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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wi­der­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 39

Die Internationale der Traumatisierten

 

Ingrid und Gerhard Zwerenz
Benutzung auf eigene Gefahr




 


Die Geschichte der Philosophie beginnt für uns mit den Vorsokratikern und führt mit den griechischen Klassikern, vorab Aristo­teles, Platon, Sokrates, über zwei­einhalb­tau­send Jahre hinweg bis zum 1. Welt­krieg, mit dem die Philo­sophie als Auf­klärung endet. Was bleibt, sind Blind­därme und Kon­dome, wie die Ma­schi­nen­welten sie be­nö­tigen, ihre pro­duk­tive Barbarei zu eska­lieren. Gold für Eisen, Blut für Öl, Kultur zur Erin­nerung an die guten alten Zeiten, als man sich noch per Hand um­säbelte statt post­kultu­rell per Tastendruck.
  Die Philosophie des revolutionären Marxismus ist ein Endprodukt, das mit der russischen Oktober­revolu­tion seine Chance erhielt. Die dumpfe Feind­schaft der 2. In­ter­natio­nale, vorab der deut­schen Sozial­demo­kratie, führte die Bolschewiki über äußere und innere Kämpfe zu Stalin und bald zum Still­stand in Überbau und Öko­nomie. Auf Bre­schnew, Gorbat­schow, Jelzin folgte Putin. Lauter ehemalige Über­genos­sen. Breschnew hielt stand und die Zeit an. Gorbi wollte das beste und wurde Sozi. Jelzin erfand in einer nüch­ter­nen Phase Putin, der die rus­sische Westfront stabilisiert. Schon nach Stalins Tod hatte sich mit Chruscht­schow eine mögliche Reform­periode angeboten, die sich nicht mehr rea­lisieren ließ. Persön­liche Macht­fragen domi­nier­ten. Die Philo­so­phie von Marx war zur Ideo­logie der Polit­büro­kratie ver­kommen. Noch der gut­wil­ligs­te Opposi­tionel­le en­dete als Feind oder im Schwei­gen. Statt Sozia­lismus entstand ein System der Frustration.

Thomas Pikettys Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert, dessen überraschender Erfolg in den USA das deutsche Feuilleton in Zugzwang brachte – Nachruf 38 – findet inzwischen nach viel Inter­esse mehr Feind­schaft. Und enthielte sein Buch auch keine einzige frag­würdige Zahlen­angabe, derart massive Präsentation von Marx und die energische Dekonstruktion des Kapitals sind im angepassten Journa­lis­mus nicht akzeptabel. Der Kern dieser Abneigung liegt tiefer als Öko­nomie und Statistik reichen. Es geht um die Arti­kulations­ver­wer­tung, wenn Wort und Begriff sklaven­sprachlich vernutzt werden. Das Wort Waffe ist dem Krieger ange­nehm, der Pazifist geht dazu auf Distanz. Das Wort Kommunis­mus, wie im Kommunis­ti­schen Manifest definiert und logisch aus­gefä­chert, akti­viert den Genossen und erfüllt den Anti­kommunis­ten mit Furcht und Abscheu. Die unter­schied­liche Wort­wirkung ist alt­bekannt, in den Folgen aber nicht kor­rigierbar. Im Wort steckt nur ein Begriff, der im Gebrauch jedoch unzähl­bare Bedeu­tungen – Deu­tungen erhält. Der Begriff ist Pro­dukt des Kopfes. Das Wort um­hüllt und ver­hüllt den Begriff mit unter­schied­lichen Erfahrungen. Die Politik scheut den exakten Begriff, der partei­poli­tisch nicht ausnutz­bar ist. So ent­steht das System von Sklavens­prachen mit seinen drei Haupt­formen: Du redest wie die Elite will. Du spielst Elite und ver­langst vom Volk Gehor­sam. Du redest revolutionär, wenn du stark genug bist, deine Frus­tration zu über­winden und radikal offen zu sprechen.
 
  Jürgen Zarusky (Hg.)
Widerstand als „Hochverrat“ 1933 – 1945
De Gruyter Saur 1998


Frustriert und traumatisiert sind sie alle. Die Sozialdemokraten, weil ihr Kaiser Wil­helm Zwo 1918 nach Holland verduftete. Weil die Sparta­kisten gleich Revo­lution machten und Hitler nicht nur, wie Noske vor ihm, die Kommune liquidierte, sondern per Er­mäch­tigungs­gesetz die SPD gleich mit. Weil die Kom­munis­ten im Dritten Reich 75% des Wider­stands an sich rissen und für die SPD bloß 10 % übrig­blie­ben. Das christ­liche Bürger­tum schaff­te gerade noch so 3%. (Quelle: »Wider­stand als Hoch­ver­rat«, Verlag K.G. Saur) Frus­triert sind die Kom­munis­ten. Siehe Thäl­manns Zelle im Zuchthaus Bautzen: Eingesperrt, nach Buchen­wald verbracht, vorm Krema­torium er­schos­sen. Wie viele Tote haben sie zu zählen unter Ebert, Noske, Hinden­burg, Hitler. Dazu der große Wissa­riono­witsch: Zwischen 1945 und 1989 herrschten er und seine Nach­folger im kleinen deut­schen Land. Ergebnis: etwa 3.000 sowje­tische Todes­urteile, exakt 277 in DDR-Verant­wor­tung, etwa 12.000 Ver­hungerte in sowjeti­schen Lagern, unge­fähr 1000 Grenz­tote, an die 1.100 unge­hor­same Kom­munisten und Sozial­demo­kraten, die als Feinde abge­urteilt werden mussten zur Ver­teidigung des So­zia­lismus. Wer zählt die Traumata der Täter und Opfer, der Opfer, die Täter wurden, der Täter, die als Opfer büßten? Endlich die Ju­den­frage. Juden als jüdi­sche Bolsche­wiki in der SU und der DDR. Als Auschwitz-Tote und die Über­leben­den. Als Kommunis­ten, Anti­kom­munisten und Israelis, die ihre Paläs­tinen­ser zum Juden machen. Oder darfst du das so nicht sagen? Unsere eigenen deut­schen Opfer anglo-ameri­kanischer Ter­ror­angriffe sollten zumindest genannt werden beim Krieg gegen den Terroris­mus. Dresden: 30.000. Hamburg, Köln, Berlin, Frankfurt …
  Blieben da nicht auch seelische Wunden? Und Stalingrad – von einer Armee mit ca 250.000 Soldaten kehrten ca. 5000 zurück. Trauern die Angehörigen zu Recht? Etwa 30.000 Deserteure wurden nach Gesetz erschos­sen oder gehenkt. Erlit­ten die Scharf­richter und zur Erschießung Befohlenen nicht auch psychi­sche Ver­letzungen? Selbst die Soldaten der Einsatz­komman­dos und massen­mordenden Polizei­batail­lone blieben nicht ganz unberührt bei ihrer Arbeit, auch wenn Komman­deur Ohlendorf sich ums seelische Wohl seiner Schützen und sogar Opfer küm­merte, wie er im Nürn­berger Prozess glaub­haft ver­sicher­te. Oder Martin Walsers arme Mama, die Gast­wirtin vom Bodensee, lei­dend unterm Ver­trag von Versailles und deshalb früh der Hitler­partei beitretend, wie Sohn Martin dem Kanzler Schröder samt ange­schlos­senem Volk nicht ganz erfolg­los erklärte? Endlich Hitler selbst, ver­setzen wir uns in seine missliche Lage, infolge feind­lichen Gas­krieges vorüber­gehend er­blindet ins Pase­walker Lazarett einge­liefert, musste er die schmäh­liche Niederlage Deutsch­lands durch Dolchstoß in den Rücken erleiden – ohne Hoffnung, ein Front­soldat im tiefsten Elend! Und der US-Präsi­dent, ist er etwa nicht traumatisiert von den 2.800 Toten des 11. September 2001, die von andert­halb Dutzend Selbstmord-Mördern ver­ursacht wurden – auch sie als Islamisten trauma­tisiert wegen des kolo­nialen Status ihrer Glaubens­brüder?
  Die Trauma-Fundis aber sind und bleiben wir Deutschen. Alle zehn Jahre trauerfeiern wir Stalingrad ab: ca. 200.000 tote Wehr­machts­opfer. ARD und ZDF quellen davon über, soweit die Talkrunden dafür Platz lassen. Die eine Million toter sowjeti­scher Stalin­grad­kämpfer sollen die Russen selbst betrauern. Grass lehrte uns, die Gustloff-Toten endlich zu rehabi­litieren. Jörg Friedrich entlarvt die Sieger des 2. Welt­krieges als Mentalitäts-Krimi­nelle im Luft­terror gegen die deutsche Zivil­bevölkerung. Wir erwarten mit Lust-Angst die Fort­setzung der Kriege, ein wenig frus­triert, denn es könnte uns die schöne Stalin­grad-Trauer vor dem Fernseh­schirm vermasseln.
  Egal wie die Bilanzen freiheitlicher Demokrati­sierung aussehen werden, wir wenden uns weiter unseren geliebten Traumata zu. Was haben wir nicht alles er­leiden müssen: Katyn, Warschau, Hiroshima-Naga­saki, Große Säube­rung, Wor­kuta, Ausch­witz, die Flücht­ling­strecks, Verge­walti­gungen, Todes­lager, GULAG, Phönix-Programm – so leiden wir an der ganzen Welt, wer auch nur be­ginnt, davon zu spre­chen, bekommt den Herbert-Wehner-Blick: miss­trauend, zornig, klagend, an­klagend, abweh­rend, wer trägt Schuld an alldem? Ich nicht. Und Willy Brandt, jahr­zehnte­lang be­schimpft als un­ehe­liches Kind, Emi­grant, Vater­lands­verräter. Joseph Fischer, der die Toten von Sre­brenica immer vor Augen hat und seither in Kriegen Tote zu produ­zieren mithilft, wohin ist dein Paläs­tinenser-Hals­tuch, Josch­ka? Ver­ges­sen können wir alle nicht, den 17. Juni 1953, Warschauer Auf­stand 1943 und 44, Buda­pester Auf­stand 1956, fried­liche Revo­lution 1989, Bautzen I und II, Karl Marx und die 30.000 er­mor­deten Kommu­narden 1871 zu Paris, Lenins vom Zaris­mus gehenkten Bruder, das Ende der DDR. Der Hitler­junge Helmut Kohl leidet an seiner Wehr­machts­boten­gänge­rei von1944, trauma­tisiert holt er den ent­flo­henen Häftling Honecker aus Moskau zurück, einen armse­ligen Gorbat­schow erpres­send, den Quartals­säufer Jelzin be­zwin­gend – zurück also mit dem abge­lau­fenen Honi in die alte Berliner Zelle zur legitimen Fort­setzung der 10 Jahre Gestapo­haft, die das Kriegs­ende 1945 einst unterbrach. Anno 2002 fleddern Kohls Focus-Propa­gandis zwei in Berlin hinter­lassene Erich-Koffer. Ich konnte Honecker nie ausstehen, dann er­regte er in mir fast Sympathie, was ich mit Erstau­nen fest­stellte. Wo war die alte Abneigung geblie­ben?

Historiker verbergen ihr Subjekt in der üblichen Wissen­schaftshaltung. Ihr Werk verlange Objektivität. Das ist ihre Art von Sklaven­sprache. Die Geschichts­erzählung des Historikers ver­leugnet ihn und gibt sich objek­tiv, ohne es zu sein. Wir setzen die auto­bio­graphi­sche Geschichts- als Ge­schichten­erzäh­lung dagegen, die von der erfah­renen Furcht und Angst bis zum Trauma samt Folgen alles über Leben und Tod enthält.
  Herkömmlich wird ein Feind gefürchtet, Angst aber ist ein allgemeiner innerer Zustand, der bis zur Chaoti­sierung ansteigt und sich im irren Blick mani­festiert. Haltung und Hand­lung des Menschen mögen normal er­scheinen, das wirk­liche Befinden ver­raten die Augen. Das wirkliche Befin­den einer Gesell­schaft mani­festiert sich in ihren Medien. Sag mir, was du schreibst oder schreiben lässt und ich sage dir, ob du ein Sklave oder keiner bist.
  FAZ-Leitartikel vom 27.5.2014: »Wenn in der Ukraine wieder Frieden ein­kehren soll, muss der Westen daher den Druck auf Moskau aufrechterhalten.« FAZ-Feuil­leton 21.3.2014: »Die Faschis­ten sitzen im Kreml.« Soviel zur übli­chen media­len Weisheit. Es gibt noch Aus­nahmen. Jürgen Toden­höfer rät den Politikern Kant zu lesen – Immanuel – doch Hermann Kants Roman Der Aufent­halt wäre auch empfeh­lens­wert. FAZ regional geriert sich am 3.4.2014 noch philo­sophischer und rät zu Auge in Auge mit Platon und Aristoteles. Damit sind wir wieder bei der Suche nach Philosophie als Auf­klärung ange­langt, die im 1. Welt­krieg ver­endete. Der Rest über­lebt als Trauma, Frust, Ideo­logie und Hysterie. Vorletzte Nachricht vom heutigen Tag: »Von der Leyen will Bun­des­wehr früher ins Ausland senden.« So lebt Clause­witz als Ministerin-Witz im 21. Jahr­hundert weiter als hätte es ihn nie gegeben. Die Landes­vertei­digung findet im Ausland statt.

Wie Erich Loest in einem seiner autobiographischen Bücher schreibt, trug ich im Leipziger Literaturinstitut, damals benannt nach Johannes R. Becher, aus dem Wissen vor, das ich mir bei Ernst Bloch erworben hatte. Warum auch nicht? Seit 1953 ist Ingrid mit im Spiel und dass wir beide von den damaligen fünfziger Jahren bis heute von Bloch profitieren, resultiert aus dieser langen Zeit von Nähe und intensiver Zusammenarbeit. Einer allein vergisst leicht, zwei können sich im Gespräch ergänzend erinnern und vergewissern. Soviel zum Gedächtnis.
  Einen anderen Umstand begriff Erich bis zum Ende nicht. Meine Op­positions­haltung resul­tiert aus frühen Lektüre-Erfah­rungen, gewonnen aus mit dem Beginn der Nazizeit gefähr­deten, wo nicht ver­botenen Romanen. Wir ver­steckten, ver­gruben, verleug­neten sie, was mir sehr schwer fiel und mich zum Buch-Ver­teidiger kondi­tionierte. Die Prä­gung aus der Kind­heit liegt jetzt über achtzig Jahre zurück. Einen großen Teil der Bände brachten wir durch. Es ist der Stolz unserer Haus­biblio­thek. Die gedeckten Far­ben der Buch­rücken hinter Glas fallen auf den ersten Blick etwas ab im Vergleich mit den in unseren Tagen modischen bunten Einbänden – die Werke und Autoren von damals aber sind voller Anti­kriegs­zorn sowie Lust auf Revo­lution und deshalb bis heute unerreicht.
 
  Buch aus unserer Hausbibliothek
1933 vor der Vernichtung gerettet
Erich Maria Remarque:
Im Westen nichts Neues


Die Zeitschrift Utopie kreativ vom April 2005 enthält 3 Fragmente Erinnerungen an Rosa Luxemburg beim Kriegsausbruch 1914, aufgezeichnet von Hugo Eberlein. Die Linken von Luxemburg, Karl Liebknecht, Franz Mehring bis hin zu Clara Zetkin hofften auf die erklärte Kriegs­gegnerschaft ihrer Partei, doch: »Der Krieg war da, das Proletariat rührte sich nicht.« Rosa Luxemburg wollte sich das Leben nehmen. Franz Mehring war »vor Wut über den Verrat der Partei« außer sich. Eberlein: »Am 2. August wurde der Krieg proklamiert. Am 4. August stimmte im Reichstag die sozialdemokratische Fraktion für die Kriegskredite und besiegelte damit den Bankrott der Sozial­demokratie.«
 
  Hugo Eberlein war mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Clara Zetkin, Franz Mehring 1914 gegen SPD-Burgfrieden. Nach Flucht in die SU 1941 in Moskau erschossen


Der Rest ist bekannt: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden von Mördern in Uniform mit Billigung des Sozialdemokraten Noske umgebracht. Hugo Eberlein 1937 in Moskau ver­haftet, gefoltert, 1941 zum Tode ver­urteilt und erschossen. Wären die Sozial­demo­kraten heute noch bei Sinnen, sie nähmen das auf­ge­schreckt zur Kennt­nis und gingen in sich. Stattdessen präsen­tieren sich die Genossen in nebu­lösen Talk­shows und schwa­dro­nieren ihre letzte Frist ab.
  Die deut­sche politi­sche Klasse samt ihren intellektuellen Adepten führte das Volk vom 1. in den 2. Weltkrieg und ab 1945 zur an­schlie­ßenden Zwei­teilung sowie zur fatal falsch insze­nierten Ver­eini­gung ab 1989/90. Lebten Luxem­burg, Lieb­knecht, Eber­lein heute noch, ich bin mir sicher, sie reagierten nicht weniger entsetzt als 1914.
  Erwachte Adolf Hitler heute in seinem für 100 Filmszenen ausge­leuchteten Führer­bunker, diesem modi­fizier­ten Kyffhäuser, dürfte er zur Siegesfete mit Wehr­machts­parade aufrufen: Die Arbeiter­klasse abgemeldet, die Kommunisten bankrott, die Sozis in einer Großen Kopulation umfangen, der brave deutsche Soldat aber vom Balkan bis zum Hindu­kusch und zur neuen Ostfront gegen Putin auf Wacht.

In Weder Kain noch Abel befragt mich Jürgen Reents zu meinen Kriegs­erleb­nissen. Ich schildere eine Dummheit, die ich aus lauter Wut über einen angeberischen Haupt­mann beging, der uns bei Nettuno zu einem aussichts­losen Angriff befahlt. Die Offi­ziere be­nahmen sich wie verrückt. In der Tat hatte Hitler selbst per Telefon über Nacht bis in den vorders­ten Gefechts­stand durch­gefunden und den Angriffs­befehl erteilt. Ein Befehl kann gar nicht blöde genug sein – der Soldat wird ihm gehorchen. Diese Episode und eine blinde Wut, die mich befiel, machten mich wohl end­gültig unge­horsam. Der Angriff brachte mir übrigens einen Orden und das Ver­wundeten­abzeichen ein. Noch ein Grund, gegen mich selbst zu wüten. Wohl deshalb unver­gess­lich beschämend. Ein Trauma.

In Köln und Frankfurt fanden inzwischen die angekün­digten großen kult­urellen und philo­sophi­schen Festi­vals mit Dutzenden von Meister­denkern und Tausen­den von Besuchern statt. Die Zeitungen melden rasante Erfolge. Kultur ist gefragt. Be­son­ders Philo­sophie. Über Bernard-Henri Lévy berichtet die Kölnische Rund­schau allerdings mit artis­tisch gemischten Gefühlen, dass … der schil­lernde Denker, Dandy, Millionär, Krisen­herd-Globe­trotter und Debatten­virtuose trotz alledem den WDR-Saal bei der phil Cologne nicht ganz füllte, zwar wortreich, doch mit wenig Nuancen seine Geschichts­bilder präsen­tierte …
  Stattdessen lobte er Sloterdijk und Martin Walser in den Himmel und brachte seinen Ge­sprächspartner Frank Schirrmacher fast zum ehrfürchtigen Schweigen. Ein Wunder? Lévy hatte schon Frank­reich zum Krieg gegen Libyen beschwatzt, ein philo­sophi­scher Kriegs­antreiber eben, Libyen wurde zerbombt, Ghadafie massa­kriert und gepfählt. Ein Sieg des Philo­so­phen. Die phil Cologne zog ins­gesamt um die 15. 000 Besucher an, Frank­furt brachte es nur auf ein Drittel davon, obwohl es a) um Goethe und b) um die Zeit als Thema ging. Außerdem um Religion, Ethik, Faust und den tau­frischen Geist des Kapitalismus, was die faustische Sahra Wagen­knecht ins Spiel brachte, während Safranski antifaustisch fragte: Was wollte Hei­degger? Das bewegt die Intel­ligentsia. Kein Kultur­kongress ohne den größten deut­schen toten Sinnsucher, dessen abend­ländi­scher Stern 1927 mit Sein und Zeit epochen­füllend aufging. Eine gewisse Linke mit Benjamin, Brecht, Bloch stän­kerte zwar dagegen an, doch sie ver­schwanden 1933, als SA durch­mar­schierte. Heut­zutage gibt es Erfreu­liche­res zu berichten.

Zum Beispiel verteidigte Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich am 20. Mai 2014 sein Land in der FAZ. Wir begrüßen den Mitstreiter. Der Mensch im Finanz­ausgleich heißt Tillichs Thema. Der Text ist besser als der lahme Titel. Sachsen wird unter­gebut­tert. Sogar Stanislaw weiß es. Sagen wir's mal sport­lich. Nachdem die DDR sich entleibt hatte, gab es dort noch längere Zeit erstklassigen Fußball. Inzwi­schen ist alles Dritte Liga. Ob Fuß­ball oder Philo­sophie – da stimmt etwas nicht. In Sein und Zeit witterten Brecht, Lukács und Bloch bereits 1927 Hei­deggers baldigen Nazi-Kurs, entkamen 1933, kehrten nach 1945 zurück und wurden 1956 von eigenen Blind­gän­gern zu Konter­revo­lutio­nären erklärt. Seit der Ver­einigung 1989/90 ent­schwanden sie ganz vom Markt, den die schwarz­braunen Heideg­gerianer nach wie vor beherr­schen. Predigt der Pari­ser Adept Lévy den Krieg von Afrika bis in die Ukraine, setzt Jochen Staadt, sein deut­scher Bruder im Ungeist, am 1. Juni 2014 auf einer ganzen Seite der Frank­furter Allge­meinen Sonn­tags­zeitung den inner­deutschen kalten Krieg fort. Am Ende seiner mani­schen Suada deckt er ein längst­bekanntes Stasi-Geheimnis auf – der Schrift­steller Bernt Engelmann, Potzblitz, erhielt aus der DDR von der Haupt­verwal­tung Aufklärung Mate­rialien für ein Buch. Ver­merkt von Staadt wird aus­drück­lich, Engel­mann habe in der dama­ligen BRD als ehemaliger KZ-Häftling als mora­lische Instanz gegolten. Wenn das gegen die BRD dieser Jahre und Engel­mann sprechen soll, bedauern Ingrid und ich unsere Dif­feren­zen mit Engelmann. Zur Debatte stand das Verhältnis von Schrift­stellern zu Geheim­diensten, gleich­gültig welcher Seite. Ab­hängig­keiten gehen zu Lasten der Freiheit. Dies auch ein Grund der Ent­frem­dung zwischen Loest und uns. Siehe dazu: Nachruf 23 – »Abbruch: Erich Loests Fens­tersturz«

Siegreich reitet Napoleon in Moskau ein und flieht, vom Feuer verfolgt, heim nach Paris. Kaiser Wilhelm Zwo will`s ein Jahr­hundert darauf besser machen und endet als Holz­hacker in Holland. Zwei Jahr­zehnte später schickt Hitler die Wehrmacht los. Von Moskau bis Stalin­grad ge­friert ihr, das ist Land­serlos, der Scheiß in der flotten Uni­formhos. Nix war's mit dem deut­schen Führer im Kreml. Das Ende im Ber­liner Füh­rer­bunker wird zur Ge­schichts­lücke, die zu füllen die Bundes­wehr auf­tritt. Obamas NATO loziert Waffen rund um Russ­lands Grenzen. Die verlorenen Kriege vom Irak bis Afgha­nis­tan bedürfen konti­nuier­licher Fort­setzung wie die Waffen­produk­tion. Oder wollt ihr, Leute, ar­beits­los wer­den. Die Ukraine ruft. Von der Pots­damer Gar­nisons­kirche schlägt's 13. Üb immer Treu und Dümm­lich­keit. Die Toten der beiden Welt­kriege ent­steigen gehorsam ihren luxuriösen Massen­gräbern. Der Dichter­prophet Johannes R. Becher dazu in WINTER­SCHLACHT: »Merkt euch, vergesst nicht das Blut der Söhne, der Söhne der Revo­lution. Merkt euch, für Feinde führt kein Weg nach Moskau. Den Freunden aber öffnen wir das Herz.«


´
Winterschlacht   Johannes R. Becher
Winterschlacht
Aufbau-Verlag Berlin 1953  


Gerhard Zwerenz    09.06.2014   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon