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MDR-Literaturpreis 2007

Sind Zehennägel literarisch?

Der MDR-Literaturwettbewerb gibt jedes Jahr dieselben Fragen auf

Ein Bericht von Katharina Bendixen
Was passiert da eigentlich allfrühjährlich im Haus des Buches? Sieben Autoren, deren Texte aus ungefähr 2.000 Einsendungen ausgewählt wurden, lesen um insgesamt 6.000 Euro, und die offizielle Überschrift dieser Show heißt: »Die Suche nach der besten Kurzgeschichte«. Michael Hametner, der den MDR-Literaturwettbewerb vor zwölf Jahren ins Leben rief, wird nicht müde, diesen Superlativ den ganzen Abend zu wiederholen. Sein Co-Moderator Ulf Heise glänzt dagegen mit hölzernen Formulierungen und scheut auch nicht davor, die Autoren unsanft zu behandeln (»Zur Zeit sucht der Autor einen Verlag für seinen Roman. Wird schon noch!«). Die musikalische Begleitung, da ist man sich einig, ist noch beliebiger als im letzten Jahr; das Ambiente, wiederum Einigkeit, gleicht dem eines Krankenhaussaals; die überregionale Presse bleibt aus; das Publikum nimmt jedes Jahr ab; der Abend ist zu lang, zu zäh. In der Pause, nach den ersten zwei Geschichten, verlassen ein paar Zuhörer leise schimpfend den Saal. »Diese Texte sind ungefähr so literarisch wie mein kleiner Zehennagel«, sagt einer.

Aber gut, es geht nicht um Atmosphäre, nicht um Musik und Presse und eigentlich auch nicht ums Publikum, sondern es geht um Literatur, um Preise, um »Entdecken«, um Namen-von-jungen-Autoren-auf-die-Fahnen-des-Wettbewerbs-Schreiben. Einige, von denen man heute spricht, wurden in den letzten Jahren hier prämiert: Franziska Gerstenberg, Claudia Klischat, Clemens Meyer. Sie haben gute, vielleicht sogar beste Kurzgeschichten gelesen. Wie aber beurteilt man, was die »beste Kurzgeschichte« ist? Was genau eine gute Kurzgeschichte für die Juroren des MDR darstellt, erfahren wir an diesem Abend nicht. Immerhin erfahren wir es aber aus der letzten Anthologie Eisfischen: In einer MDR-Kurzgeschichte wird etwas erzählt, »was irgendwo anfängt, einen Fortgang nimmt und ein Ende findet, der sich vom Anfang unterscheidet«. Viele Einsendungen, schreibt Hametner im Vorwort dieses Bandes, seien keine Kurzgeschichten. Ob dies an der Unfähigkeit der Autoren liegt oder an ihrer Kapitulation vor dem ungreifbaren Phänomen Sprache und einer damit verbundenen bewussten Weigerung, Geschichten zu erzählen, sei dahingestellt. Fakt ist: Keine Geschichten schickt man besser anderswohin.

Anfänge, Fortgänge, Enden: Es geht im Haus des Buches eher um Inhalte als um Sprache. Das Handwerk ist bei den meisten Texten des Abends solide bis mittelmäßig, sprachliche oder dramaturgische Wagnisse finden sich in keinem Text. Thematisch sind fast alle Texte interessant, Abwechslung stellt sich aber doch erst im zweiten großen Leseblock ein, denn in den ersten vier Texten wird auf unterschiedlichem sprachlichen und literarischen Niveau um den großen Komplex Familie gekreist: Die 1951 geborene österreichische Autorin Margarita Fuchs erzählt in Roma von einer Frau, die ihre alzheimerkranke Mutter aus dem Pflegeheim holt, mit ihr einen Ausflug zum Flughafen macht, dort eine Reise nach Rom imaginiert und sich zunehmend von der Situation überfordert fühlt; die 1966 geborene Redakteurin und Texterin Gerda Schwarz schreibt in Marvin die Geschichte einer asozialen Mutter und deren Sohn Marvin, der sich nach Kormoranen sehnt; der 36-jährige Berliner Journalist und Schriftsteller Philip Meinhold beschreibt in Vermintes Gelände aus der Perspektive des Sohns einen dementen, alkoholkranken Vater, der im Krankenhaus seinen baldigen Tod erwartet und ihn doch jede Minute wieder vergisst. Drei Eltern-Kind-Beziehungen also, von denen vor allem Meinholds Text die komplexe Problematik stilistisch souverän und erzählerisch dicht darstellt. Meinhold erhält schließlich auch sehr verdient den dritten Preis, Fuchs den zweiten. Warum?

Die Jurybegründungen gehen leider alljährlich in einer Hektik unter, die wohl mit der Live-Übertragung zu tun hat, so dass die Platzierungen unklar bleiben, genauso wie am Ende des Abends niemand weiß, was es mit den neu eingerichteten Förderpreis auf sich hat, der neben den drei Preisen dieses Jahr zum ersten Mal vergeben wird. Die 25-jährige DLL-Absolventin Marie T. Martin erhält ihn für ihre sommerliche Dorftragödie Grünspan, den letzten Text aus dem ersten großen Leseblock. Grünspan erzählt von zwei Geschwistern, die von ihren Schulkameraden drangsaliert werden, weil ihre Eltern »Scheiß-Studenten« und Zugezogene sind. Martin entwirft auf engem Raum ein dichtes Beziehungsgeflecht, das in einem Schwimmbad schließlich dramatisch endet – ein Text, der mit seiner ehrlichen, nicht abgegriffenen Emotionalität auch einen der drei Preise verdient hätte. So bleibt der Beigeschmack, dass Martin lediglich ausgezeichnet wird, weil sie die jüngste Autorin des Abends ist.

Nach der Pause verschwindet die Familie und erweitert sich der thematische Kreis, sprachlich und stilistisch ändert sich jedoch nicht viel. Der Literaturwissenschaftlicher Roland Wolff erzählt die überkonstruierte Geschichte Die Schwäne, in der ein Reisender nach einem Unfall in einem Dorf bleiben muss, mit Fremdenzimmer, Leichenschmaus, vorübergehender Amnesie. Wolff scheint verzweifelt Kafka grüßen zu wollen, und das Ganze gipfelt in der eigenen Interpretation: »Sind wir nicht alle Totengräber?« Glücklicherweise folgt an dieser Stelle der Theaterautor, Schauspieler, Klangkünstler und originelle Erzähler Carsten Schneider, der schon vom letztjährigen Open Mike und dem Literaturpreis Prenzlauer Berg bekannt ist. Im Vergleich zu den an Skurrilitäten überbordenden Texten dieser Wettbewerbe bleibt Stadt über die Abenteuer eines dörflichen Ehemanns in der Großstadt jedoch etwas halbherzig.

Als letzter liest schließlich der 1971 geborene Gymnasiallehrer Moritz Heger den Text Ins Schwimmbad und gewinnt wenig später sowohl Publikums- als auch ersten Preis. Merkwürdigerweise finden sich genau in diesem Text ein Anfang, ein Fortgang und ein Ende am wenigsten: Heger entwirft das Psychogramm einer zwanghaften Lehrerin kurz vor der Rente, die ihre Schützlinge ebenso hasst, wie sie ihr Zuhause mit dem Sekretär von 1875 und einem Glas Rotwein liebt. Genau wie im Gewinnertext des letzten Jahres spielt die Beschreibung eines »Arschs« eine zentrale Rolle. Heger verschweigt wenig, sondern arbeitet vordergründig und höchst unsubtil, und wahrscheinlich ist es genau das, was sowohl Jury als auch Publikum überzeugt. Keine Frage, dass sich bei dieser Art zu schreiben eine starke Textwirkung einstellt, ein Bedauern und gleichzeitiges Belächeln einer Frau, die nicht zugeben will, dass sie am Leben gescheitert ist. Fraglich aber, ob diese Wirkung beim Wiederlesen anhält oder ob hier nicht nur mit dem Holzhammer gearbeitet und auf kurzfristige Gefälligkeit gesetzt wurde.

Publikum und Jury stimmen nicht nur in der ersten Platzierung überein, auch Fuchs und Meinhold finden sich auf den vorderen Plätzen der Publikumswertung, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge. Waren diese drei Gewinnertexte wirklich so gut? Oder waren die anderen Texte wirklich so schlecht? Nein: Martins Dorftragödie und Meinholds Vater-Sohn-Text bleiben die besten Geschichten des Abends, nicht wegen ihres Anfangs, Fortgangs und Endes, sondern aufgrund ihrer sprachlichen Souveränität und der Vielschichtigkeit ihrer Charaktere. Aber wie kann es eigentlich sein, dass bei rund 2.000 Einsendungen die sieben Endrundentexte mehrheitlich auf mittelmäßigem Niveau bleiben? Man kann den Texten des Abends die eindimensionale Auffassung einer Kurzgeschichte nicht vorwerfen. Poetologisch ist die Forderung nach Handlung und Entwicklung sicher berechtigt, aber sie ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr zeitgemäß. Deshalb verwundert es auch nicht, dass sich sowohl Publikum als auch Presse mit Desinteresse abwenden.

Was passiert allfrühjährlich im Haus des Buches, abgesehen davon, dass jede Menge Geld verteilt, dass entdeckt und mit stolz geschwellter Brust von den Entdeckungen der letzten Jahre gesprochen wird? Es erfolgt eine Kürung unklarer Superlative, was am Ende jedes Jahr folgendermaßen aussieht: Neue Entdeckungen halten Blumensträuße in den Händen und schauen in Kameras der regionalen Presse. Ein letztes beliebiges Lied ertönt im kühlen Charme des großen Saals. Der Zuhörer mit den unliterarischen Zehennägeln verlässt nun lauter schimpfend das Haus des Buches. Er hat den schönsten Satz des Abends gesprochen.

Katharina Bendixen     09.05.2007

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch