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Nihilistische Bücherflucht

Paul Ingendaay – Warum du mich verlassen hast

Paul Ingendaay | Warum du mich verlassen hast (Roman 2006) Seit fünf Jahren schon wohnt der 15-jährige Marko im Collegium Aureum, einem katholischen Jungeninternat, in dem es in der Schädelstätte jede Woche das gleiche Essen gibt und dessen Schwestern ihn wohl noch jahrelang in seinen Alpträumen verfolgen werden. Vor allem Schwester Gemeinnutz hat ihn gehörig traumatisiert, indem sie die ewige Maxime der Schule Gemeinnutz geht vor Eigennutz in einer nicht enden wollenden Litanei wiederholte, keine Nietenhosen in ihren Unterrichtsstunden duldete und allwöchentlich in der Stunde der Wahrheitserforschung mit psychischer Grausamkeit einen einzelnen Jungen dem Spott der Klassenkameraden aussetzte. Markos Eltern sehen jedoch keine andere Möglichkeit, ihre Eheprobleme vor ihrem Sohn zu verbergen: Wenn er nicht zu Hause ist, müssen sie ihn nur einmal wöchentlich während der Telefonate für ein paar Minuten belügen.

Aber schließlich kommen die Eltern nicht mehr umhin, ihrem Sohn zu erklären, dass sie sich scheiden lassen. Für Marko bricht eine Welt zusammen, hat Schwester Gemeinnutz ihren Schützlingen doch jahrelang eingetrichtert, dass die Kinder geschiedener Eltern zu bemitleiden und besonders in die Gebete einzuschließen seien. Der strenge Alltag im Internat mit den wenigen Freiheiten, die Abwesenheit von Mädchen und die unausweichliche Auseinandersetzung mit Gott stürzen den Jugendlichen nur noch mehr in seine Pubertätskrise. Der einzige Strohhalm ist für Marko der Nihilismus, den er zu seiner Weltanschauung erhebt, und die Lektüre von Büchern wie Robinson Crusoe oder Der große Gatsby, über die er sich mit Bruder Gregor, dem einzig menschlichen und einfühlsamen Angestellten im ganzen Internat, unterhält.

Siebzehn Jahre hat Paul Ingendaay, Kulturkorrespondent der FAZ in Madrid und u.a. Mitherausgeber der Patricia-Highsmith-Werkausgabe, an dem Roman Warum du mich verlassen hast geschrieben, hat ihn verändert, umgestellt und neu formuliert. Fast hatte er das Manuskript verworfen, doch im letzten Jahr schrieb er das gesamte Buch noch einmal neu – und daran hat er gut getan, denn der Roman Warum du mich verlassen hast ist ein stimmiges, eindringliches und dichtes Bild einer Jugend, deren Sinnsuche jegliche Bezugspersonen fehlen: Marko fühlt sich verlassen von seinen Eltern, die nur mit sich selbst beschäftigt sind und ihren Sohn dabei völlig zu vergessen scheinen, von den Lehrern im Internat und von den katholischen Brüdern und Schwestern, deren Weltbild allzu sehr von Gott und den zehn Geboten bestimmt ist.

Ingendaay schreibt den Roman bewusst in einer jugendlichen Sprache, die auch auf Leser-Anreden nicht verzichtet und dabei aber nie gestelzt oder anbiedernd wirkt, sondern immer genau und ehrlich die Stimmungen und Gefühle seines Protagonisten wiedergibt. Eindrucksvoll gelingt es ihm, die Waage zwischen naiven, kindlichen Gedanken, Trinkspielen und heimlichen Zigaretten, pubertären Überlegungen über beigefarbene Wollpullover bei Mädchen und philosophischen Betrachtungen über die Literatur zu halten und ein authentisches Bild eines verzweifelten, in Grundzügen aber doch hoffnungsvollen Jugendlichen zu zeichnen.

Warum du mich verlassen hast ist aber nicht nur ein Entwicklungsroman, sondern auch ein Roman über andere Bücher, darüber, wie diese den Alltag vereinfachen und strukturieren, wie sie dem Einzelnen helfen oder ihn verletzen und sogar töten können. Wenn Marko beginnt, seine Freunde Montag, Dienstag und Mittwoch zu nennen, ist Robinson Crusoe lebendiger denn je, und Marko selbst wird zum Robinson Crusoe, zu einem gestrandeten, einsamen Inselbewohner – denn das Internat ist eine Insel –, der seine Umgebung kritisch beobachtet, seine Überlebensmöglichkeiten und -motivationen gründlich abwägt und sich bald mit seiner scheinbar ausweglosen Situation abfindet.

Genau wie Clemens Meyers Als wir träumten ist auch Paul Ingendaay mit seinem literarischen Debüt für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Und im Ansatz ähneln sich die Romane auch: Beide beschäftigen sich mit einer verlorenen Jugend, erzählen in Rückblenden, wie diese Verlorenheit entstanden ist, und geben so ein intensives und spannungsvolles Bild einer jungen Generation, die sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden möchte. Die Lebenswelten, in denen die beiden Bücher spielen, und die Lösungsversuche, die die Protagonisten unternehmen, um diesen Lebenswelten zu entkommen, könnten freilich nicht unterschiedlicher sein: Während es für Meyers Protagonisten Drogen und Diebstähle sind, mit denen sie der brutalen Realität zu entfliehen versuchen, sind es für Ingendaays Protagonist die Bücher, in denen er Zuflucht vor seinem allzu behüteten und überwachten Dasein sucht und in denen er sich wiederfinden möchte.

Paul Ingendaay
Warum du mich verlassen hast
Roman
München: SchirmerGraf 2006

Paul Ingendaay, geboren 1961 in Köln, lebt als Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Madrid. 1997 erhielt er den Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik. 2002 veröffentlichte er die Gebrauchsanweisung für Spanien. Er ist Mitherausgeber der Patricia-Highsmith-Werkausgabe in 34 Bänden.

© 10.03.2006  Katharina Bendixen            Print

Katharina Bendixen
Prosa
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Gespräch