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Liane Dirks

Im Gespräch mit Marie T. Martin
»Schreiben ist immer ein Amalgam«
  Gespräch        Literatur und Alltag

Illustration: Miriam Zedelius
 

»Ich glaube immer noch,
dass man für gewisse Themen erst wachsen muss.«
Liane Dirks in poet nr. 13



Gespräch in poet nr. 13   externer Link

Liane Dirks wurde 1955 in Hamburg geboren und war nach dem Studium zunächst als Berufs­beraterin tätig. Seit 1985 ist sie freie Schrift­stellerin. Ihr Debüt Die liebe Angst erschien 1986 bei Hoffmann und Campe, es war der erste Roman in Deutsch­land, der das Thema des Kindes­miss­brauchs aufnahm, in einer Weise, die den Opfern eine Stimme gab. Es folgten fünf weitere Romane, zuletzt Der Koch der Königin (Arche 2009). Liane Dirks erhielt zahlreiche Aus­zeich­nungen, darunter das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium, den Märkischen Literatu­rpreis und den Preis der LiteraTour Nord.


Marie T. Martin: Liebe Liane, du hast 1986 debütiert mit dem Buch Die liebe Angst, in dem aus Kindersicht zum ersten Mal beschrieben wurde, was Missbrauch bedeutet. Das Buch hat eine Diskussion über dieses Thema in Gang gebracht. Im Klappen­text, zu Die liebe Angst, heißt es denn auch: »Diese Kindheit ist authen­tisch, aber keine Autobio­graphie«. Wie würdest du das Authentische vom Autobiografischen abgrenzen?

Liane Dirks: Versteht man unter einer Autobiographie das Aufschreiben des Selbsterlebten, dann ist mein erstes Buch Die liebe Angst eine Autobiobiographie. Fängt man an, darüber nach­zudenken, was das Selbsterlebte ist, dann wird es schon schwieriger, denn wir schreiben selten mit, wenn wir etwas erleben, wir erwecken es vielmehr mittels unserer Erinnerung. Und wie trüge­risch oder sagen wir mal besser, wie perspektivisch diese ist, das wissen wir doch alle.

M. T. Martin: Welche Perspektive hast du für das Buch benutzt?

L. Dirks: In der lieben Angst wähle ich die Perspektive des 11jährigen Mädchens Anne, das seine Kindheit erzählt, ein Drahtseilakt, die »Imita­tion« der kindlichen Stimme. Mir war es aber sehr wichtig, es genau so zu erzählen, denn es ging mir nicht darum, das Schreck­liche des Miss­brauchs darzustellen, es ging mir darum zu zeigen, was Kinder da wirklich erleben, wie schwierig es ist, für ein Kind, das seine Eltern liebt, damit umzugehen, wie viel Kraft diese Kinder haben. Ich wollte Zugang ver­mitteln zu dem, was da passiert, Zugang, ohne zu bewerten. Nach wie vor macht das die Kraft dieses Buches aus, das tat­sächlich sehr viel bewirkt hat, eben genau deshalb, weil es »einfach nur« erzählt.

M. T. Martin: Und in der Annäherung an das, was war, liegt dann das Authentische?

L. Dirks: Authentisch sein ist für mich etwas sehr hohes, wann sind wir schon mal authentisch wir selbst. Möglichst dicht an dieses Kind heranzu­kommen, das ich einmal war, aber zum Zeitpunkt des Schreibens nur noch als Teil in mir trug, das war mein Anliegen, mittels Authen­tizität erschafft man neue Wahrheiten. Goethe hat das übrigens ähnlich gesehen, Dichtung war für ihn die um­fassen­dere Wahrheit, wenn sie authentisch war.

M. T. Martin: Wenn es in einem Buch einen auto­biogra­fischen Kern, einen Glutpunkt gibt, wie sehr wird das Erzählte währendes des Schreibens zu Fiktion, bezie­hungs­weise ab wann wird etwas Fiktion, das vom eigenen Erleben ausgeht? Versuchst du bereits vorher eine Art von Distan­zierung, Übe­rhöhung, Ver­fremdung?

L. Dirks: Ehrlich gesagt, interessiert mich die Frage nicht so sehr. Ich sitze nicht da und denke, soll ich jetzt überhöhen? Ich sitze da und denke, wie werde ich meinem Stoff gerecht, was will er von mir, welche Form braucht das, welche Sprache. Wir wissen doch gar nicht, was wahr ist. Ich habe im Roman Narren des Glücks einen Psychiater als Haupt­figur mit Namen Konrad Nemeci, für ihn hatte ich quasi eine Vorlage, den von mir sehr verehrten Sandor Ferenczi, Ziehsohn von Freud, der sich später von ihm abwandte. Ferenczi wollte eine Psychia­trie der Liebe begrün­den, er litt unter der Kühle Freuds. Für mich war das Recherche und dann habe ich eine neue Figur entwickelt. Als das Buch erschienen war, bekam ich Post aus den USA, ein Leser schrieb mir, dass ich mich in den Daten der Auswanderung meiner Romanfigur geirrt hätte, er sei erst später ausge­wan­dert. Aber meine Figur, die gab es gar nicht. Ich wurde dann sogar zu einem Vortrag der psycho­ana­lyti­schen Gesell­schaft eingeladen, weil sie dachten, meine Figur sei jemand anders, auch nicht die Vorlage Ferenczi. Was ist also Fiktion? Ich hatte jemanden erfunden, den es gab.

M. T. Martin: Wunderbar. Die Romanfigur meldet und beschwert sich. Das ist ja wie bei Paul Auster! Was die Begegnung zwischen Text und Lesern angeht konntest du besonders bei Die Liebe Angst miterleben, was Literatur im Leben der Leser auslösen kann: es gab sehr viel Resonanz, Selbst­hilfe­gruppen, Kontakte zu Betroffenen, Briefe. Was hat das bei dir ausgelöst? Hast du daraufhin die Reak­tion von Lesern bewusster mit einbezogen in dein Schreiben?

L. Dirks: Ich habe so viele Lesungen gemacht, ich weiß nicht mehr wie viele, irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich habe wahrhaft erlebt, was Lite­ratur bewirken kann. Ins Schreiben floss das ein, weil es in mich einfloss. Ich weiß bis heute nicht, wie man Reaktionen vorweg nehmen kann oder berücksichtigen kann. Aber ich merkte, dass ich mit dem Thema noch nicht fertig war, obwohl ich es sehr gerne gewesen wäre.


Liane Dirks
Der Koch der Königin
Roman
Arche 2009
M. T. Martin: Du hast das Thema dann viele Jahre später wieder aufgegriffen. In Vier Arten meinen Vater zu beerdigen zeich­nest du das Por­trait von Günther Dirks, der später zum Kinder­schänder wird. Du bettest die Figur ein in eine Zeit, erweckst sie zum Leben, um sie am Ende des Buches zu beerdigen. War das Schreiben eine Art rituelle Handlung? Hat das Buch zu einer inneren Befreiung beitragen?

L. Dirks: Ich habe die Vier Arten geschrieben, als mir klar wurde, und das war und ist äußerst ungemütlich, dass wir mit dem Thema Miss­brauch so­lange nicht zurecht kommen, bis wir nicht fragen, wie diese Täter ent­stehen können. Die Täterzahl ist so hoch, wie kann das sein? Ein Mensch kommt nicht auf die Welt und hat ein Schild auf der Stirn, auf dem geschrie­ben steht, ich werde Kinder­schänder. Und die einzige Möglichkeit ist das Erzählen. Weil es nicht erklärt, nicht analy­siert, sondern eine Geschichte erzählt und Geschich­ten sind dann magisch, wenn sie über sich selbst hinaus­weisen. Die Budden­brooks weisen über die Kindheit und Jugend von Thomas Mann hinaus, sie sind größer und mehr, und wir können ein­stei­gen beim Lesen in diesen Kosmos. Die Vier Arten waren und sind, glaube ich, ein sehr wich­tiges Buch. Ja, und rituell ist das Erzählen auch gewesen, ich habe mich seiner entledigt.

M. T. Martin: Hast du je darüber nachgedacht, der Figur einen anderen Namen zu geben?

L. Dirks: Natürlich habe ich darüber nach­gedacht, ich hatte kurz zuvor Michel Houellebeque kennen gelernt und die Frage mit ihm be­sprochen, so gut das ging. Er war ziemlich betrunken, aber ich dachte, so weit dürften wir doch wohl sein, zu erkennen, dass jede Figur eben eine Figur ist, und Houellebeque hatte das ja gerade vorgemacht.

M. T. Martin: Auch Krystyna oder Und die Liebe, frag ich sie hat einen auto­bio­grafi­schen Kern. Es geht um die Satirikerin Krystyna Zywulska, die Berichte über das Wahrschauer Ghetto und Auschwitz ver­öffent­licht hat und um ihre Liebes­geschichte mit dem Sohn des größten Filmregisseurs der Nazi-Zeit. Der leiden­schaft­liche und unmög­liche Versuch einer gelebten Wieder­gut­machung. Du warst mit Krystyna befreundet, sie hat dir ihre Geschichte erzählt. Wie lange hat es gedauert, bis dann wirklich ein Buch daraus wurde?

L. Dirks: Krystyna war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, ich kann nur jedem raten, wenn Euch große Leute begegnen, greift zu, bleibt dran, das passiert nicht so oft, nutzt die Chance. Sie war eine absolute Heraus­forderung für mich. Sie war nicht nur im Ghetto gewesen, im Widerstand und drei Jahre in Auschwitz, sie war danach auch Polens bekann­teste Satirikerin, eine Mischung, die für uns mit unseren festen Rollenbildern und Klischees schwer vorstellbar ist. Wir wollen ja, dass Opfer anständige Opfer sind und nicht, dass sie zahlreiche Liebhaber haben, so wie sie es hatte. Natürlich verstand ich mit der Zeit, was da nachgeholt werden wollte und welche Wucht des Erlebens in ihr tobte. Ich habe 12 Jahre für dieses Buch gebraucht. Wahrhaft eine lange Geschichte, sie sagte immer, wenn Thomas Harlan, die wahre Vorlage, davon erfährt, erschießt er dich auf der Stelle. Nun, man sieht, ich lebe noch. Am Ende habe ich ihr auf dem Sterbe­bett versprochen, dass ich es aufschreiben werde, sie wollte es, sie sagte immer, ich kann es nicht selbst. Krystyna hat mein Leben verändert in jeder Hinsicht. Wir haben viel gelacht zusammen, ein erstaun­licher Mensch.

M. T. Martin: Krystynas Bericht Wo vorher Birken waren war das allererste Buch über Auschwitz, sie hatte es unmittelbar nach der Befreiung geschrie­ben. Das Exemplar, das in deinem Roman Krystyna nachts von der Sessellehne fällt mit der Stirnseite nach unten, ist heute, 50 Jahre danach, in deinem Besitz. Krystina ist 1992 gestorben, das Buch, das du geschrieben hast, sowie ihre eigenen Bücher gibt es immer noch. Spielte das Thema Bewahrung von etwas Erlebten beim Schreiben für dich eine Rolle?

L. Dirks: Ehrlich gesagt, nicht so sehr. Ich war fasziniert von dieser Geschichte. Dass eine Auschwitzüberlebende sich überhaupt in einen Deutschen verliebt, dann ist er noch 20 Jahre jünger als sie und dann ist er noch der Sohn von Veit Harlan. Krystyna hatte Veit kennen­gelernt, sie hat ihn besucht, ich fand das unge­heuer. Harlan hatte den Film Jud Süß gedreht, aber sie hatte ihm zugehört unter welchen Bedin­gungen dies geschehen war, wie er sich als Künstler in der Nazizeit sah. Unglaublich, das braucht eine unge­heure Offen­heit. Und dieser Glaube der beiden Prota­gonisten, durch die Jagd auf die Täter etwas wieder gut machen zu können. Was ja stimmt, aber es hat auch ihr Leben zerstört und dann ihre Abhängigkeit von ihm, von der Liebe und in seinem Verhalten die herri­schen Züge wieder zu erkennen. Das wollte ich unbedingt erzählen, ja, weiter geben. Es war ein Auftrag, sie hatte mich gewis­ser­maßen ausgeguckt dafür. Was auf mich zukommen sollte, wusste ich ja am Anfang nicht, ich war sehr naiv. Ich tauchte ein in die Geschichte, und ich drohte zu versinken, so wie die beiden versunken waren in den Sumpf der Täterschaft und der Ver­strickungen in Nach­kriegs­deutschland.

M. T. Martin: Eine beeindruckende Geschichte. In diesem Fall wurdest du »ausgewählt«, diese Geschichte zu erzählen, wie verhält es sich denn sonst? Kristal­lisieren sich Themen, die du bear­beiten möchtest, in einem langen Sammel­prozess irgend­wann heraus oder gibt es auch Momente im Alltag, in denen du dir die Zähne putzt und es plötzlich Klick macht, und du denkst, das ist mein nächstes Buch?

L. Dirks: Es ist beides, manchmal trage ich etwas sehr, sehr lange in mir. Ich glaube immer noch, dass man für gewisse Themen erst wachsen muss, viele der aktuellen Bücher sind zu schnell geschrieben, das merkt man ihnen an. Man muss aus­halten können, dass etwas ent­stehen will. Ganz nebenbei gesagt, wenn man das nicht tut, scheitert man auch schnell.

M. T. Martin: Gibt es für dich Tabuthemen beim Schreiben und wie gehst du damit um, wenn du beim Schreiben merkst, jetzt bin ich gehemmt aus diesen und jeden Gründen beziehungs­weise hattest du je Angst beim Schreiben, wenn es an kriti­sche Stellen ging?

L. Dirks: Angst beim Schreiben hatte ich noch nie, Angst ist ein Thema meines Lebens, das ja, aber beim Schreiben mich zu fürchten, nein, noch nie. Die Buddhisten sagen, »gehe dahin, wo die Angst ist«. Dort kann man wachsen, da wartet etwas, das über­wunden werden will, ich finde, damit haben sie über­wiegend recht. Manchmal finde ich das zu hart. Aber Angst ist eine Heraus­forderung. »Mut ist die Gesinnung der Freiheit«, hat der Schrift­steller Christian Geissler mal geschrieben, »und das Ergebnis von Freiheit überwältigt den Mutigen, weil es ihn überrascht. Es ist nämlich Glück.« Diesen Satz hatte ich lange Zeit auf meinem Schreibtisch liegen.

M. T. Martin: Ein sehr schöner Satz. Der Literaturkritiker Hubert Winkels sprach in seiner Laudatio zum Preis LiteraTour Nord von einer »speziellen Komplikation von Literarischem und Persön­lichem, von Text und Leben, von Fiktion und Bio­graphie.« Wo darin ist die Person Liane Dirks? Oder ist sie immer die Autorin Liane Dirks?

L. Dirks: Die Person und die Autorin sind eins. Mich haben schon immer diese Menschen am meisten interessiert und beeindruckt, die authentisch sind, die einfach »sind«. Wie gesagt, ich halte das für eine sehr schwierige Aufgabe, ich glaube übrigens, dass sie damit einhergeht, dass man auf eine gewisse Art durchlässiger wird. Vielleicht hat es etwas mit Präsenz zu tun.

M. T. Martin: Deine Homepage hat den Titel »Leben und Schreiben«. Sind das zwei Pole, die sich gegenseitig befeuern, kannst du dir vorstellen, Dinge, die du nicht leben würdest, aufzu­schreiben?

L. Dirks: Ich trenne das nicht, ich lebe während ich schreibe und ich schreibe vielleicht auch während ich lebe. Der Roman Falsche Himmel spielt in der Zukunft, das habe ich noch nicht erlebt, die tritt ja erst ein, und hoffent­lich nicht so, wie dort erzählt. Schreiben ist Begegnung, immer, uns begegnet das zu Schreibende, aber wir ihm auch. Es ist immer ein Amalgam.

M. T. Martin: Du gibst viele Seminare und Workshops für Menschen, die schreiben wollen. Viele Seminar haben Autobiografisches Schreiben zum Thema, oft auch schon im Titel: den roten Faden finden, die Ge­schichte des eigenen Lebens erzählen. Was geschieht bei den Teilnehmern, wenn sie den roten Faden gefunden haben und beginnen, davon zu erzählen?

L. Dirks: Menschen können beim Schreiben entdecken, dass sie es sind, die die Geschichte schreiben. Sie werden sozusagen nicht geschrieben, und das ist eine ungeheure Entdeckung. Ich sage immer, man ist nicht länger Opfer der Geschichte, man wird zu ihrem Schöpfer. Das setzt allerdings das richtige Ver­ständnis davon voraus, was Geschichten sind. Dass es dieses 1 zu 1 nicht gibt. Es ist eine unglaubliche Befreiung, es gibt Kraft. Es ermöglicht einen liebevollen Blick auf sich und das Erlebte, man kann plötzlich Nutzen daraus ziehen. Und man erkennt sich aber auch als Teil der größeren Geschichte, entdeckt gemeinsame Themen. Ich habe zum Beispiel zur Zeit sehr oft »Kriegskinder oder –enkel« in den Kursen, sie merken dann, dass sie ihr Schicksal teilen, dass die Zeit sie auch geprägt hat, dass sie nicht allein sind.

Der rote Faden übrigens, das ist nicht, was uns geschehen ist, der rote Faden ist das, was wir eigentlich werden wollen (großes Geheimnis, nicht aus­plaudern). Das ist eine Sicht, die alles verändert!

M. T. Martin: Herzstück deiner Seminare ist das Modell des »Erzählten Raums«. Was kann man sich darunter vorstellen?

L. Dirks: Darüber will ich mein nächstes Buch schreiben. Aber kurz gesagt ist es so, dass man begreifen lernt und das hilft bei jeder Art des Schreibens, dass der Kosmos des Erzählten größer ist als des tatsächlich Geschriebenen. Von Anfang an zu begreifen, was alles mitschwingt und wieso das so ist, erleichtert sehr. Ich habe mit Schulkindern in Herne einen Roman geschrieben, als Danke­schön schenkten sie mir am Ende eine Liste mit Dingen, die sie gelernt hatten – sie waren übrigens phantastisch – und da stand: Eine Geschichte ist eine Kugel, in der man spazieren gehen kann. Das war jetzt aber genug aus dem Nähkästchen!

M. T. Martin: Deine Seminare, so liest man, haben bei vielen Teilnehmern zu Lebensveränderungen geführt. Liegt das daran, dass man durch das Erzählen von Verschüttetem und Verdrängtem an neue Lebensquellen kommt? Dass man durch das Erzählen das eigene Erleben verändert?

L. Dirks: Ja, ganz unbedingt. Es ist ja etwas sehr Archaisches, schon immer haben Menschen auf diese Art ihre Erfahrungen und ihr Wissen weiter­gegeben, es ist eine leben­dige Art, eine organische Art und Weise. Man kommt nicht nur wieder in den Fluss, man reiht sich auch ein in den Fluss.

M. T. Martin: Was den Lebensfluss angeht: Dein Leben ist voller Reisen. Du bist in Hamburg, der Karibik, Bayern und Nordhessen aufge­wachsen, warst länger in Mexiko, hattest Gastdozenturen in den USA, gibst Seminare in der Schweiz, in Kroatien und Griechenland. Stellt sich jemals so etwas wie Alltag ein, den man ja immer mit routine­mäßigen Ab­läufen gleichsetzt? Was heißt überhaupt Alltag für dich?

L. Dirks: Gute Frage, ich weiß es nicht so recht. Aber ich habe ein paar »Rituale«. Jeden Abend nochmal in den Himmel gucken, ich mache Tai Ji, jogge. Wenn ich zu Hause bin, gehe ich gern in den Garten, es tut gut, bei all den vielen Gedanken, die Finger in die Erde zu stecken, sich mit Blumen zu beschäf­tigen. Ich habe früher immer eine Heimat gesucht, jetzt, wenn ich auf Reisen bin, habe ich das Gefühl, es geht auch so, meine Heimat bin ich selbst.

M. T. Martin: Lebt man, um zu schreiben, oder schreibt man, um leben zu können?

L. Dirks: Beides, aber man lebt auch noch aus vielen anderen Gründen, zum Beispiel um zu lieben.

M. T. Martin: Oh ja. Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
 

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Marie T. Martin    25.09.2012   

 

 
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