Apfel. Aus dem betörenden Geruch schöpft er die Kraft, seinen Schülern ein letztes Mal seine Theorie darzulegen (nachzulesen in: Liber de pomo / Buch vom Apfel, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main). Der Apfel ist sein eigenes Auto.
Diese höchst unterschiedlichen Apfelgebirge in der Kaufhalle grüßten mich täglich und wurden immer lebendiger, ein prima Schatzkästlein, was Bilder, Typen, Gerüche, was Gedanken über Menschenähnlichkeit angeht. Ich war schnell versucht: Die Äpfel sprechen. In den zwei möglichen Bedeutungen des Satzes.
Irrationales: Meine Mutter, die über die Weihnachtstage keine Wäsche im Keller aufhängt, weil zu dieser Zeit die Geister fliegen, und wenn ihnen der Weg versperrt ist, werden sie wütend und könnten es sich einfallen lassen, Unglück ins Haus zu schicken. Daran glaube ich auch. Gerne würde ich sagen, ich glaube nur deswegen daran, weil, indem man an Geister glaubt, die Räume, innerhalb derer man sich bewegen kann, größer werden. Weil man dann wenigstens in der Vorstellung mit den Geistern im Keller fliegen kann. Aber ein Gedicht lebt nicht von der Vorstellungskraft. Eher von einer Art Muskelkraft („hat es Muskeln?“ Marianne Moore). Die Erfahrung, die ich durch das Glauben an Geister mache, ist vollkommen nutzlos für meine Gedichte. Wohin dann mit dem Geisterglauben und der Gewissheit, Dinge seien durchaus beseelt?
Früher, noch zu Zeiten, als das Gedicht entstand, dachte ich, dass man ständig nach Erweiterung seines Erlebens (nicht: Wissens, Denkens o.ä.) streben müsse, um dann mit diesem extrem ausgedehnten Erlebten in seiner kleinstmöglichen Reduktion zu arbeiten, vielleicht als einem Nachhall. Das wäre dann, was man Erfahrung nennt.
Die Reduktion des Aberglaubens auf ein kleines, für diese Gedichte irgendwie wohltuendes Maß wäre deren ihnen innewohnende und sie gleichzeitig stützende, wenn nicht sogar generierende Erfahrung. Aber Moment mal! (So entstand vielleicht das Wort Aberglaube – dem Glauben (an Geister etc.) ein „Aber“ nicht vorangesetzt, sondern übergestülpt.) Ich glaube jetzt gar nicht mehr, dass das Urbar- oder Schiffbarmachen des Aberglaubens zu einer Erfahrung der Weg war zu diesen Apfel-Gedichten. Sondern das reine, breite Sich-Aussetzen dem Erleben – was in diesem Fall das Gegenteil von Erfahrung ist.
Die Äpfel sprachen zu mir. Sie sprachen auch miteinander, boxten sich, stichelten, versuchten, sich aus der Pyramide wegzurollen, so dass alles einstürzen musste. Oder alle wollten gleichzeitig nach oben. Man musste sie einfach anbrüllen: jetzt schauts dass a stad seids! Auch musste man manchmal Mitleid mit ihnen haben, so eingepfercht lagen sie da. Und manche Sorten konnte ich einfach nicht leiden. Die Crisp Pink-Zicken.
Die Apfel-Gedichte sind vielleicht mein Versuch, das Erlebte unmittelbar in Sprache zu transformieren, eigentlich hätte es gleich in der Kaufhalle geschehen müssen.
Der Apfel, unser ständiger, stiller Gefährte. Wie unser Leben von den Vögeln draußen begleitet wird, ohne dass wir uns dessen ständig bewusst sind, wird es auch von den Äpfeln begleitet. Geh in die Kaufhalle. Geh zum Eck-Vietnamesen. Geh zum Konsum.
Vor dem bayrischen Gedicht hatte ich bereits vier hochdeutsche Gedichte über andere Apfelsorten geschrieben. Den Grad der Beseeltheit der Äpfel dokumentieren? Den Grad meines Aberglaubens? Die Geister in den Äpfeln bannen? Die Gefahr bei dem Unternehmen: Geht man übergenau vor, verschwindet der Gegenstand. Wird man nur komisch, bleibt alles zu deutlich. Der Apfel ist ja annähernd rund, alle Deutungen und alle meine Versuche über Deutung prallen an ihm ab. Der mir zugewandte Apfel wirft mich in meinem Zuwenden zurück, ich bin nichts als die mal mehr, mal weniger klare Spiegelung oder der huschende Schatten auf seiner Schale. Viel eher als er bin ich der Geist.
Möglich, dass sich das halb zerfressene, gesägte, bearbeitete Skelett einer Sonettform für die Apfel-Gedichte beinahe von selbst wählte. Nichts erscheint mir runder und strahlender, gleichzeitig in sich abgekapselter als das Sonett. Das Sonett ist wie ein perfekter, makelloser Apfel. Abergläubig oder aber gläubig zögere ich immer, mich der Perfektion hinzugeben. Das geht in den Bereich der Sünde: Hoffahrt, Prunksucht.
Übrig geblieben sind kleinste Rest- und Stützstrukturen, my private Aberglauben, und fünf Apfel-Ex-Sonette, mit einem bayrischen Abschluss. Es könnte der unmögliche, weil perfekte Text selbst sein, der ein stiller Impulsgeber war. Wenn ich sagen könnte, die Apfelgedichte kreisten (nicht nur der Form nach) um die Unmöglichkeit eines unmöglichen, weil perfekten Textes, und diese Möglichkeit sei mit dem Text in den Text gekommen, wobei der Apfel sowohl das Medium als auch die Hülle war, die alles zusammenhielt, wäre sogar der Aberglaube mit drin, und ich hätte für alles eine vernünftige Erklärung.
1 Granny Smith
Im Vorbeigehen schaut man hin halb
aus Versehen halb aus Interesse an Versehrtheit,
sucht den Fingernageleindruck, welkende
Kerbenränder, findet Politur und fragt
nach deren Sinn. Plastik vortäuschen?
Nein. Abglanz einer Schaumbadphase,
Aldehyde, Farbe Ara, der Berentsen-Ära.
Was man als erstes fühlt: harten heißen Glanz
der Fingerkuppenrillen zusammenschmilzt.
Rühr hier nichts an. Bleib in deiner Gegenwartsblase
und glaub es nicht, dass so ein Gleißen noch
deine Blicke ritzt. Fast zerfließt die Welt zu Schmelz,
zu Weltschmelz
im Kaltglanz einer unwürdigen Pyramide.
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Jürgen Brôcan und Jan Kuhlbrodt (Hg.)
Umkreisungen
25 Auskünfte zum Gedicht
poetenladen 2010
ISBN 978-3-940691-11-8
192 Seiten, 15.80 EUR
portofrei lieferbar
Das Buch im Verlag
Kapitel
1 Die Innenseite des Papiers
2 Reste in der Hosentasche
3 Handwerk und Rätsel
4 Wirklichkeitsmorgen
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Vor allem aber rücken einige Dichter dem Leser erstaunlich nah, ohne dass der Zauber ihrer Verse durch das Erhellen der Erlebnissituation leiden würde, aus der ihr Beitrag hervorgegangen ist.
Am Erker
Illustratorin Miriam Zedelius kleidetete die Umkreisungen subtil in ein Leichtigkeit verheißendes Gewand.
ND
In der unterschiedlichen Herangehensweise der Autoren liegt zugleich die Stärke des Bandes: So individuell wie die Autoren und ihre Gedichte sind auch die Perspektiven auf den eigenen Text.
Zeichen & Wunder
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Martina Hefter, * 1965 in Pfronten im Allgäu. Ausbildung zur Tänzerin und Arbeit als Tänzerin für zeitgenössischen Tanz in Berlin. Später studierte sie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2008 erhielt sie den Lyrikpreis Meran. Weitere Auszeichnungen: Hermann-Lenz-Stipendium, London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. 2008 erschien der Roman Die Küsten der Berge (Göttingen: Wallstein). Im Frühjahr 2010 erscheint ihr neuer Gedichtband bei kookbooks.
Martina Hefter 30.12.2009
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UMKREISUNGEN
netz und buch
Wöchentlich folgt
ein Beitrag online (*)
Jürgen Brôcan: Einige Vorsätze
Die Geometrie des Gedichts
dannmals, baldhin, dadorthier
Einige Zusammenhänge
SIND NOCH SCHWALBEN DA?
Ein Gedicht und seine Geschichte
Drei Gedichte – Zyklisches Schreiben
wärme (Kapitel: Wirklichkeitsmorgen)
ich denke oft an pieroschka bierofka –
ein sattes grün in kleinen schritten
Luftwurzeln
Hochhäuser bestimmen
Selbstdiagnose
Im Steinbruch
Da Apfl
die stille fällt ins wort
Fragmente einer naturwissenschaftlichen Poetologie
Belladonna
Bin wieder hier vorbeigekommen und habe diesen Text gesagt
L’ autre monde oder:
Von der Unmöglichkeit
Ins Leere
Mikroklima, Mikroflora, Mikrofauna
Nomaden
Das Pferd betreffend (Stücke)
Kraniche am Himmel –
oder wie ein Gedicht entsteht
J. Kuhlbrodt: Vom Diskurs zur Freiheit
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