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Gabriele Wohmann

Scherben hätten Glück gebracht

Kleine Alltagstragödien

Gabriele Wohmann | Scherben hätten Glück gebracht
Gabriele Wohmann
Scherben hätten Glück gebracht
Erzählungen
Aufbau 2006
Gabriele Wohmann muss in ihrer Wohnung eine Geschichtenmaschine stehen haben. In diese gibt sie ein: beliebige Anzahl der Protagonisten, tragische Situation im Umbruch, zufällige Zeitauswahl. Anders ist die Vielfalt der Erzählungen in Scherben hätten Glück gebracht nicht zu erklären: Geschichten aus allen Perspektiven, Protagonisten aus allen sozialen Schichten, gleichförmige und sich rasant entwickelnde Handlungsstränge, zweiseitige und zwanzigseitige Erzählungen finden sich dort. Dass Wohmann die einfallsreichste und realistischste deutsche Kurzgeschichten-Erzählerin ist, beweist der Band erneut. Realistisch muss dabei allerdings unterstrichen werden: absurde Wendungen, gar übersinnliche Momente oder Verzerrungen der Realität finden sich in ihren Erzählungen äußerst selten. Statt dessen ist Wohmann eine scharfe Beobachterin des Daseins in all seinen vorstellbaren Facetten.

Hemingways Forderung an eine Kurzgeschichte, bei der sich wie bei einem Eisberg nur ein Achtel sichtbar zeigen darf und sieben Achtel der Fantasie des Lesers überlassen sind, erfüllt Wohmann aufs genaueste. In diesem Sinne ist sie nicht nur eine Beobachterin, sondern auch eine Minimalistin: kein Handlungsstrang, kein Satz, kein Wort zuviel. Der untere Teil des Eisbergs, die menschlichen und seelischen Abgründe bleiben für die Vorstellung des Lesers offen. Wohmann gibt Raum zum Weiterdenken, vielleicht auch deswegen sind einzelne Erzählungen von ihr mittlerweile zur Schullektüre avanciert und schrecken durch den Interpretationszwang Jahr für Jahr die junge Generation vom Weiterlesen ab – völlig zu Unrecht.

Kleine Einblicke in Alltagstragödien geben Wohmanns Erzählungen: In der Geschichte Countdown etwa, in der eine alternde Frau auf männlichen Besuch wartet: „Sogar was im Papierkorb obenauf liegt, bei mir spielt das eine Rolle, hatte sie vorhin zu ihrer Freundin Elli gesagt. Ja, bei mir wird sogar der Abfall arrangiert. Und zerknülltes grünes Seidenpapier und eine leere braune Botschafter-Zigarettenschachtel lagen obenauf, und daß er keinen Blick für ihren Papierkorb hatte, musste ihr keiner sagen. […] Noch ein Rundgang. Wundervoll: Wie zufällig liegengelassen der minimale schwarze Slip auf der Badewannenrampe. Rasierzeug auf der Ablage unterm Spiegelschränkchen deutet auf einen Mann hin, den, der auch seine Golfer-Ausrüstung in der Garderobe abstellen darf (oh, was für eine Menge Geld sie für das sperrige Ding geopfert hatte).“

When in Rome erzählt von einer deutschen Frau, die geradezu krankhaft Abenteuerurlaube in der ganzen Welt unternimmt, bei denen sie sich voller Zwang an die einheimischen Sitten anpasst. Dazu gehört auch, eine Jagd auf Antilopen zu unternehmen, die getöteten Tiere zu häuten und zu zerlegen und schließlich zu verspeisen. Dass sie während der Jagd versehentlich vom Sohn ihrer Gastgeber angeschossen wird, macht den Urlaub für sie nur noch authentischer: „Und ich war stolz auf meine Freunde, weil sie ihren Sohn nicht mit Schimpfen und Vorwürfen beleidigten, wir alle behandelten uns wie richtige Jäger, die wissen, worauf sie sich einlassen.“

Unvermittelt sind die Anfänge der Erzählungen, häufig schließen sie genauso unvermittelt und lassen einen aufgrund der beschriebenen Situation bitteren, doch in seiner sprachlichen Perfektion gleichzeitig angenehmen Nachgeschmack zurück. Einzig die Erzählungen, in denen Wohmann allzu offensichtlich auf eine Pointe hinarbeitet, geben ihre eigene Konstruiertheit preis, so zum Beispiel die Geschichte Komisch, nichts weiter, in der eine Besucherin versucht, Abstand zu den Gastgebern zu bekommen: „Ich habe sie also zum ersten Mal komisch und nicht niederdrückend gefunden. Es war wie eine Erhellung. Ohne äußeren Anlaß, bei einem ihrer Überernährungs-Mittagessen. Ich fühlte mich schuldlos und so, als lockerte sich eine Strangulation, und etwas hätte mich von ihnen befreit.“ Dass die Besucherin die Mutter und der Gastgeber ihr Sohn und seine Ehefrau sind, vermittelt sich bereits in einer Vorahnung am Beginn der Erzählung, die Auflösung scheint letztendlich zu einfach und erdacht. Dies ist jedoch ein winziger Wermutstropfen auf lediglich zwei der zwanzig wunderbaren Erzählungen.
Gabriele Wohmann, 1932 in Darmstadt geboren, gehört zu den bekanntesten Schriftstellerinnen Deutschlands. Ihr umfangreiches Werk, in dem sie sich als detailgenaue Beobachterin des Alltagslebens ausgewiesen hat, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Katharina Bendixen     18.12.2006    

Katharina Bendixen
Prosa
Reportage
Gespräch