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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 27

Das Ende der Linksintellektuellen (2)



Wie jeden Herbst preisen die Medien fleißig den allfälligen Büchner-Preis. Wer den Irak-Krieg lauthals lobte, die Büchner-Stücke nicht mag oder die 68er-Sicht auf den Revol­teur ablehnt, der kann den Staats-Haupt­gewinn einsacken. Es gab mal einen privat finanzierten Alternativen Büchner-Preis. Alternativen aber, das walte Angela M., sind nicht mehr vor­handen. Hier spare ich mir weitere Sätze, verweise aufs Nachwort 70: »Büchner und Nietzsche und wir« und empfehle ohne jede zeit­liche Distan­zie­rung meine liebens­würdigen Provo­ka­tionen aus dem Jahr 1991. Den Alter­nativen Büchner-Preis erhielt übrigens u.a. Dieter Hil­de­brandt, dessen dama­lige Preis­rede unver­gessen ist. Das Nach­klicken bei Nachwort 70 ist ange­bracht, bevor die Preis­ver­schleu­derer amt­lich dekla­rieren, Büch­ner habe Friede den Paläs­ten und Krieg den Hütten gepredigt. Büch­ners Lite­ratur und Philo­sophie stehen jedoch fest­gebannt im Brief an Gutzkow: »Das Ver­hältnis zwi­schen Armen und Rei­chen ist das einzige revo­lutio­näre Element in der Welt …« Dieser revo­lutio­nä­ren Philosophie steht heute eine konter­revolu­tionäre Welt­sicht und Praxis des Miss­lin­gens gegen­über. Weil Phi­lo­sophen nichts be­wirken, nutzen sie ihr Fach als Abreiß-Kalender. Jeder Geistes­riese fetzt seinen Vor­gänger wie ein Kalen­der­blatt vom ges­trigen Tag ab. Andere lesen alte Ka­len­der­blät­ter neu. Schopen­hauer un­ter­schied Phi­lo­sophen von Phi­lo­sophie-Profes­soren. Den Men­schen begriff er als Raubtier. Die Krone der Schöp­fung aber ist der Mensch als spre­chendes Raub­tier, dem es um die er­wei­terte Macht im Revier geht. Wir sammelten Erfah­run­gen in vielen Revieren.

Die Artikel des fleißigen Historikers Kurt Pätzold in nd und jW las ich mit gebotenem Interesse als kritisches Gegenstück zu den vor­herr­schenden Bekun­dun­gen west­deutscher Histo­riker, bis ich von Pätzolds enger, ja inniger Nähe zum DDR-Uni­versitäts­partei­funk­tionär Gottfried Handel erfuhr, der eines schönen Tages im Jahr 1957 laut Zeug­nis von Prof. Roch­hausen am Leipziger Philo­sophi­schen Institut im Über­schwang seiner Gefühle äußerte: »Morgen früh wird zum Glück Zwerenz, das Schwein, endlich verhaftet!« Der Plan misslang, das Schwein war nicht greifbar. Roch­hausen erzählte mir erst nach dem Ende der DDR von Handels lie­bens­wertem Ausruf. Seither lese ich die Artikel Pätzolds, dem Freund und För­derer von Gottfried H. mit doppeltem Inter­esse. Die belei­digte Seele delegiere ich an mein Pseu­donym Gert Gablenz, der hier den Loest macht, d.h. die ekla­tante Belei­di­gung nicht vergessen kann. Weil, nun ja, mit seiner Rück­kehr nach Leipzig begegnete Erich vielen Handels und Pätzolds (?). So beschrieb er es bis zur Resignation in dem Satz: »Meine alten Gegner haben gesiegt.«

  Albert Camus
Der Mensch in der Revolte

Der Mensch in der Revolte von Albert Camus, aus der Zeit seiner Erfahrung im be­setzten Paris geschrieben, führt über die Bereiche Revolution, Kunst, Roman ins Jen­seits des Nihi­lis­mus. Davon las ich in der Rowohlt-Ausgabe von 1953, das Sig­nal­wort Revolte beschäftigte mich seitdem als Kor­rektiv zu Revolution und Konter­revo­lu­tion. Nazi-Deutschland war nur revolu­tionär von innen oder mili­tärisch von außen zu besiegen. Die Stalinsche Sowjet­union bedurfte der inneren Revolte. In der DDR lebten wir im besetzten Land, das es zu befreien galt, ohne in die Kon­ter­revo­lution zu verfallen. Es kam anders. Wir waren zu schwach zur Revolte. Das Resultat verstärkt die Globa­lisierung von Lüge, Verrat, Folter, Mord und kriege­rischen Asym­metrien.
  Die im Nachruf 26 geschilderte Episode, wie Bloch auf dem Flur des Philo­sophi­schen Ins­tituts Ingrid wegen seiner Differenz zu Lukács geradezu beschwört, lässt die Tiefe des Kon­flikts viel­leicht ahnen. Ob Vor­lesung, Seminar oder privates Ge­spräch, Bloch insis­tierte, Lukács war Partei-Insider, er nicht. Also benö­tigte ihre Sprache unter­schied­liche Diffe­ren­zie­rungen. Der Freund ging von All­ge­mein­heiten aus, er aber suchte die kon­kreten Details, von denen aus sich über­raschend neue Allge­meinheiten finden ließen. Hier liegt die Quelle der Bloch­schen Sprache als Dekon­struk­tion herr­schender All­ge­mein­heiten plus Spuren­suche nach neuen Fak­ten. Wenn Loest in Durch die Erde ein Riss berichtet, dass sie in Leip­zig bei­sammen saßen und sich erklären ließen, was »Zwerenz bei Bloch gelernt hatte«, stellt er mir kein zutref­fendes Zeugnis aus. Viel­leicht liegt hier schon die Ursache späte­rer Zerwürf­nisse. Die üblichen Ausdrucks­weisen von Papier-Mar­xisten und Blochs Dik­tion anderer­seits dif­ferieren wie Fremd­sprachen.

Nachrichten aus der Zeit grassierender Fremdsprachen – Waltraud Seidel schickt uns Bernd-Lutz Langes Buch Mauer, Jeans und Prager Frühling, 2003 erschienen im Gustav Kiepenheuer Verlag Leip­zig. Auf Seite 146 tritt jener Gottfried Handel auf, der 1957 meine Ver­haftung zu früh be­jubelt hatte. Jetzt, 1963, also nach unserer Zeit, ging es immer noch um Freiheit, diesmal gegen stu­dentische Kaba­ret­tis­ten vom Rat der Spötter. Handel leis­tete als »stell­ver­tretender Partei­chef der Univer­sität« seine Zuträger- und Zen­sur­dienste und nannte »den sozia­lis­tischen Über­zeu­gungstäter Peter Sodann einen Ar­beiter­verräter.« Sodann bot dem »un­ge­liebten Partei­mann Prügel an.« Wenige Jahre zuvor hätte sich das kein Ver­dächtigter getraut. Von den Ange­klagten erhielt Sodann mit einem Jahr und zehn Monaten die höchste Strafe. Das nimmt sich geradezu human aus. 1957 waren mir noch zehn Jahre angedroht worden. Loest und ich wollten ja auch ganz witz­los den Genossen Ulbricht stürzen.
  Handel hatte sich kurz nach Chruscht­schows Anti-Stalin-Rede eine kleine oppositionelle Abweichung geleistet und hielt drei Tage lang zu uns. Den schweren Fehler abzubüßen, musste er sich von da an stets aufs neue bewähren.

In den verschiedenen Konflikten mit meinen Ex-Genossen im Osten scheute ich weder Po­lemik noch Satire. Nach dem DDR-Exitus ver­kniff ich mir jeden Triumph. Auf diese Dif­ferenz zu den übli­chen Reaktionen vieler meiner Kollegen lege ich Wert. Ich wollte kein Verschwinden, sondern faire Chancen für Kom­munisten und Sozialisten, insofern sie sich nicht schwer schuld­haft ver­halten hatten. Dafür gibt es gute Gründe. Die auf­merk­same Web­seite Medien­beobachter meldete über Ger­hard Zwerenz: »Seine 99 histo­rischen Fragmente sind online erschienen, beim Poeten­laden Leipzig. Zwerenz sieht sein Internet-Tagebuch jeden­falls als Fort­füh­rung der Weltbühne-Kolumne, die er 1954 in der DDR be­gon­nen hatte – freitag.de.«
  Inzwischen sind es fast 300 Fragmente in 3 Teilen geworden. Wozu? Als Botschaft an die Marsmännchen, die nach Ende der irdischen Mensch­heit vorbei kommen und sich fragen: War da mal was oder war da nichts? Sie sollen frohe Botschaft vorfinden.
  Die Abschweifung zum Finale der Zeit nutze ich, um den Widerwillen zu über­winden, den der Name Gott­fried Handel in mir erzeugt. Der kleine Uni-Stalin hatte als eltern­loses Kind viele Jahre in Heimen ver­bracht und in der Partei endlich Mutter, Vater und Heimat gefunden. Vielleicht rührte das Kurt Pätzolds Herz, so dass er sich des Waisen­kindes annahm. Dass der getreue Genosse Pro­fessor K. P. nach dem Ende der DDR als Auf­klärer ihrer Geschichte be­nötigt würde lag bis dahin unterm partei­lichen Horizont. So erge­ben sich individuelle Schlangenlinien, die ich keinem verüble. Auch den Freunden nicht, die mir damals in Leipzig bei­standen, bis ich westwärts entwich und für die SED zum Verräter wurde. Das war mir ein Jahrzehnt früher schon mal mit der Wehrmacht passiert.
  Nach dem Mauerfall 1989 durfte ich Leipzig wieder betreten und fand dort alte Freunde und eine Reihe ein­gefrorene Feinde vor. Wer hier auf Karrieren zurück­blickte, war von Hitlers Feldwebel und Stalin-Gefolgs­mann Paul Fröhlich gefördert, zu­mindest akzeptiert worden. Loest konnte damit nicht fertig werden. Wer aber Feind­schaft über­winden will, muss Brücken bauen. Dazu fehlte es an Architekten.

Der Bundeswehr-Deserteur Arnold Schölzel, mir deshalb sympathisch und später zum junge- Welt-Chef­redakteur aufgestiegen, berichtet am 26.3.2013 von einer Tagung Marxismus und Utopie in Münster. Über das Utopie-Buch von Friedrich Engels nichts Neues. Über Bloch auch nicht. Immerhin wird er genannt. Den ver­sammelten Partei­marxisten hat der inzwischen (2011) verstorbene unver­brüchliche Partei­marxist H.H. Holz die Sprache ver­riegelt. Nun beherrscht, wird vermeldet, der pfiffige Dietmar Dath die linke Szenerie. Unser Vorschlag zur Güte: Schölzel wird Feuil­leton-Chef bei der FAZ und Dath Chefredakteur bei der j W. Frank Schirr­macher darf hier wie allüberall ausgiebig essayieren. Der bürgerliche Mittel­stand erhält stilis­tisches Klassen­bewusst­sein.
  Im Jahr 1991 angelangt im Leipziger Pleißental , von wo die Feindschaft der Fröhlich-Handel-Ulbricht ausging, fällt mir am Hauptbahnhof plötzlich ein, ich bin einer der letz­ten Übrig­geblie­benen. Als es im Reich natio­nale Pflicht war, mit Hitler gegen Stalins jüdische Bolsche­wiken zu sein, war ich mit Stalin gegen Hitler. Als Stalin Hitler besiegt hatte und die eigene Revo­lution erledigte, war ich mit Trotzki gegen Stalin. Bevor Hitlers Kinder und Enkel nun Russland wiedermal bis auf die Kreml­mauern ver­kleinern, bin ich für die Russen. Zögen sie sich weiter zurück, drohte ihnen das Missgeschick der Wieder­täufer von Münster. Wer Russland angreift, macht sich zum Wieder­gänger Napoleons, Kaiser Wilhelms und Hitlers, womit erneut Georg Büchner und Albert Camus ins Spiel kommen – Der Mensch in der Revolte.
  November 2013 – die Medien quellen über von Erin­nerungen ans DDR-Ende vor einem Viertel­jahr­hundert. Meinen Genossen sagte ich den Untergang lange vordem voraus. Die Auflösungs­er­schei­nungen von Staaten beginnen in den Köpfen ihrer Lenker. Das ist keine Frage von Ost oder West. Heute ist laut Hans-Werner Sinn »Deutsch­land per Saldo ein Netto­gläubiger des Restes der Welt. Daher ist unser Land der große Verlierer der Zins­senkung, die Krisenländer sind klare Gewinner.« (FAZ 8.11.2013) Preis­frage: Warum geht's diesem Deutsch­land trotzdem besser als den angeb­lich gewinnenden Krisen­ländern? »Sinns Ruf reicht weit über Deutsch­land hinaus. Gerade war er zum ersten Mal in der Mongolei …« Das ist der FAZ eine ganze Seite wert. Tut nix, dafür dürfen hundert andere Ökonomen wider­spre­chen ohne erst in die Mongolei zu reisen. Was auch ne unsichere Sache sein kann, denn der »Verfall der Ver­kehrs­wege« beginnt bereits daheim im deutschen Vaterland. (FAZ 8.11.2013) Als dritte Weisheit erfahren wir in derselben Ausgabe: »Gut 4000 Studenten fechten jedes Jahr eine Mensur …« Artikel- Über­schrift: Die den Kopf hin­halten … Blut an der Wange hält eben den Kopf bei der Stange oder: Wie die Alten sungen, zwit­schern auch die Jungen.

Ian Kershaws Buch Das Ende. Kampf bis in den Untergang wurde bei Erscheinen rundum gelobt. Warum kämpften »die Deutschen« bis zum Ende im Mai 1945 wie besessen? Kershaw trat im vollbesetzten Frankfurter Literaturhaus auf – soviel Zu­stimmung gab es bei der Wehr­macht­ausstellung nicht. Wie oft trat ich in Lesungen, tv-Runden und anderswo gegen den Krieg und die bürgerlichen Deserteurs-Beschimpfer an. Inzwischen gibt es neue Hitler-Bücher. Die Leitmedien sind voll davon. Noch im nächsten Jahrtausend werden sie damit zu schaffen haben, bis sie in NSU-Manier aus ihrem Führer endlich Adolf den Großen filtern dürfen. Das ist die deutsche Variante von Mensch in der Revolte.
 
Unser Buch Sklavensprache und Revolte schrieben Ingrid und ich, weil wir turbulente Bloch-Zeiten in Ost und West erlebten, ohne in Traditions­vereinen unter­zu­schlüpfen. Wir verstehen uns als Bloch-Praktiker. Während sich in der Philo­sophie ein Meister­denker auf den andern hocken mag, um Format zu gewinnen, gehen wir weder als Meister noch als Schüler – eher als Gesellen wie die Frei­maurer, doch ohne deren Hierar­chien. Anfangs verblüfft, bald animiert, ent­deckte ich in Blochs Geistes­welten den Schlüssel zu meinen eigenen Lebens- und Todes­erfah­rungen. Blochs Werk steckt schon von der Sprache her voller Signale. Wir nennen es Nano-Kunst. Im Nachwort 99 steht dazu das Nötige. Übern Daumen ge­peilt zielt es gegen die Götter als Konstruktion des Menschen. Die Philosophie ver­zichtet auf Gott und setzt ihre autarken Denkfunktionen dagegen. Doch miss­lingen alle Versuche, das freie Denken praktisch werden zu lassen. Auch die Revolutions-Theorie von Marx scheitert an der Vielzahl ihrer Feinde. Bleibt die Suche nach einem 3. Weg.
  Im Vorschulalter, als ich bei Anna, der Großmutter in Gablenz auf­wuchs, kamen manchmal Gäste zum Kaffee, meist Bekannte aus dem Dorf. Wurde es mir lang­weilig, ergriff ich meinen hölzernen Spiel­zeug­säbel und focht wild in der Luft herum. Anna bemühte sich zu be­schwich­tigen. Ist doch gar kein Krieg! Ich flüchtete in die Dach­kammer und schimpfte zum Dach­fenster hinaus Langeweile empfinde ich als un­zumut­bar. Die fleißigen Unglücks­raben der Kultur, die heute herum­geistern, zitieren gern Nietzsches Lehre vom ewigen Kreisverkehr als wären sie Zara­thustras Brüder: »Der Mensch ist etwas, das über­wunden werden soll.« So stehen sie zwischen Über- und Unter­men­schen herum und wissen vor lauter Lange­weile wie 1918 noch nicht, wohin sie sich ent­puppen sollen. In Buch und Film steht ihr Führer längst wieder auf, obwohl er gar nicht mehr dazu gebraucht wird.

  Klassisches Exempel einer erz­stalinis­tischen Leipziger Edition

In der Reihe Pankower Vorträge erschien jetzt als Heft 182 Erbschaft dieser Zeit, titelgleich mit Ernst Blochs Buch, referiert von Dieter Schiller. Wir stellten ihn via www.poetenladen.de im Nachruf 24 vor. Kurz gesagt – diese Festvorlesung von Prof. Dr. Dieter Schiller anlässlich seines 80. Geburts­tages ist eine philologische Meisterleistung par excellence, die uns besonders entzückt, weil sie Blochs Revolten-Philosophie empirisch nachvollziehbar werden lässt, wo wir uns nur auf private Erfahrungen und Blochs Erzählungen stützen konnten. Zum Rückbezug Blochs auf Heideggers Sein und Zeit empfehlen wir Nachruf 10: »Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profit­rate«. Neidlos, aber fröhlich fügen wir hinzu: mit Dieter Schiller über Bloch wird der Wärmestrom des Marxismus fortgesetzt.
  Pause. Atempause. Verschnauf­pause not­gedrungen. Jetzt gerät die Chronik der Karl-Marx-Universität Leipzig 1945 – 1959 ins Spiel, erschienen 1959 im Verlag Enzyklopädie Leipzig aus Anlass der 550-Jahrfeier der Karl-Marx-Uni­versität Leip­zig, he­raus­gegeben von Gottfried Handel und Gerhild Schwend­ler. Die Chro­nistin kennen wir nicht, der erst­genannte Autor ist satt­sam bekannt, beide sorgten gemein­sam dafür, dass in den 118 Druck-Seiten die Majestäten Paul Fröhlich und Walter Ulbricht häufiger vor­kommen als die namhaften Pro­fes­soren, die der Uni­versität Glanz verliehen. Nicht ohne Grund wird in dieser bro­schierten Müllhalde papierner Verlaut­ba­rungen Ernst Bloch ganze zweimal erwähnt. Laut Seite 77 kriegt er 1955 einen Na­tional­preis, auf Seite 85 aber wird über den 4./5. April 1957 kurzum mit­geteilt: Wissen­schaft­liche Kon­ferenz der SED-Partei­leitung des Instituts für Philosophie zur Kritik der revi­sionis­tischen Philo­sophie Ernst Blochs…
 
Da haben wir den Salat. Revisionismus des Nationalpreisträgers. Unruhe unter den Studenten. Immerhin wird auf den Sammelband Ernst Blochs Revision des Marxismus hingewiesen. Als Therapie-Versuch empfehlen wir dagegen unsere chronischen Dekon­struk­tionen im poetenladen. – Bitte zum Vergnügen nachklicken.
Soviel zur Vorgeschichte des Untergangs der DDR, deren fatales Ende sich auch als Rache kontinuierlich verfolgter Linksintellektueller deuten lässt. Meine eigenen Unlustgefühle aus dem Osten setzten sich im Westen bruchlos fort, wo des Führers Leutnante und Haupt­männer Helmut Schmidt, Alfred Dregger, F.J. Strauß ihre Karrieren ungerührt voll­endeten. Ein Sieg Hitlers wäre ihnen zupass gekommen, die Niederlage ließ sich unter Adenauer ebenso nutzen. Widerstand sieht anders aus. Die Hamburger Hochschule der Bundes­wehr trägt den Namen Helmut Schmidt. Fehlt da nicht der direkte indi­viduelle Bruch mit der Wehr­macht? Die Herren holen ihre Wider­stände erst nach, wenn es kein Risiko mehr birgt. Vorher wussten sie nichts von Dachau und Auschwitz. Sie führten einfach Krieg, ob heiß oder kalt und dann wieder heiß. Als die bösen Sowjetbürger sich in Russen zurück­verwan­delten blieben sie gleichwohl Feinde. Was aber, ihr tapfren Ritter, was ist, wenn die siegreiche westliche Werte­gemein­schaft ihre Schlachten von Vietnam bis Afghanis­tan nur noch verliert? In den ersten Jahren der Bundeswehr vernahm man die Frage: Was ist, wenn die Sowjetunion angreift? Antwort: Die Bundeswehr hält die Front drei Tage, dann geht die Wehrmacht in Stellung.
  Heraklits Wort vom Krieg als Vater aller Dinge - »aller Dinge König« – bezieht die Philosophie selbst mit ein. Wer frei denkt, braucht einen freien Raum. Entweder nimmt er dazu an der Macht teil oder richtet sich auf Verfolgung ein. So beginnt der Krieg im Kopf. Die geballte Faust wird getarnt und stattdessen ballt sich die Seele.

Walter Ulbricht, der Reihe nach Sozialdemokrat, Spartakist, Kommunist, Anti­fa­schist, Sta­li­nist, wirk­samster Geg­ner Adenauers, stand 1956 vor der letzten Ent­schei­dung seines Lebens. Sein Kar­dinal­fehler wurde der Entschluss, Ernst Bloch kalt­zustellen. Die spätere schwache Kurs­korrektur führte zur eigenen Ent­mach­tung durch die Sowjet­union und Honecker. Chruscht­schows Ent­sta­lini­sierungs­versuch jedoch war keines­wegs chancenlos. Er scheiterte an der Halb­herzig­keit in Moskau und Berlin, wo der Sachse Ulbricht erst unent­schlos­sen schwankte und dann mit seinem Brief gegen Bloch die neo­stalinis­tische Repres­sion an­ordnete. Mit dem Ende des Tau­wetters wurde Ulbricht zum Noske der SED. Das ist es wohl, was Erich Loest meinte, wenn er sagte: »Meine alten Gegner haben gesiegt.« Wir sehen es nicht so. Zumindest sollten die Gegner genauer defi­niert werden. Ebenso die Freunde.

Die Anzeige, 2013 in einigen Medien erschienen, ist als Frage zu bescheiden. Die politische Linke begann in der Tat als Arbeiterbewegung europäisch und Sachsen wurde zum roten Kernland mit Leipzig als Schwerpunkt. Ob SPD, KPD, SED, PDS, Linkspartei, Leipzig ist extensiv dabei und taugt zur Gründung einer zweiten Reformation mit dem philosophischen Erbe Ernst Blochs und dem ökonomischen Nachlass von Fritz Behrens. Soviel zur Stadt an der Pleiße. Und nun zu Frankfurt am Main:

Rudi Homann bloggt.
von RudolfHomann @ 2013-03-16 – 10:11:43

Zur Erinnerung an Fritz Bauer
* 16. Juli 1903 in Stuttgart; † 1. Juli 1968 in Frankfurt am Main. Der Filmemacherin Ilona Ziok gebührt das Verdienst, den wohl profiliertesten Staats­anwalt, den Deutsch­land je hatte, mit ihrem Film TOD AUF RATEN wieder in Erin­nerung gerufen zu haben.

Zitate von Fritz Bauer:

»Wir Emigranten hatten so unsere heiligen Irrtümer. Daß Deutschland in Trümmern liegt, hat auch sein Gutes, dachten wir. Da kommt der Schutt weg, dann bauen wir Städte der Zukunft. Hell, weit und menschenfreundlich. [...] Dann kamen die anderen, die sagten: „Aber die Kanali­sations­anlagen unter den Trümmern sind doch noch heil!“ Na, und so wurden die deutschen Städte wieder aufgebaut, wie die Kanalisation es verlangte. [...] Was glauben Sie, kann aus diesem Land werden? Meinen Sie, es ist noch zu retten? [...] Nehmen Sie die ersten Bonner Jahre! Keine Wehrmacht! Keine Politik der Stärke! Nun betrachten Sie mal die jetzige Politik und die Notstandsgesetze dazu! Legen Sie meinethalben ein Lineal an. Wohin zeigt es? Nach rechts! Was kann da in der Verlängerung herauskommen?«
Aus: Gerhard Zwerenz: Gespräche mit Fritz Bauer. In: Streit-Zeit-Schrift VI,2, Frank­furt a.M., September 1968, S. 89-93, hier S. 92f.


Über Fritz Bauer und den Ilona-Ziok-Film Tot auf Raten gibt es Bescheid im poetenladen-Nachwort 15. Bauer starb pünktlich 1968, Adorno nur ein Jahr später. Der Tod auf Raten räumte unter den wenigen re­mi­grierten Links­intel­lektuel­len vor­zeitig auf. Im Osten fegte die Partei ihre letzten Oppo­sitionel­len weg, auf dass sie in die äußere oder innere Emigration entflohen, den Rest besorg­ten Partei­aus­schluss und Totschweigen inklusive Über­wachung und Giftpfeilen, was uns nötigt, Loests fatales Abschieds­wort im Richard-Wagner-Sound zu ritualisieren: »Meine alten Gegner haben gesiegt.« So der Refrain und soviel zum abgelegten Sozialismus. Im Westen aber ernten dahin­gegangene Links­promis die üb­lichen falschen Nach­rufe wo nicht Staats­begräb­nisse. Gott­seidank wieder ein Störer verschwunden. Im akade­mischen Überbau überleben noch ein paar Adorno-Schüler von Haber­mas bis Oskar Negt, der den Bloch nicht mehr zum Philo­sophen des Roten Oktober kürt, obwohl seine SPD sich gerade links­seitig zu öffnen anschickt. Im aller­west­lichs­ten Westen aber, an der Bocken­heimer Warte in Frankfurt am Main inmitten baby­lonischer Turm­bauten sitzt verein­samt der kunstvoll denk­mali­sierte Theodor W. Adorno in seinem Glaskäfig und liest gerade das FAZ-Feuil­leton vom 25. November 2013, wo der standes­gemäß verdrossene Historiker und Alt-Sozi Prof. Hans-Ulrich Wehler seiner mürben Partei den dumpfen Titel einer »rot-roten Chimäre« verleiht, die liebe NATO hoch­leben lässt und die Ostgenossen als Irr­lichter abtut, und alles wegen der even­tuellen Links­öffnung zu Gysi und Wagen­knecht. Das Pärchen ist gar nicht so übel, denkt der Überlebens-Adorno im Glas, mit so einer Sahra ist gut zu leben. Zungen­schnalzend erhebt er sich beinahe erregt vom akade­mischen Stuhl, trommelt von innen gegen die gläserne Wand und doziert: »Nach Auschwitz sind Gedichte doch möglich und ein richtiges Leben gegen das falsche lässt sich auch führen …«
Gerhard Zwerenz    02.12.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon