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Katharina Bendixen
Nur Italien, nur eine Straße

Ich stehe mitten auf der Straße. „Das schaffst du schon“, hat er gesagt und die Tür von innen mit einem lauten Knall geschlossen. Seitdem ist es ruhig hier. Ich laufe. Ich habe meine Sachen am Leib, eine Flasche Wasser in der Hand, eine Packung Zigaretten in der Rocktasche, sonst nichts. Ich laufe, Schritt für Schritt. „Die Straße führt zehn Kilometer geradeaus, schau doch mal, da können wir uns gar nicht verfahren, und am Ende kommt das Dorf, in dem wir links abbiegen müssen“, habe ich bei unserer letzten Pause mit warmem Eistee und Tortillachips gesagt und ihm den Weg auf der Straßenkarte gezeigt, die ausgebreitet auf der Motorhaube lag. „Das ist vielleicht unser letzter Urlaub“, hat er erwidert und gelächelt. „Wieso?“, habe ich gefragt. „Du darfst jetzt nicht mehr einsteigen.“ – „Wieso?“, habe ich gefragt. „Wieso darf ich nicht mehr einsteigen?“ Es war mittags um eins. Ich laufe. Meine Füße sind staubig geworden in den Sandalen, und ein dreckiger Film bedeckt meine Haut. Ich vermisse meine Sonnenmilch, da vorne im Auto, zehn Kilometer entfernt. „Du musst jetzt laufen, sonst ist das vielleicht unser letzter Urlaub.“ – „Spinnst du?“ Dann ist er ins Auto gestiegen und hat die Türen von innen verriegelt. Er hat sich auf den Beifahrersitz gelehnt, meine Scheibe ein Stück heruntergekurbelt und gesagt: „Ich bin mir nicht mehr sicher. Wir brauchen einen Beweis. Wir brauchen einen richtigen Beweis, mit Körper und allem.“ Ich laufe langsam und denke nichts. Die Luft schließt mich ein, wahrscheinlich weicht sie auch nicht schneller, wenn ich renne. Mein Kopf glüht, ich muss das Wasser gut einteilen, zehn Kilometer, das sind zwei Stunden, und ich laufe. Dann pinkle ich mitten auf die Straße, weil sowieso kein Auto kommen wird. Ich muss zwar nicht, aber ich möchte mal eine andere Bewegung ausführen. Links und rechts sind Felder mit trockenem Getreide, vorne und hinten die Straße. „Und nicht dass du zurück in die Stadt läufst“, hat er mich gewarnt, „wir brauchen einen Beweis, sonst funktioniert das nicht mehr.“ – „Kann ich nicht weiterfahren? Du kannst doch auch laufen.“ – „Nein, du bist dir viel zu sicher. Du kommst jeden Abend in mein Bett und redest. Du denkst, wir brauchen nicht mehr. Du bist so selbstbewusst. Du bist so verdammt wichtig. Zeig mir das auch. Zeig mir das mal anders.“ – „Du spinnst doch.“ Dann ist er losgefahren, er ist langsam angefahren, damit ich von der Staubwolke des Autos nicht husten muss. Ich habe trotzdem gehustet. „Du spinnst doch!“, habe ich gerufen. Er hat es bestimmt nicht gehört. Es ist vielleicht mittags um zwei. Wenn es so heiß ist, kann man nicht viel tun. Man kann Auto fahren, man kann sich sonnen, man kann schlafen. Es ist ja seine Idee gewesen, nach Italien zu fahren. Es ist ja überhaupt seine Idee gewesen, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Und es ist auch seine Idee gewesen, mich zu küssen und jeden Tag bei mir anzurufen. Ich stecke trockene Ähren in meine Haare und schaue meinen kurzen Schatten an. Mit meinen Sandalen mache ich mir riesige Ohren und sehe aus wie die Strichfigur einer Dreijährigen. Ich finde meine Schattenbeine zu stämmig und stelle mich auf die Zehenspitzen. „Früher“, hat meine Mutter gesagt, „habe ich mich um die Versorgung und Kommunikation des Bergwerks gekümmert.“ – „Was für eine Kommunikation?“, habe ich gefragt. „Denkst du nicht, dass die auch kommuniziert haben, die Bergarbeiter?“, hat sie gefragt. „Ja, bloß worüber?“ – „Ich war mehr Versorgungsspezialistin“, hat sie gesagt. „Und dann“, hat sie gesagt, „als du kamst, habe ich mich um deine Versorgung und Kommunikation gekümmert.“ Das hat sie auch immer allen Bekannten so erzählt, sie fand es wahrscheinlich witzig. Mein Vater hat jedenfalls immer gelacht, wenn sie das gesagt hat. Ich laufe und habe keine Uhr und hätte gern einen Kilometerzähler an den Füßen. Ich könnte die Zigaretten auf der Straße zu einem SOS-Signal anordnen. Ich könnte mit ihnen auch die Felder in Brand setzen, dann würde mich schneller jemand finden. Aber im Moment kann ich noch laufen. Ich ziehe die Ähren aus meinen Haaren und versuche, aus ihnen einen Kranz zu flechten. Es geht nicht, ständig brechen sie ab. Es ist zu heiß, um gleichzeitig zu rauchen und zu laufen. Ich laufe. Ich ziehe meine Sandalen aus und stecke sie in den Rockbund, meine Hüfte wird dreckig, aber das ist mir egal. Ich laufe schneller, weil die heiße Straße an meinen Fußsohlen schmerzt, ich hüpfe eine Weile, das muss lustig aussehen. Dann gehe ich neben dem Feld am Straßenrand weiter. Eigentlich will ich ihm gar nichts beweisen, denke ich, allerdings muss ich ihm erst mal beweisen, dass ich das nicht will. Am Horizont sehe ich ein Dorf, doch je näher ich komme, umso kleiner scheint es zu werden. Ich trinke das Wasser aus und stelle die Flasche auf die Straße. Ich lege auch die Sandalen dazu. Ich baue eine kleine Familie daraus, die Flasche ist der Vater, die Mutter ist die linke Sandale, sie bekommt Haare aus Getreideresten und spitze Brüste. Das Kind ist die rechte Sandale, es schläft gerade, ich baue ihm ein weiches Bett aus Ähren. „Man könnte auch einfach zusammenziehen und ein Kind bekommen“, habe ich mal zu ihm gesagt, da hat er mich geküsst und gesagt: „Könnte man. Will man aber nicht.“ – „Du rufst doch immer bei mir an“, habe ich gesagt. „Na und“, hat er geantwortet, „du hebst doch auch immer den Hörer ab. Bloß weil man telefoniert, muss man nicht gleich spießig werden.“ Und er hat mich wieder geküsst, und ich habe etwas anderes gesagt. Die Sandalen-Flaschen-Familie ist schon etwas entfernt. Ich zähle meine Schritte, immer nach hundert Schritten lasse ich einen Getreiderest auf die Straße fallen. Es ist vielleicht nachmittags um drei. Ich finde noch zehn Cent in meiner Rocktasche und werfe sie hoch, fange sie auf und drücke sie auf meinen Handrücken. Kopf heißt: Pille absetzen. Zahl heißt: weiterhin Sex verweigern. Zahl. Glück gehabt, denke ich für ihn, obwohl ich mir nicht sicher bin, was er als das kleinere Übel empfindet. „Ich würde gern deine Eltern kennen lernen“, habe ich mal zu ihm gesagt. „Lohnt sich nicht“, hat er geantwortet. „Für sie oder für mich?“, habe ich gefragt. Er hat mich geküsst. „Außerdem ist es so weit zu fahren. Wenn ich schon lange im Auto sitzen muss, dann, um nach Italien zu fahren.“ – „Okay“, habe ich gesagt. Er ist erschrocken. Wieder hundert Schritte. Ich rechne aus, wenn hundert Schritte immer fünfzig Meter sind – es sind mehr, ich weiß, aber so rechnet es sich leichter –, dann muss ich zweihundert Getreidereste wegwerfen, bis ich da bin. Das ist vielleicht ein Brötchen. Wenn ich ein Brötchen hätte, müsste ich nur hundert Schritte gehen und es dann wegwerfen. Ich hätte gern ein Brötchen. Vielleicht würde ich es auch essen. Ich zähle 150 Getreidereste in meine Hand und von meiner Hand in meine Tasche, ein Stück bin ich ja schon gegangen. Ob er Musik hört und sich kalten Eistee gekauft hat? Ich singe: „Zehn kleine Getreidereste waren grad beim Bräunen, da kam ein großer Windstoß, und da waren's nur noch neun. Neun kleine Getreidereste haben sich verkracht, da kam ein dicker Bäcker, und es waren nur noch acht.“ Ich habe keine Lust mehr und summe nur noch. Der Reim auf „fünf“ wird sowieso nichts. Jetzt sehe ich wirklich das Dorf. Ich werfe gleich noch ein paar Getreidereste weg, weil ich mich offensichtlich verzählt habe. Die Häuser sind weiß und ungleichmäßig verputzt und haben Dächer aus ockerroten Ziegeln, wie überall hier. Auf der Straße im Dorf liegen ein paar Scherben und Plastikstücke, ich trete vorsichtiger auf mit meinen bloßen Füßen. Es ist vielleicht nachmittags um vier. Ich laufe, Schritt für Schritt. Ich zähle nicht mehr. „Du bist nie auf deinem Balkon“, habe ich gesagt. „Woher willst du das wissen, vielleicht sitze ich immer draußen, wenn wir telefonieren“, hat er geantwortet. „Aber jetzt“, habe ich gesagt. „Jetzt bin ich hier.“ Und er hat mich geküsst und dabei ein Gähnen unterdrückt, seine Lippen haben leicht gezittert und sich fester gegen meine gepresst, ich habe die verkrampften Kiefernknochen zwischen meinen Händen gehabt, ich habe fest zugedrückt, es muss wehgetan haben, ich habe es später bei mir selbst probiert. Er hat nichts gesagt und wieder gegähnt und mich weiter geküsst. Ich passiere das erste Haus, da entdeckte ich das Auto an der Kreuzung, an der wir abbiegen müssen. Es weist schon in die richtige Richtung. Noch fünf Kilometer, und wir sind am Strand. Fünf Kilometer sind hundert Getreidereste, ein halbes Brötchen. Fünf Kilometer im Auto sind zwei Gähner. Ich setze mich auf die Kofferraumklappe und zünde mir eine Zigarette an. Ich rauche, mein Hintern verbrennt. Vielleicht beobachtet er mich im Rückspiegel. Dann springe ich hinunter und laufe zurück. Ich glaube, mein Sandalenkind wartet auf mich.

Katharina Bendixen  2008 (Erstf. 2005)  

 

 
Katharina Bendixen
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