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Gunther Geltinger

Im Gespräch mit Marie T. Martin
Erzählen ist eine gute Droge
  Gespräch        Literatur und Rausch



»Ich glaube nicht an den Mythos des rausch­haften Schaffens, der mit Rauschmitteln durch­schriebenen oder durchmalten Nacht.«
Gunther Geltinger in poet nr. 16   externer Link


Gunther Geltinger wurde 1974 in Erlenbach am Main geboren und lebt heute in Köln. Er studierte Drehbuch und Drama­turgie an der Universität für Musik und Dar­stellende Kunst in Wien und an der Kunst­hochschule für Medien in Köln. Sein von der Kritik gefeiertes Debüt Mensch Engel (Schöffling) erschien 2008, 2013 veröffentlichte er seinen zweiten Roman Moor (Suhrkamp). Gunther Geltinger erhielt unter anderem das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln, das Residenz­stipendien im LCB sowie Stipendien in Edenkoben und auf dem Künstlerhof Schreyahn. 2011 war er Inselschreiber auf Sylt und 2013 För­derpreis­träger des Landes NRW (mit Marie T. Martin)


Marie T. Martin: Lieber Gunther, wenn du das Wort »Rausch« hörst, an was denkst du zuerst?

 

Gunther Geltinger: An die Bedeutung des Wortes im akus­tischen Sinn: das Geräusch des Wassers. Das Rauschen, Stürzen, Tosen von Wasser als Sinnbild entfesselter Kraft, auch von Gewalt. Das Element Wasser mit seinen Eigenschaften spielt in meinen Romanen eine große Rolle: Flüsse durchziehen die Kapitel von Mensch Engel, Moor beginnt mit dem Geräusch des Regens. Sprache ist, neben ihrer Funktion als Bedeutungsträgerin, ein universelles Rauschen bis hin zum Rausch.

 

M. T. Martin: Rausch kann einen Zustand höchster Glück­seligkeit be­deuten, ausgelöst zum Beispiel durch Rauschmittel, aber auch durch Begegnungen oder bei hoch konzen­trierter Tätig­keit. Die Psychologie spricht dann von »Flow«. Ist das Schreiben bei dir ein rauschhafter Zu­stand oder eher eine Quälerei?

 

G. Geltinger: Ich glaube nicht an den Mythos des rausch­haften Schaffens, der mit Rauschmitteln durch­schrie­benen oder durch­malten Nacht. Meine Erfahrung zeigt, dass man kreative Ergeb­nisse solcher Zustände meist zum eigenen und zum Schutz der anderen ent­sorgen sollte. Beim Arbeiten gilt für mich das Gesetz absoluter Nüchternheit und Klarheit. Ich fange unmittelbar nach dem Aufstehen morgens an, wenn der Geist vom Schlaf gereinigt ist und noch nicht »zugemüllt« von den Eindrücken des Tages, positiven wie negativen.

 

M. T. Martin: Also Rauschmittelverbot beim Arbeiten?

 

G. Geltinger: Rauschmittel, auch die bewusst­seins­erweiternden, führen zu Betäu­bungs­zuständen. Ich aber brauche die volle Bewusstseinsbreite, um arbeiten zu können, und zu dieser gehören auch Gefühle, die man im Rausch zu überwinden versucht: Ängste, Zweifel, Ohnmacht. Diesen Zustand jeden Morgen herzustellen, erfordert große Disziplin, ihn über sechs, acht oder zehn Stunden zu halten, viel Kraft und auch die Bereit­schaft zum Verzicht. Also keine Partys, wenn ich arbeite, keine Drogen, keine auf­regenden Begeg­nungen, kein Rausch. Dann kann sich so etwas wie ein tagelanger »Flow« einstellen, der aber nichts Rausch­haftes hat, eher ist es eine anhaltende Phase höchster Konzen­tration, die man selbst nähren und aufrecht erhalten muss. Ein Glücks­fall, ja, Glück­selig­keit, nein. Gelingt es, schafft es Zufriedenheit, kämpft man gegen Mü­digkeit, Lust­losigkeit, den Drang, den Internet­browser zu öffnen, wird es zur Qual.

 

M. T. Martin: Deine Sprache wird oft als rauschhaft bezeichnet, weil sie in alle Richtungen wuchert. In deinem aktuellen Buch Moor sah die Frankfurter Rundschau »Den Furor der Bilder und Metaphern, (…) den Rausch, in den man als Leser unversehens hineingerät«. Es scheint aber ein wohlkomponierter Rausch zu sein, in dem du die Sprache wuchern lässt. Ist das so?

 

G. Geltinger: Mich wundert der Vergleich meiner Sprache mit dem Rauschhaften, also mit dem Chaotischen, Unkontrollierten, denn ich bemühe mich beim Schreiben um höchste Präzision in den Sprachbildern, in der Syntax, im Klang. Vieles, was mir intuitiv, also unkon­trolliert, »im Rausch« einfällt, erweist sich beim zweiten, analytischen Blick als unhaltbar. Es ist lediglich die Basis, auf der dann die eigentliche Arbeit beginnt. Das ist die Seite des Schreibens an sich.

 

M. T. Martin: Was der Autor bewusst anlegt, scheint umgekehrt der Grundstein für die rauschhafte Erfahrung des Rezipienten zu sein. Du hast dem Kritiker den Drogenkonsum erspart.

 

G. Geltinger: Wenn diese höchst nüchterne und konzentrierte Vorgehens­weise auf der Rezeptions­seite, also beim Leser, einen rausch­haften Zustand erzeugt, dann sehe ich mich in meiner Arbeit bestätigt, weil ich die Droge selbst hergestellt habe. Drogen­wirk­stoffe sind ja meist hoch­konzen­trierte Extrakte eines organischen oder chemischen Stoffes. Sie werden mechanisch oder chemisch, also nach klaren Gesetzmäßigkeiten, hergestellt, bewirken aber die Entgrenzung, das Regel- und Zügellose, eben einen Rausch. Rauschhafte Sprache zu erzeugen heißt also, die richtigen Inhaltsstoffe aus dem Materialchaos zu extrahieren.

 

M. T. Martin: Deine Sprache ist sehr lyrisch: Du arbeitest ganz auffällig mit Klang, Alliterationen, Assonanzen, Wiederholungen, Personifizierungen, starken Bildern etc. Gibt es trotz der Klarheit und Bewusstheit beim Arbeiten auch Momente, in denen du selbst hineingezogen wirst?

 

G. Geltinger: In einer gelingenden Schreib­phase fühle ich mich von einem gewissen (Sprach-) Rhythmus getragen, der sich, überlasse ich mich ihm ganz, von alleine fortsetzt, wie ein Puls. Es ist weniger ein musikalischer Rhythmus als eine Art von Bewegung, also etwas Körperliches. Beim hoch­konzen­trierten Arbeiten empfinde ich die Sprache als fast physi­sches Gegenüber, mit dem ich mich, meinen Körper, in Einklang, Gleichklang bringen muss. Bin ich im Takt, entstehen die Sprach­bilder, Klangbilder, Assoziationsketten über Stunden von alleine, das ist dann der berühmte »Fluss«. Doch der ist ständig vom Abbrechen be­droht. Man muss um ihn kämpfen, um ihn aufrechtzuerhalten, verantwortungsvoll mit sich und diesem hohen Gut umgehen. Es ist dann weniger ein Kampf um Worte als ein Ringen um diesen Zustand.

 

M. T. Martin: Das Rauschhafte gibt es in Moor auf mehreren Ebenen: in der Sprache, aber auch im Namen deiner Hauptfigur. Dein Protagonist heißt Dion Katthusen, Dion wie Dionysos. Wie ist dieser Bezug zum griechischen Gott der Antike entstanden?

 

G. Geltinger: Bezeichnenderweise stammt die Idee, Dion, die Haupt­figur, nach dem griechischen Gott der Ekstase zu benennen, von einer Lyrikerin und Sprach­künstlerin, die in ihren Perfor­mances auch sehr stark mit Rhyth­mus und Klang der Sprache und ihrem eigenen Körper arbeitet und somit einen Einklang zwischen Sprechen und Agieren, eine Art Rausch herstellt. Aber auch mytho­logisch betrachtet passt der Name sehr gut in die Motivik des Romans.

 

M. T. Martin: Welche Bedeutungsebenen des Mythos spiegeln sich in dem Roman?

 

G. Geltinger: In einer Variante des vielinterpretierten Mythos wurde Dionysos nicht von seiner Mutter, der sterblichen Semele, sondern von Nymphen in einer Wald­höhle auf­gezogen. Viele antike Bilder zeigen das Kind Dionysos umringt von diesen Ammen, die selbst Zwischenwesen sind. Das Dionysische, das Maßlose der Natur, wurde ihm also in die Wiege gelegt. Außerdem »erleidet« er eine doppelte Geburt: Zu früh aus dem toten Leib der Mutter geborgen, trägt Zeus, der Vater, das Kind selbst aus, eingenäht in seinen Schenkel. Diese zweifache und gegensätzliche Geburt, ein doppeltes Trauma, hat mich sehr interes­siert: Er wird der sterb­lichen Mutter, also dem der Natur zugeordneten Leib entrissen und in den des Vaters eingenäht, dessen Handeln für die Ver­nunft steht, für die Ratio. Auf der obersten, einer eher funktio­nalen Ebene, ist Dion zudem ein Außenseitername, ein Name, der einem Kind der Siebzigerjahre, wo alle Thorsten, Thomas und Tanja hießen, per se eine bespottete Kindheit bereitet.

 

M. T. Martin: Wie wirkt das das apollinisch-dionysische Prinzip (Form versus Rausch, um es sehr vereinfacht zu sagen) in dem Buch?

 

G. Geltinger: Indem Dion beide Prinzipien in sich trägt und sie inhaltlich und sprachlich in ihm gegen­ein­ander an­treten: Als Stotterer ist er tat­sächlich »ein­genäht« in die Sprache, in ihr ver­fangen, sie beherrscht ihn, nicht umge­kehrt er sie, was für eine gelin­gen­den Iden­titäts­bil­dung Voraus­setzung wäre. Ver­nunft bildet sich durch Sprache aus, hier aber ist sie ein wuchern­des, unkon­trol­liertes Urmaterial. Da gibt es eine Re­gres­sions­bewe­gung, eine Sehn­sucht nach Ein­ver­leibung durch die Mutter, hin zu einem vorsprach­lichen Zustand. Gleich­zeitig versucht Dion, sich von der Mutter zu be­freien, weil er erwachsen werden muss. Eine Kraft treibt ihn voran, die andere hält und zieht ihn zurück. Eine dritte arbeitet unab­hängig davon, die Zeit. Im Mahl­werk dieser Wir­kungs­kräfte kann ein Kind nur stottern. Verstummt es, verrät es den abwe­senden, scheinbar im Moor ertrun­kenen Vater, lernt es die Sprache zu be­herr­schen und erlangt Autonomie, wendet es sich gegen die Mutter. Dion wählt einen dritten Weg: Er macht die Landschaft zum Gegen­über.

 

M. T. Martin: Damit hast einen sehr ungewöhnlichen Erzähler: das Moor. Es gibt dem stotternden Jungen eine Sprache, es klingt und tönt, während der Junge nicht reden kann, aber im Besitz von Worten ist. »Ab und zu packt die Natur ein lyrischer Übermut, sie berauscht sich am Pathos und besäuft sich an Worten«, schreibt die Zeit zu diesem Moor. Wie stehen Moor, Junge, Sprache und Rausch in Beziehung?

 

G. Geltinger: Es ist genau so, wie du sagst: Das Moor verfügt über Stimmen, hat Geräusche und Laute, einen Rhythmus, der sich in der Abfolge der Jahres­zeiten nieder­schlägt, aber keine Sprache. Dion hat Worte, kann sich aber nicht artiku­lieren, um sich in seinem sozialen Umfeld zu behaupten. In der Synthese der beiden, einer Art Sprach­symbiose, finden beide zu einer gedachten Sprache, die im Roman erzählerische Wirklichkeit wird. Das Moor spricht Dion in der 2. Person Singu­lar an, also in der Form des Dialogs.

 

M. T. Martin: Aber dieser Dialog ist interessanterweise kein tatsächlicher Dialog.

 

G. Geltinger: Nein, denn Dion erhält nie die Chance, zu erwidern. Die Sprachmacht seines Gegenübers überwältigt ihn. Dem wortlosen Jungen steht ein Zuviel an Sprache gegenüber. Denn nicht das Fehlen von Sprache bezeichnet einen Stotterer, sondern der er­stickende, sich im Innern stauende Überfluss. Ich habe mir Dion immer so vorgestellt, als sei er noch gar nicht richtig in der Welt. Erst das Finden seiner eigenen Sprache würde ihn »ankommen« lassen, erst die Befreiung aus dem Eingenähtsein in den Sprachfilz der Landschaft, aus der er abstammt, würde ihn zum autonomen Menschen machen.

 

M. T. Martin: Die Sprachmacht des Moores ist vielgestaltig. Inwiefern ist der Text bedingt durch die biologischen Gegebenheiten des Moors?

 

G. Geltinger:. Torf in einem Moor türmt sich bis zu sieben Metern auf, und auch der Roman ist mehr »geschichtet« als linear erzählt. Das Moor erfüllt in seiner Selbst­beschrei­bung und der Beschrei­bung des Jungen seine biologischen Eigen­schaften und zieht dabei – als eigentlich wort­lose Landschaft – die ver­schie­densten Sprachregister. Es ist mal pathe­tisch, mal iro­nisch, mal knallhart, es spottet und kalauert und ist dabei ein äußerst unzuverlässiger Erzähler, wie eben auf die Natur kein Verlass ist. Heute stürmt es, morgen scheint die Sonne. Aber immer wird es Herbst, Winter, Frühling und wieder Sommer.

 

M. T. Martin: Deine Figuren, wie auch schon in deinem Debüt Mensch Engel, aber auch in Moor, greifen auffallend oft zu Rausch­mitteln. Alkohol, aber auch Tabletten in jedweder Form dienen ihnen paradoxerweise als Nahrungs­mittel. Es sind verwundete, versehrte Figuren. Sie kämpfen mit Depressionen, Alkohol- oder Tabletten­abhängig­keit. Rausch­mittel bieten ihnen keinen Ausweg, nur temporäre Betäubung, vielleicht. Rettung gibt es für beide Haupt­figuren (Engel und Dion) nur in der Sprache, im Erzählen. Ist das Erzählen die einzig wahre Droge?

 

G. Geltinger: In jeder Therapie, auch in der Suchttherapie, ist das Erzählen, das Auf­arbeiten von Traumata, der Kern des Heilungs­pro­zesses, der Ausweg aus der Abhängig­keit. Nie ist dabei das Erzählen die Lösung, aber immer ein Weg. Die Mythen erzählen uns die Verwer­fungen des mensch­lichen Daseins als conditio humana. Im Erzählen wird das Unfassbare verständlich, das Namen­lose und Bedrohliche erhält eine sprach­liche Gestalt, der man sich stellen kann. Das ist die Funktion der Märchen: Sie kondensieren die oft numinosen Gegeben­heiten des mensch­lichen Daseins als Sprache, erhalten aber gleich­zeitig die poetischen Freiräume, in denen jeder eine eigene Vision des Lebens ent­wickeln kann.

 

M. T. Martin: Wir erzählen und deuten unser Leben um und das ist eine Mög­lich­keit, uns nicht betäuben zu müssen. Jedenfalls nicht be­ständig!

 

G. Geltinger: Das Leben an sich ist wahrscheinlich zu groß und auch zu schmerzhaft, als dass wir es durchweg ohne betäubende Drogen ertragen können. Gleichzeitig ist es zu leer und zu sinnlos, als dass man es dauerhaft im nüchternen Zustand durch­stehen sollte. Das klingt jetzt pathe­tisch, aber auch Pathos ist ein bewährtes und gän­giges Mittel des Erzählens. Rausch ist nichts anderes als eine künstliche Zuspitzung eines an sich gleich­förmigen, biolo­gischen Faktoren unter­wor­fenen Zustands: der mehr oder weniger sinnlosen Bewe­gung des Lebens zum Tod hin Mar­kierungen setzen. Drogen aller Art sind eine Form von Pathos. Also ist das Erzählen wiederum eine Folge von Rausch. Eine Droge, ja, aber eine gute. Ich jedenfalls bin abhängig von ihr.

 

M. T. Martin: »Im Rausch kommt die Reihenfolge der Signal­weitergabe im Nervensystem durch­einander. Signale aus unter­schiedlichen Zeiten, von vor ein paar Sekunden oder aus der Kind­heit, treffen gleich­zeitig ein. Wenn das unter günstigen Bedin­gungen geschieht, dann nehmen wir mehrere Momente im selben Moment wahr und können dann leichter Entwicklungen, Prozesse, oder Verände­rungen erkennen«, sagt Daniel Kulla, Autor des Buches Leben im Rausch. Das könnte man auch auf deine Texte übertragen, in denen es nie eine lineare Abfolge gibt, sonder Szenen mit­einander auf­tauchen, die Zeit­ebenen sich mischen oder sich manche Szenen im weiteren Verlauf des Textes als fraglich herausstellen. Kannst du damit etwas anfangen?

 

G. Geltinger: Man muss das Leben nicht im Rausch erleben, um zu verstehen, dass alles immer gleichzeitig passiert. Unsere innere Zeit läuft asynchron zur äußeren Lebenszeit, andern­falls wären wir keine Menschen, sondern Maschinen, Computer. Erzählen ist ein Versuch, im Chaos aus Erinnerung, Wahr­nehmung, Wissen, Wunsch und der Angst vor dem Verlust all dessen Ordnung zu schaffen, eine für einen selbst stimmige, sinnvolle Ordnung, die nicht linear sein muss, aber eben ein sprachliches Gefüge dar­stellt, in dem man sich orientieren und bewegen kann. Und das immer die Möglichkeit zur Veränderung birgt und sich selbst einräumt, unvoll­kommen zu sein.

 

M. T. Martin: Deswegen die unzuverlässigen Erzähler oder die beständige Fragwürdigkeit dessen, was erzählt wird?

 

G. Geltinger: Ich misstraue jedem literarischen Text, der seine Erzähl­position nicht hinter­fragt. Ich kann gar nicht anders, als meine Erzäh­lung immer wieder selbst anzuzweifeln, mich auf unbe­kanntes Terrain zu begeben, sobald ich mich in einer gewählten Per­spektive, einer be­stimm­ten Haltung zu sicher fühle. Ich muss an meine Vision glauben, darf aber nie zur Gänze dem trauen, was ich sage und tue, sonst wäre ich kein Schrift­steller, sondern Journalist.

 

M. T. Martin: »Alles, was mit chemischen Mitteln erreicht werden kann, läßt sich auch mit nicht-chemischen Mitteln erreichen«, hat William S. Burroughs gesagt. Würdest du ihm zustimmen? Erlebst du Momente rausch­hafter Wahr­neh­mung im Alltag? Diese soge­nannten Epi­pha­nien, die einen plötzlich an der Bus­halte­stelle über­kommen?

 

G. Geltinger: Burroughs sagte auch in einem seiner letzten Inter­views auf die Frage, ob es etwas in seinem Leben gebe, was er bereue, sinnge­mäß, er bereue jeden gott­ver­dammten Moment dieses Lebens, und das, obwohl er doch durch so einige Rausch-, also vielleicht Glücks­zu­stände gegangen ist. Du nennst es Epi­phanien, weniger pathe­tisch – rauschhaft – wäre es die soge­nannte Inspiration, von der ich ehrlich gesagt gar nicht weiß, was sie sein soll. Sie muss ein Wort aus dem Wortschatz derer sein, die nicht dauerhaft schöpferisch tätig sind.

 

M. T. Martin: Wahrscheinlich passiert es doch, dass du wie nebenbei anfängst, etwas zu formu­lieren, auch wenn du gerade etwas ande­res machst? Inspiration eher nicht im Idyllischen sondern im Alltäg­lichen?

 

G. Geltinger: Landläufige Inspiration in schönen Landschaften zum Beispiel ist mir fremd, schöne Land­schaften machen mich auf eine gefähr­liche Art stumm und traurig. Bus­halte­stelle schon eher, im Menschen­gewühl, auf einer lärmenden Party, in einem langweiligen Kino­film, meistens dann, wenn die Gedanken auf Wander­schaft gehen und man natürlich gerade keinen Notiz­block dabei hat. Man tippt den Ge­danken in sein Handy, schreibt ihn auf einen Bierdeckel, den man dann in der Kneipe vergisst, und meine Trai­nings­karte vom Sportstudio, auf der ich Gewichte eintragen soll, ist voll­gekritzelt mit unleser­lichen Sätzen, die ich meis­tens, einmal aufge­schrieben, nicht mehr brauche. Ich fühle mich chronisch uninspiriert und schreibe doch schon seit über dreißig Jahren.

 

M. T. Martin: Chronisch uninspiriert, das gefällt mir. Dagegen hilft nur das Weiterschreiben. Im Tun entsteht das Glück der geglückten Formulierung – ohne Drogen oder Musen?

 

G. Geltinger: Unter Drogeneinfluss hatte ich jedenfalls noch nie eine gute Idee, schon gar keine Epi­phanie, und über die, die ich hatte, sollte ich schweigen. Wenn es einen Gott gäbe, dem ich folgen könnte, wäre es Kairos, der Gott des günstigen Augenblicks mit den geflügelten Fersen und dem kahl geschorenen Hinter­kopf, doch leider hat mich Chronos mit Sichel und Stundenglas fest im Griff. Im griechischen Mythos schuf er einst aus sich selbst heraus den windstillen Äther und das Chaos, den hohlen Raum ohne festen Grund und voller Dunkelheit. Burroughs lese ich im Übrigen sehr gern.

 

M. T. Martin: Der Krea­tivitäts­forscher Holm-Hadulla hat in seinem Buch Kreati­vität – zwischen Schöpfung und Zer­störung darüber geschrieben, warum viele in der Phase nach einem abge­schlos­senen Projekt vermehrt zu Drogen aller Art greifen. Er glaubt, dass die Selbst­morde von Künstlern in genau diesen Phasen statt­finden: der Leere, bevor etwas Neues entsteht. Der Angst, dass vielleicht nichts mehr kommt. Wie war dein Weg, damit umzugehen?

 

G. Geltinger: Die Leere nach einem abgeschlossenen Buch ist die Leere vor dem neuen, noch nicht geschriebenen Buch, also im Leben eines jeden Künstlers ein chron­ischer oder zumindest immer wieder­kehrender Zustand. Kaum hat man eine Heraus­forde­rung formal und inhalt­liche bewältigt, fällt man in die Grund­ver­unsi­cherung zurück, aus der heraus man einst begon­nen hat, schöp­ferisch tätig zu sein. Jeder ernsthaft künstle­risch arbeitende Mensch zerstört sein Glück zu einem gewissen Teil selbst, wenn er es gefunden hat, um weiter­machen zu können. Das hat damit zu tun, dass man immer wieder Anfänger werden muss, um sich einem neuen Projekt unbe­fangen und staunend wie ein Kind zu nähern. Im Gefährdet­sein, im Risiko aber liegt die Möglich­keit zum künstle­rischen Aus­druck. Das ist weniger mit einer bestimmten Lebens­führung verbunden, weniger mit Exzessen, als mit einer gewis­sen Sucht – und hier kommt die Droge ins Spiel – nach einer Anders­artigkeit, die hohe Sensi­bilität schafft. Dieses Anders­sein muss gegen die Norma­lität und ihre Ab­stumpfungs­mechanis­men ver­teidigt und auf­rechter­halten werden. Das geht nicht immer ohne Rauschmittel. Gleichzeitig ist die Sehnsucht jedes Anders­artigen nach dem Normalen sehr groß. Es ist ein per­manentes Hin und Her, und einen Weg gibt es nicht, nur ein Vorantasten, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde und von Satz zu Satz. Das Schreiben ist die einzige Größe, die Konti­nuität in mein Leben bringt. Alles andere ist und war schon immer Chaos, und wenn das Chaos nicht herrscht, muss ich es her­stellen, indem ich die Ordnung zerstöre. Ja, so etwas kann das Leben kosten.

 

M. T. Martin: Von wem oder wobei hast du das Meiste über Rausch gelernt, über Ekstase?

 

G. Geltinger: Von der Verzweiflung, von der Leere, von der absoluten Dunkelheit und der totalen Stille. Vom genauen Beobach­ten, vom Ver­stehen­wollen der Natur. Durch die Lektüre von George Bataille. Durch mein Studium des Films und die Erkenntnis, dass Kino, im Ergebnis ein Hoch­konzen­trat von Leben, eine Droge, von Kairos beflügelte Momente, die gleichen chroni­schen Leidens­prozesse zur Grund­lage hat wie das Leben selbst. Von meiner selt­samen Immunität gegen Alkohol – jedes Mal beim Trinken überspringe ich den kost­baren Zustand des Rauschs und finde mich von einer Sekunde auf die andere über das Klo gebeugt wieder. Von meinem Professor an der Kunst­hoch­schule für Medien in Köln, dem Medien­wis­sen­schaft­ler und Autor Sieg­fried Zielinksi und seinen rausch­haften Vor­lesungen. Alles zusammen hat mich Rausch­mitteln gegen­über ziemlich gleich­gültig, für alle Zu­stände jenseits der so genannten Norma­lität aber sehr offen und neu­gierig gemacht. Im Sonnen­untergang am Meer eine Zigarette zu rauchen und Wein zu trinken, ist trotz­dem etwas sehr Schönes, auf das ich nicht verzichten möchte – im Moment.

 

M. T. Martin: Der Maler Max Beckmann hat gesagt: »Sicher ist alle Kunst auch Rausch – aber disziplinierter Rausch. Trotzdem lieben wir auch die Champagner­ur­wälder, die großen Hummer- und Auster­nseen und die giftige Pracht der lüster­nen Orchideen ...« Was sagst du dazu?

 

G. Geltinger: Ich seufze und grinse in mich hinein ...

 

M. T. Martin: Welche Frage hättest du dir selbst gerne zum Thema gestellt?

 

G. Geltinger: Möchtest du all diese Fragen lieber nüchtern oder mit einer Prise Kokain beantworten?

 

M. T. Martin: Danke, dass du dir so viel Zeit genommen hast, um zu antworten!

 

G. Geltinger: Ich danke dir! Und jetzt gehen wir einen trinken!
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Marie T. Martin    18.03.2014   

 

 
Marie T. Martin
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