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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wi­der­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 47

Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls

 
Hat Kohl dem Schwan nur Kohl erzählt oder wird das Buch Heriberts Schwanen­gesang
 


Die Frankfurter Buchmesse 2014 begann schon bevor sie begann als Kohl-Messe. Print und Television, soweit sie auf sich hielten, waren dabei, der Spiegel wie in besseren Zeiten an der Spitze, was die FAZ zu ironischen Tönen ermunterte: »Kohls Schmankerl und die historische Wahrheit – Heribert Schwan publiziert medien­wirk­sam Zitate aus seinem 630-Stunden-Inter­view mit dem früheren Bundes­kanzler«, so frech Rainer Blasius am 7. Oktober zum Duell des Jahres. Nixon ver­letzte sich einst an seinen Ton­bän­dern, deren fa­tale Sprache ihn ver­riet, Kohl will jetzt nicht gesagt haben, was er dem auf­merksam auf­zeich­nenden Heribert Schwan auf­sagte. So wird der Pfälzer Alt-Kanzler zum poli­tischen Ereig­nis auf­getankt wie Botho Strauß zum lite­rarisch-poeti­schen Meister­denker. Als wissen­schaft­liches Kultur­gut teilt das Blatt in derselben Ausgabe noch mit, dass Helmut Schmidt und sein Dauer­freund Sieg­fried Lenz die Freund­schaft zwi­schen Willy Brandt und Günter Grass eifer­süchtig aufs äu­ßerste miss­bil­ligten. War da Neid im Spiel? Mehr dazu, sogar mit einigen Distanzen, in Schmidt-Lenz von Jörg Magenau, Hoffmann und Campe. Dramatur­gisch nicht unge­schickt berief der Bibel-Autor Gott den Deutsch­stunden-Lenz just zur Buch­messen-Eröffnung in den Himmel hoch zu den Gut­menschen. Das al­les macht die Messe zum Rück­blick ins deutsche Panoptikum. Stimmungsvoll begleitet wurden die Remi­niszen­zen am Abend des 6. Oktober bei hart aber fair mit einer der beliebten Todes-Diskus­sionen – wie halten wir's mit Selbst­mord, Freitod, Suizid, Töten auf Ver­langen? Dem ein­zelnen wird die Frei­heit des Exitus von Staat und Re­ligion be­stritten. Als globales Kol­lektiv aber bereiten sie sich da­rauf vor. So dient die Buch­messe als futu­ristische Manifestation. Geprobt wird Der Untergang Roms, Teil 2 – Copy­right USA.

So ein schöner 3. Weltkrieg braucht seine vor­bereitende Sprache. Auch die Se­mantik muss in den Einsatz zur Vertei­digung west­li­cher Werte. Die Spalte am rechten Rand der FAZ war schon am 7. Mai 2009 über­schrieben mit Flexibel in Afrika. Im weniger exoti­schen Untertitel heißt es: »Der Einsatz der GSG 9 ist womöglich nur verschoben.«.
  Der Autor Peter Carstens trös­tet nach Kräften die Ungeduldigen, die es kaum er­warten können, einge­setzt zu werden. Folglich wird Einsatz im Text 14 mal genutzt, um es in den Augen des Lesers zu fixieren. Einmal wird der Spiegel zi­tiert, der über den »Aufmarsch der Gladia­toren« mo­serte, ein ander­mal sitzt der »Ein­satz« im »Sonder­ein­satz­kommando (SEK)«. Die Etymo­logie des Begriffs verweist auf zeitgeschichtliche Vorgänge. »Die Ein­satz­grup­pen, die auf dem be­setzten so­wjeti­schem Terri­torium tätig waren, be­standen aus Sonder- und Einsatz­kom­man­dos.« (Enzyklopädie des Holocaust Piper Verlag München, 1989) Inwie­weit das modi­fizierte Verbal­konglo­merat »Sonder­ein­satzkom­mando« der Skla­ven- oder Her­ren­sprache, und wenn ja welchem Dialekt oder Argot zu­zu­ordnen sein mag, bedarf sicher mehr intel­lektuel­len Auf­wandes als die zus­tändige Bundes­wehr-Denk­fabrik, Abteilung Sprach­ver­waltung zu leisten vermag. Gehen wir zurück am etymo­lo­gischen Strang, gelangen wir zum ver­ges­senen Nach­kriegs­bestsel­ler Wörter­buch des Un­menschen von Stern­berger / Storz / Süskind, die unter dem frischen Eindruck des 2. Welt­krieges den werten »Einsatz« glatt­weg zur Un­mens­chen­sprache rech­neten, weil sie in Hitler­deutsch­land »heroi­schen Glanz« erhielt: »Wie jählings jener Glanz im Frühjahr 1945 erblich, selbst für die, deren Augen das nicht mit ansehen wollten, – das ist an­scheinend nicht mehr all­gemein bewusst. Deshalb muss man daran gehen, das Wort ›Einsatz‹ end­gültig zu ent­zaubern. Wir emp­fehlen den verehr­lichen Lehrer­kollegen, den Passus vom lobens­werten Einsatz fortan aus­schließ­lich dem vorbe­reiten­den Eingang zu der Mitteilung vor­zube­halten: ›konnte leider nicht versetzt werden.‹«


  Aus dem Wörterbuch des Unmenschen
Von Dolf Sternberger, Gerhard Storz
und W. E. Süskind

Unten: Text auf der Rückseite des Buches



Die Ironie der Schlusssätze im Wörterbuch des Unmenschen ordnet den Einsatz­gebrauch zweifels­ohne der befoh­lenen Herren­sprache zu, die als Sklaven­sprache zur Volks­sprache mu­tierte, deren Glanz 1945 keines­wegs und schon gar nicht jählings ver­blich, wie unser FAZ-Beispiel zeigt. Im Gegen­teil. Jede Skla­ven­sprache ist zugleich ok­troyierte Herren­sprache – Janus eben, doppel­gesichtig, doch beid­seitig auf Sieg aus. Das Wort Einsatz inflationiert inzwi­schen wie im 2. Weltkrieg: »Streit über Einsatz deut­scher Sol­daten in der Ukraine und im Irak« – so der FAZ- Haupt-Titel am 6.10.2014 Seite 1, direkt darüber Fresko von Tiepolo – wie Abraham »seinen Sohn Isaak opfern will«, denn »ich befolge Gottes Gebot«, wobei ein Engel den gottbefohlenen Mord friedfertig sabo­tiert. „Denn du sollst nicht töten.« Ja, was denn nun? Ein#-satz ja oder nein? Zum Thema schrieb ich mal ein Buch mit dem Titel Weder Kain noch Abel. Danke Jürgen Reents für Deine Fragen dazu, die ich aus dem kleinen Leben beant­wor­tete. Aus seinem großen Leben ver­suchte es auch der Evange­lische Ex-Bischof Wolfgang Huber, der am 6. Oktober auf einer ganzen FAZ-Feuil­leton­seite predigte: »Du sollst nicht töten – und nicht töten lassen«. Großer Vorsatz und schön gesagt und seit zwei Jahr­tausenden wirkungs­loses Papier.
  Als ich in Rente ging, kam mir die Wende entgegen. Die Hälfte meines Lebens verbrachte ich im Osten. Die zweite Hälfte im Westen. Ich werde, denke ich, auch die Zeiten der tollen Ver­ein­igung noch über­stehen, falls die neuen Kriege nicht schneller kommen als mein nächster Geburts­tag. Ich bin jetzt 89 – mich um­blickend erkenne ich den abnormen Hansen, den ver­rückten Thüsing, den untrag­baren Coppik, ich sehe die nicht zu goutierenden Christen Niemöller, Gollwitzer, den absolut unpas­senden General Bastian, eigentlich sind wir ein ganz schön großer Verein von Aus-der-Reihe-Tänzern. Ob es nicht endlich mal klingelt bei den so ganz und gar Normalen? Wohin sind die Freunde, Genossen, Kollegen von gestern? Aus Traum wird Satire. Nichts Neues im Land. Das war schon immer so: Wer irgend­wann eine links­verdächtig klingende Wahr­heit zu sagen ris­kiert, ist bald weg vom öffentlichen Medien­fenster. Stell dir vor, Eckart Spoo gäbe statt des scharfen Ossietzky eine noch schärfere Bild-Zeitung heraus. Otto Köhler leitartikelte in dem Blatt Die Welt und Dietrich Kittner träte regel­mäßig im Fern­sehen auf usw. Stell dir vor, Tucholsky hätte sich nicht das Leben genommen, die Bundeswehr klagte ihn von wegen Soldaten sind Mörder an und Rolf Gössner ver­teidigte unseren Mann vorm Reichsgericht an der Pleiße. Das hätte Folgen. Stell dir vor, Hitler hätte sich schon 1933 erschossen, Eva Braun heiratete Joachim C. Fest, der bei jeder Frankfurter Feier Marcel R.R. so unhöflich anstößt, dass er in Albert Speers Arme fällt. Stell dir vor, Frau Illner leitete das Rote Kloster in Leipzig und Hinden­burgs Paule ver­schenkte seinen Helm samt Kaiser-Wilhelm-Bart an die präsi­diale Sprach­röhre Gauck. Stell dir vor, Gauck tauscht mit Obama die Plätze, Schröder mit Putin und Alice Schwarzer heiratet Sloterdijk. Stell dir vor, Hitlers Mama hätte den Fötus beizeiten abgetrieben, dann wäre Joachim C. Fest auf Hartz 4 ange­wiesen und Albert Speer spielte lebens­lang im Kölner Karneval die Jungfrau im Dreiergespann. Stell dir vor, das alles stünde in einem FAZ-Artikel und stammte von mir. Dann gäbe es sogar Honorar dafür, die Redaktion würde ausgewechselt mit den Ossietzky-Autoren, die in der FAZ den Laden schmissen. Stell dir vor, das wäre keine Straf­ver­setzung, sondern ein Hauch von pluraler Demo­kratie.

Mit Hatto Fischer in Athen ergibt sich lebhafter E-mail-Austausch. Hier zum Anfang die ersten Lektüre-Eindrücke, seine Zeilen vom 3.10.2014

Ein Detail nennt Hatto Fischer noch zu Adorno: »Als er einen Vortrag an der Cambridge Universität hielt, gab es keinen Applaus, nachdem er ihn beendet hatte. Nichts Schlimmeres gibt es als gegen eine Mauer aus schwei­gender Ablehnung zu rennen.«
  Meine Erwiderung nach Athen: Lieber Hatto, Dein Wissen, die Energie, die Lust am Schrei­ben halten den Herbst­horizont auf und erhellen den Oktober. Bitte bedenke, ich bin nicht mehr der Autor von 1989, dessen Ju­goslawien-Rede Du besprochen hast. Ingrid wie ich sind unterwegs auf dem letzten Gang. Unser Buch zu Ernst Bloch etc., 2004 erschienen, ist nicht tradi­tionell klassi­fizierbar und nur der 1. Teil des Versuchs, diesen Philosophen als Welt­geheimnis­träger zu enträtseln. Das ist Fragment geblieben. Der Rest liegt seit Jahr­zehnten in ca. tausend Texten parat oder wird im www.poetenladen.de stück­weise ausge­plaudert. Verging Bloch mit der DDR? Wir enthüllen einige Szenen aus Ost und West, die andere nicht kennen oder absichtsvoll verhüllen. Wie Du schreibst, denken heute junge Griechen oft an Ausreise oder Selbst­mord. Mir scheint, das wird zur umfassenden Wel­tparole.
Herzlich – Gerhard Zwerenz
  PS: Beim Durchlesen erscheint mir mein Brief zu lakonisch. Ich hoffe aber, Du entdeckst noch einige Auskünfte in Sklavensprache und Revolte. Und bitte – zu Bloch fanden Ingrid und ich sowohl Fragen wie Antworten, die wir als Übergänge verstehen. Es sind keine Lehrtexte, weder Wissen­schaft noch Poesien, sondern Formen wahrnehmender Autobiographie, subjektiv widerständig, wie es von Aristoteles noch nicht klassifiziert werden konnte, weil erst in Endzeiten möglich. So entsteht die Mischung pluraler Ich's, das eine erzählt, das andere findet, berichtet und entdeckt oder widerspricht. Irrtum einbeschlossen. Und wenn ich Derridas Differenz­denken bereits in Blochs früher Erbschaft dieser Zeit aufspüre, kann das eine bisher blinde Stelle im oppo­sitionel­len Denken aufklären. Mangeln­des Differenz­denken ist übrigens ein horrender Untergangsgrund von Weltreichen. Ihnen wird alles zur Macht. Selbst die Ohnmacht.
  Unsere graue Vorgeschichte berichtet von Völkern, die plötzlich auftauchen oder unter­tauchen. Dazwischen mögen Jahrhunderte liegen. Die Verschnellerung und Verkürzung der Zeit kann das jetzt an einem einzigen Tag bewerk­stelligen. Roms Untergang dauerte Jahrhunderte. Das gegenwärtige USA-Rom kann mit seinem Welt­herrschaft­anspruch in Tagen zerbröseln, verhält es sich weiter so dumm wie heute. Die Barbarei des 20. und 21. Jahrhunderts ist ein industrielles Endprodukt, das die SF-Literatur lustvoll ausmalte, bis Alltag draus wurde. Die Autobiographie des letzten Alten wird zum Protokoll des Urknalls. Letztes Echo. Aus der Traum.

Ferne Freunde (1985)

Wenn ich mitten auf der Straße mich so umblicke,
sehe ich immer wieder welche,
die längst gestorben sind.
Ich beobachte sie über längere Zeiten.
Erst gaben sie ihren Geist auf.
Dann ihr Fleisch. Schulterhebend
schlüpfen sie aus ihren
Knochen.

Ganze weite krumme Friedhöfe ragen in
meine Augen. Lazaretten nahm ich die
Parade ab.
Ich grüße mit fester Haltung.
Wie gerührt ich bin, soll man mir
nicht ansehen.
Vielleicht hilft seelisches Strammstehen.
Totenregimenter marschieren vorbei.

Gestern erblickte ich ein langvertrautes
gutes Gesicht.
Ich erkannte es und erkannte es nicht.
Wir sprachen die alten Losungsworte.
Wir stellen die alten Bewegungen nach.
Wir nannten uns beim Vornamen.
Wir haben umgebracht und
wurden umgebracht. Ortlos irren
unsere wehmütigen Gefühle
durch das Vergessen.


Nahe Freunde: Wer ist Jochanan Trilse-Finkel­stein? Geboren am 10.10.1932 in Breslau, seitdem auf Reisen, Fluchten und Heimat­suche, lebt heute in Berlin, Thea­ter­kri­tiker in Ossietzky, Autor mehrerer Bio­graphien und mit vielen anderen Poten­tialen. Wollte ihm zum dies­jährigen Geburts­tag gratu­lieren, fand eine seiner inge­niösen Erin­nerungen, an die hier gern erin­nert werden soll:


„So war Ernst Bloch, ein Wortkünstler, ein Fabelerzähler, ein Prophet, der Mensch, der ver­ständnis­voll und solidarisch das in mir gärend Angelegte förderte, indem er mir zu Stipen­dien verhalf. Er wusste, dass ich wohnen und essen musste, um Philo­sophie stu­dieren zu können…Ich besuchte ihn auch nach seinem Verweis vom Peter­steinweg in Leipzig in seinem Privat­haus, um dort seine Pri­vatis­sima zu hören, nein, ihnen zu lauschen. Andachts­voll und dankbar. Ich war zumindest intel­ligent genug zu wissen, wen ich vor mir hatte. Ich ging immer gerade durch die Garten­tür von vorn ins Haus … Gerhard Zwerenz sprang von hinten über den Garten­zaun. Er meinte, dass die Vordertür über­wacht würde, aber das war mir völlig egal … ich hatte mit zehn Jahren, selbst be­waffnet, unter dem Beschuss der kroa­tischen SS gelegen. Die Staats­sicher­heit ging mir links und rechts vorbei. Außer­dem war ich Österreicher. Der Zwan­zigste Parteitag der KPdSU hatte vieles in Bewe­gung gebracht. Harich, Janka, Schrö­der bezahlten für ihr Ein­treten in diese Bewe­gungen … jeman­den würde es treffen, so war das immer. Trotz­dem tat ich, was ich wollte. Ich suchte mir meinen Weg und ent­schied selbst, wen ich dort treffen würde. Ich verstand dann, dass Zwerenz seine Ansage anarchis­tisch und sati­risch meinte, weil er nicht aus Vor­sicht hinten­herum ging, sondern weil er die Person war, über Zäune zu setzen. Damit wurde er zu dem großen Journalisten, den ich immer mit Span­nung und einem nach­folgenden Gefühl von Reinigung und Erleich­terung las…je­mand, der klar denkt, ein Pazifist und auch ein Kämpfer ist. So trafen wir uns, damals in Leipzig. Sicher arbei­teten alle Käuzchen und Regen­würmer und die einäugige Katze im Garten für den Geheim­dienst, Zaun hin, Gartentür her, doch wir mussten und wollten zu Bloch.“


  Karola Bloch
Aus meinem Leben
Neske Stuttgart 1990


Die Szene führt uns stilsicher zurück zum Leipzig der fünfziger Jahre. Da klafft eine Lücke. Das zweierlei Deutschland hatte noch Chancen. Wir suchten sie wahr­zunehmen. West­teil siegte, Ost­teil unter­lag. Ihr Zwist bleibt bestehen wie der zwischen Katho­liken und Protes­tanten, die seit Jahr­hun­derten im Streit ver­harren. Die Gauckis­ten werden die DDR ad infinitum Unrechts­staat schimpfen und den Unter­schied zwischen Nazi-Deutsch­land und der SED-DDR auf Null absenken. So grundfalsch das ist, wir heben die DDR nicht in den Himmel. Jochanans Schil­derung unserer geheimen Besuche bei Ernst Bloch vervoll­ständigt Karola Bloch in Aus meinem Leben mit den Worten: »Nach unserer Rück­kehr über­raschte mich eines Morgens der Besuch von Gerhard Zwerenz. Er war mit der Harich-Gruppe in Ver­bin­dung gebracht worden und musste mit seiner Ver­haftung rechnen. Seit Wochen schon schlief er nicht mehr zu Hause. Zwerenz hatte bei Ernst stu­diert, ver­ehrte und liebte ihn. Er fragte mich, ob Bloch es ihm übel nehmen würde, wenn er in den Westen ginge. Er war zweifelnd geworden, denn er kannte Blochs Stand­punkt. Aber ich sagte ihm, uns würde es beruhigen, ihn im Westen zu wissen; er sei jung und in Gefahr, sein Opfer wäre sinnlos, das wisse auch Ernst. So verab­schiedeten wir uns herzlich. Später, in West­deutsch­land sahen wir uns oft.«
  Wir sahen, sprachen und erinnerten uns so wehmütig wie sarkastisch immer mal wieder an unsere Leip­ziger Zeit und die dort geweckten wie ver­dor­benen Hoff­nungen. Konnten wir in der Bundes­republik mehr sein als Übrig­gebliebene? So hatten wir nicht gewettet.

Die Frankfurter Buchmesse 2014 endete wie sie begann als Kohl-Event. Schluss-Akkord am Sonntag, dem 12. Oktober um 21 Uhr 45 bei Günther Jauch, der statt Millionäre zu machen einen Kampf um Kohl (FAZ) dirigierte. Die Kohl-Proto­kolle, was proto­kol­lieren sie? Klartext oder Artikulation von Schmäh und Häme im Polit-Saustall. Laut dem einst die BRD regie­ren­den Polter-Pfälzer sind Linke rotes Pack und Angela Merkel kann nicht mal mit Messer und Gabel essen. Wer so spricht und so etwas zu lesen ein dringendes Bedürfnis verspürt, der zählt sich dazu. Das ist die deutsche Tafel der Oberklasse. Als Alternative biete ich zur Abwechs­lung meinen Brief an Bundes­kanzler Kohl aus dem Jahr 1996 an:





  
 

1. Ist es sinn­voll, so einen Brief zu schrei­ben? Die An­drohung von 100 Seiten war Schock­therapie. 16 Seiten ge­nügten vollauf.
2. Die erste hier als Probe vor­ge­legte Seite deutet das Thema höf­lich an. Es ging um Kultur und Krieg.
3. Darum geht es heute als End­spiel.
4. Der Kanzler schwieg anfangs und ant­wortete dann nicht abweisend, doch nichts­sagend. In der Presse wurde mein Schreiben ver­schieden­tlich erwähnt, aber nur in der linken Zeit­schrift UTOPIEkreativ Nr. 75/76 vom Januar und Februar 1997 voll­ständig abge­druckt.
5. Der Grund sind im Brief aufge­zählte Details, die der Kultur schaden und die nächs­ten Kriege pro­vozie­ren.
6. Was 2014 die Welt zu ver­nich­ten droht, war zuvor längst ab­zusehen.
7. Das Dritte Reich hatte ich als Soldat nur per Flucht von der Front verlassen können. Der DDR war ich 1957 ent­kommen. Die Bonner Repu­blik sah und sehe ich auf dem Weg über Berlin zurück in die Weimarer Republik.
8. UTOPIEkreativ, 1997 couragiert genug, meinen Brief an den Bundes­kanzler ab­zu­drucken, wurde ein­gestellt. Wozu noch vor Gefahren warnen, wenn es längst zu spät ist.
9. Im Brief an Helmut Kohl heißt es auf Seite 36 der Druck­ausgabe: »In letzter Kon­se­quenz ist eine Ent­schei­dung von Ihnen ge­fordert: Gibt es eine Alter­native zu dem Kriegs­drama, das einige Ihrer Poli­tiker, Militärs, Profes­soren an die Wand malen und das alle Merk­male einer sich selbst verwirk­lichen­den Prophe­zeiung auf­weist?«
 


Auf die Buchmesse 2014 in Frankfurt folgt wie üblich im Frühjahr darauf die Leip­ziger Buchmesse. Was aber, wenn wie am Main die Kohl-Protokolle auch an der Pleiße den Geist der Kul­tur bestimmen? Vom letzten Echo des Urknalls zu sprechen ist keine Über­treibung. Eine Tragödie also. Leipzig könnte sich in die komö­dian­tische Tra­godeia der Antike retten und von Kohls Bimbes-Ghost­writer Heri­bert Schwan die Messe feier­lich eröffnen lassen. Als Mix zwischen Aristophanes und Richard Wagner. Wenn Heribert dabei den echten Helmut wortgetreu zitiert, wenn Wolfgang Thierse als Volks­hoch­schulhirn und Subjekt erscheint, das meint, das Ende von DDR und UdSSR sei auf den Straßen ent­schieden worden, wenn jetzt die Merkel keine Ahnung hat und nicht mit Messer und Gabel essen konnte, obwohl sie doch, wie jeder weiß, in Leipzig Physik studiert hatte, dann könnte das die Messe an der Pleiße zu einem globalen Kultur-Event eska­lieren. Bleibt nur noch ein in Stein ge­hauenes Trio Kohl-Merkel-Thierse, und fertig ist das lang ge­wünsch­te Denk­mal der Deut­schen Einheit.

Gerhard Zwerenz   20.10.2014    Druckansicht  Zur Druckansicht - Schwarzweiß-Ansicht

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon