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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wi­der­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 37

Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront


Vorläufig noch ohne Militär – Ver­teidigungs­minis­terin wehrt Putin ab: Go away!




 


Das alte Reich neu aus der Asche? Je älter ich werde, desto wieder­holter das Land. Statt dich an den Sternen zu weiden, musst du in den Clinch gehen. Zurück aus den Niede­rungen, die Heimat des Herrn Sisyphos ist der Berg. Und so mitten im schwung­haften Waffen­handel dem nackten Wort den Vorzug gebend, ver­neh­men wir, die Sprache wird einge­zogen. Die Nazi-Lieb­lings­vokabel Einsatz be­herrscht wieder die aktuel­le Presse. Längst über­queren mediale Eier­köpfe im Schweins­galopp die ideo­logi­schen Ziel­linien. Heimlich betrei­ben unheim­liche, bei­nahe sympa­thische alte Herren ihre hoch­geehrte Rück­kehr nach Walhalla, von wo sie einst, das Horst­wessel­deutsch­land­lied auf den süßen Lippen, aufge­brochen. Jeder zweite deutsche Doktor ein Rächer verlorener Ehre. Die neue Ost­front ruft. Nation oder NATO, das alte Gesülze würzt die morschen Knochen mit dem lang ver­missten Lorbeer­ge­schmack. Die Hunnen, in offner Feld­schlacht abge­schla­gen, brauchen ihre Niederlage nicht länger als Demo­kratie zu tarnen, nur weil's so befohlen von den Siegern. Ein Halb­jahr­hun­dert nach den verlo­renen letzten Kämpfen erheben sich die ausge­blute­ten Ge­spenster und reden unge­brochen weiter, als wären sie nie verstummt. War alles nur Theater, erläu­tern nach rechts geläu­terte Kritiker die Rolle der Helden, wir sind wieder die wahren Meister der Welt­geschichte. Die Fahne flattert als Schwanz uns hinter­drein. In den Wieder­geburts­regis­tern melden die Kreuz­zügler sich per Hand­zeich­en erfreut zur Stelle. Endlich tritt Bar­barossa mit Donner­schlag und Chemie­gestank aus dem Kiff­häuser wie Ziethen aus dem histo­ri­schen Busch­feuer. Ich wünschte, es wäre Nacht oder die Preu­ßen blieben, wo der rote Pfeffer wächst. Das zahn­lose Gelächter des mit Pomp und Kohl zu Sanssouci end­bestat­teten Alten Fritzen irr­lichtert aus dem Mauerwerk der Neuen Wache, unser Frideri­cus Rex alias Otto Gebühr spielt die Asche des Unbe­kannten Soldaten, der im Fernsehen strah­lend als Frau von der Leyen erscheint. Kennt­lich zu werden ist den Gespen­stern auf­gegeben, die Pflicht ruft, die Führer kehren aus der inneren Emigration ihrer sieben Berge als sieben Zwerge zurück. Deutsch­land, gött­licher Wotans­sitz, offen­bart sich in Ewig­keit und kein Amen.

Was ich hier schreibe, fügt Tage­buch­notizen aus verschie­denen Zeiten zusammen. Was ist Herzblut, Herzwut, Leit­artikel­gift, Polit­hinter­list, offene Aggres­sion, was ist mediale Ideologie und wie rea­gieren wir auf die davon aus­gehende Ver­dros­sen­heit, als Stachel-Igel oder eifrig erin­nernder Mara­thon­läufer? Lyrik entsteht neu als Dauer­lauf mit bloßen Füßen über die ver­balen Wort­feuer einer Gegen­wart, die nichts ist als Wieder­holungs­zwang. Wie­der­holung tötet mindes­tens zum Schein. Die Toten leben als Schein­tote immer erneut auf und fort. Hitler, nur als Beispiel, ist zwar real tot, als Kunst­figur doch jederzeit abrufbar. Sebastian Haffner suchte ihn mit seinen Anmer­kungen zu Hitler nach­haltig zu ent­materia­li­sieren, Joachim Fest weckte ihn gemein­sam mit Albert Speer wieder auf. Der Führer wird als Gegenpol gebraucht für den Wider­stand, den man selbst schul­dig blieb. Ein Atten­täter, der für seine tapfre Tat erschossen wurde, leiht dem Schau­spieler, der ihn Jahr­zehnte später darstellt, die Aura von Courage, wozu ihm ein feuil­letonis­tischer Sprüche­klopfer verhilft, um sich selbst zu erhöhen. Dazu schreiben Horden beflis­sener Historiker die Ge­schichte so lange um, bis sie sich in die jeweils herr­schenden Inter­preta­tionen nahtlos einfügt, wozu das ver­flos­sene Personal im schein­toten Aggregat­zu­stand zur Stelle sein muss. Da heißt es, das Fleisch aufwecken, um­modeln, Kult­seele ein­blasen und fertig ist das neue Meister­werk. Real tot zu sein ist un­modern geworden. Histo­riker wie Medi­ziner arbei­ten daran, den rela­tiven, zeit­lich be­schränk­ten, bei Bedarf wider­rufbaren Tod in Per­fek­tion zu er­finden, den Schein­tod der Schein­toten, dieser Lücken­büßer im Angebot von Politik und Kultur. Ent­weder wachsen die Über­menschen von Kindheit an auf dem Markt nach oder der Ge­schichts­schrei­ber sammelt sie auf Fried­höfen ein, die längst zu moder­nen Warte­sälen für post­moderne Aggregat-Seelen aus­gestal­tet wurden. Es gibt Wider­stände.


 

Walter Janka
Zu Kreuze kriechen kann ich nicht!
Erinnerungen und Lebenszeugnisse
Verlag für Berlin-Brandenburg 2014



Heute ist der 29. April 2014, ich habe meine morgenfrische Wut in Wortschläge verwandelt, atme die schlaf­schweren Muskeln und kaput­ten Knochen lebendig und begrüße Walter Janka, der heute 100 Jahre alt wird, vor 2 Jahrzehnten abtrat und den Tod wider­ruft, indem er sein neuestes letztes Buch im Taunus vorbeibringt: Zu Kreuze kriechen kann ich nicht – Erin­nerungen und Lebens­zeug­nisse – heraus­gegeben von Heike Schneider, bestückt mit fast zwei Dutzend Beiträgen. Am Ende steht mein Brief vom 27. März 1991 und seine Antwort vom 6. April. Weitere Korrespondenz wartet im Hausarchiv. Ich zeige sie dem totlebendigen Jubilar als unver­gessene Spuren. Im Vorwort zum Buch zitiert Heike Schneider meine Charak­teris­tik Jankas, dessen Leben ich einen Stein­bruch für drei Shake­speare-Stücke nannte. Warum so hoch greifen. Weil's eine Frage von Haltung, Ziel, Stil und Niveau ist. Indem ich das Janka-Erin­ne­rungs­buch durch­blättere, fällt mir ein, der Tote trat doch leben­dig durch die Tür, und wir wohnen im Hoch­taunus, wo Brunhilde vom Feldberg herunter mit Steinbrocken wirft – alles ganz märchen­haft.
  Vom 19. bis 25. Mai wird in Köln das Festival für Sinn­sucher zelebriert. Sloter­dijk mit seinem nächsten noch gar nicht geschrie­benen Buch ist bereits zur Stelle. Wie wäre es mit einer Lesung aus dem Sammel­band zum 100. Geburts­tag von Walter Janka oder aus seinem DDR-Klassiker Schwierig­kei­ten mit der Wahrheit, weißt du noch, frage ich meinen über­lebenden Gast, der 28. Oktober 1989 im über­füllten Deut­schen Theater zu Berlin, deine Lebens­geschich­te, zweimal Baut­zen, unter Hitler, unter Ulbricht, Exil außen, Exil innen, Spanien­krieg gegen Franco, wer so univer­sell lebt und kämpft, hatte und hat im West­land eine elend schlechte Presse, kaum Chancen, wahr­genom­men zu werden – lass es gut sein, sagt Janka, mein Büch­lein gibt's heute im Internet für 1 Cent pro Stück, wir sind perdu wie man ver­schwun­dener gar nicht sein kann. Dann geh runter nach Frankfurt, rat ich ihm, da gibt es vom 20. bis 27. Mai die Reihe LiteraTurm mit enormen Koryphäen vom Dresdner Best­sel­ler­typ Tellkamp bis zum Jung-Prosa­isten Fritz J. Raddatz. Du kaufst dir 50 Exemplare Schwierig­keiten mit der Wahr­heit, macht zu­sammen 50 Cent und ver­schenkst deine antiken Bücher dann an Kollegen und Pu­blikum. Wenn du zu signieren bereit bist, kannst du sogar deine Ausgaben zurück­ver­langen. 50 Cent sind für einen freien toten Autor doch aller­hand ehrlich ver­dientes Honorar. Von den Lebenden wird dich so mancher beneiden.


Zwei entspannt lachende Schwarze: Spät­geborener Kohl und unbeirr­barer Ost­front­kämpfer Dregger mit tapfer ver­schwie­gener NSDAP-Mit­glied­schaft. Dem 2002 Ver­stor­be­nen zu Ehren stiftet CDU Silber- und Gold­medaillen „für besonders bür­gerschaft­liches Engage­ment“.



Da ich nun einmal Janka ins heutige Leben zurück­träume, soll dazu ein pro­minen­ter Gegen­füßler auftreten. Ich rufe zur Hölle hinab. Schon meldet Alfred Dregger sich zur Stelle. Als der Sender in Hessen noch Rotfunk sein durfte, gelang es mir, Dregger 1987 im Hörspiel vorzu­führen. Die Pro­gramm­verant­wort­lichen staun­ten, wie positiv das Volk der Zuhörer darauf einging. Heute unmög­lich. Seit Jahr­zehnten wird von Hessen her Schwarz­funk ver­abreicht. Höflich frage ich den aus der braunen Hölle herbei­geru­fenen Dregger: Weshalb sonnten Sie sich in Ihrer Haupt­manns-Ver­gangen­heit und verschwiegen Ihre NSDAP-Mitgliedschaft? Er salu­tiert, macht kehrt und ver­schwindet in der Un­wirk­lichkeit meiner schat­ten­schwar­zen Phan­ta­sien. So sind sie, die Kriegs­hel­den, sage ich zu Walter Janka, auf dessen hun­dertsten Geburts­tag außer dem Freitag keine Zeitung im Westen eingeht. Nur im Osten lebt der Jubilar für einige Tage auf. Alte Erfah­rungen. Deutsche Tei­lung ohne Mauer. Immerhin traut man sich in der vor­maligen BRD nun skeptisch und kritisch an Heideg­ger ran. War der Na­tional­sozia­list? fragt die FAZ am 13. März 2014 und gibt un­zwei­deutig Bescheid: Die Antwort lautet schon lange: ja. Wer wie er am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat und öffent­lich Sätze sagte wie ›Das Deutsche Volk ist jetzt dabei, sein eigenes Wesen wieder­zu­finden und sich würdig zu machen eines großen Schicksals …‹ Schön gesagt. Nur etwas spät. Und wahr­schein­lich folgen­los Die Kriegs­geschich­te geht wie vor­dem weiter.


Der frühere Kohl-Berater Professor Michael Stürmer warnte bereits am 26.1.1997: Wenn Europa stagniert, kommt die deutsche Frage zurück. Offenbar ist es jetzt soweit. Obama fordert die deutsche Bundes­kanzle­rin unum­wunden auf, Europa zu führen. Wohin soll's denn gehen? Gauck auf der jüngsten Münchner Sicher­heits-Konfe­renz: Manchmal kann auch der Einsatz von Sol­daten er­forder­lich sein. Was Merkel bisher aus­schloss. Und wie lange unterwerfen willige Europäer sich tatsäch­lich der deut­schen Füh­rung? Professor Stürmer avancierte inzwischen als Welt-Chef­kor­res­pon­dent auf einen alt­erprobten Kampf­platz. Deutschland samt Europa, dazu die Ukraine schon in Flammen. Ost­krieger an die Front. Hauptmann und NSDAP-Mitglied Dregger zum Volks­trauer­tag 1986 via Bonner Bundestag im damals noch unver­einten Deutschland: Wer sich in dieser ausweglosen Situation dafür entschieden hat … dem Kriegsgegner bis zuletzt zu wider­stehen, der hat für seine Person eine ehren­volle Wahl getrof­fen. Das gilt ins­beson­dere für die Sol­daten des deutschen Ost­hee­res, die in den letzten Monaten des Krieges die Flucht von Mil­lionen Ost­deut­schen vor der Roten Armee zu decken hatten …
  Inzwischen ist die Rote Armee passé. Russen und Ukrainer gibt es weiter. Wohin soll Merkel Europa führen. Ins Christentum? Ihr vorge­setzter NATO-General­sekretär Rasmussen verlangt: Nato muss rüsten. Ihr Christus darf nicht runter vom Kreuz. Er wird neu angenagelt?

Seit es keine Philosophie mehr gibt, tauchen unglaub­lich viele weib­liche und männ­liche Philo­sophie­betreiber in Print- und tv-Medien auf. Da muss irgend­wo ein Nest sein. Unter­scheiden wir wie Scho­pen­hauer und Ernst Bloch zwischen Philo­sophen und Philo­sophie­pro­fes­soren, mini­mali­siert sich der Berufs­stand. Ob aber profes­sio­nell oder frei­schwebend, fach­spezi­fische Treffen verlaufen zunft­gemäß eso­terisch-exo­tisch wie eh und je. Öffent­liche Auftritte bedür­fen dagegen der klugen Mixtur von Speku­lation und Sen­sation, Kopfzirkus eben. Die Haupt-Krux ist, keiner hat es­sen­tiell Neues zu sagen. Sie wissen nichts, falls aber doch, wagt es keiner zu äußern. Sklaven­sprache. Habermas strei­chelt die SPD liebe­voll in den Irr­garten Große Koalition. Negt demen­tiert, dass er Bloch einst den Philo­sophen der russischen Okto­ber­re­volu­tion nannte. Zwischen Suhr­kamp und Fern­se­hen pen­delt Alexan­der Kluge als dritter Promi der Adorno-Legende. Doch die liebe Auf­klä­rung ist vorüber. Hat nie gewirkt und blieb Kants uner­reichbares Ding an sich. Ver­wandelte Kants Schrift Zum ewigen Frieden je einen einzigen Krieger zum Anti­krieger? Wir wollen nicht unge­recht sein, der markt­gängige Solipsist Markus Gabriel, zuletzt erschie­nenes Buch: Warum es die Welt nicht gibt, zer­legte neu­lich sou­verän Heideg­gers Schwarze Hefte sogar in der erzkonser­vativen Welt. Aus­nahmen sind rar, werden dankbar wahr­ge­nommen. In der Poli­tik dominiert wie in groß­deut­schen Zeiten die Nazi­vokabel Einsatz. Du wachst auf und lebst in einer déjà-vu-Tota­lität, eure Welt­kriege enden nicht, solange es den Siegern gelingt, die Besiegten für sich zur Fort­setzung des Kampfs um die Welt­herr­schaft zu enga­gieren.


In den Medien neuer Pädo­philen-Ver­dacht gegen Lehrer. Sind die Kirche, der Odenwald oder Edathy en suite dran, dem seine SPD-Genossen noch nach­wei­sen werden, dass er das Manneken Pis in Brüssel foto­gra­fierte mit beson­derer Hervor­he­bung des Was­ser­strahls aus dem kind­lichen frisch-fröh­lichen Pimmel? Was ist, wenn sich einer statt an Jungen an Mäd­chen aufgeilt. Die Deut­schen ster­ben sowie­so aus. Dabei werden sie ge­braucht. Schon George W. Bush wollte Ukraine, Molda­wien, Georgien stracks in die NATO auf­nehmen. Auf­gescho­ben ist nicht auf­geho­ben. Es gibt keinen Neu­schnee schrieb Tuchols­ky – alles schon mal dage­wesen, gesehen, erlebt – Nietzea­ni­scher Kreis­ver­kehr, die Welt als Karus­sell. Obamas un­still­bare Neu­gier auf Angelas Handy. Agiert sie rechts oder wegen DDR-Erzie­hung linksrum. Hat die CDU bereits sozial­demo­kra­tisiert. Geht's weiter Richtung Kom­munis­mus? Muss der Westen den Osten kulti­vieren oder sich selbst?

Bericht eines auf dem Schlachtfeld verirrten Soldaten: Zwei Schüsse fallen. Zum Wald hetze ich, brotkauend, mein Gewehr schwenkend. Je mehr ich mich der Front nähere, desto belebter wird das Land. Russische und polnische Trupps wimmeln durcheinander, meine Uni­form wird mir gefährlich. Im Unter­holz such ich nach Beeren. Höre Schritte. Ein russischer Soldat nähert sich. Viel­leicht hat er mich bemerkt und sucht nach mir. Keine zehn Schritt entfernt, unter einer ausladenden Eiche, zieht der Soldat seine Litewka über den Kopf, breitet sie sorg­fältig am Boden aus und setzt sich still, den Rücken zu mir, nieder. Ich seh seine Nacken­mus­keln spielen. Der Mann kaut. Irgend etwas in mir ist dafür, ihm eine Chance zu geben. Wenn ich ihn anrufe, wendet er sich um, und ich müsste schie­ßen. Er könnte schreien. Es muss lautlos zugehen. Er hört noch etwas, zieht die Schultern hoch und will sich um­wenden, ich stolpere auf dem letzten Stück und renne ihm im Fallen das Bajo­nett in den Rücken; knirschend bohrt es sich in die linke Seite und zerschneidet durch die Rippen das Herz. Du glaubst nicht, wie lautlos es zugehen kann, wenn Menschen ein­ander töten. Er sagt nur laut und erstaunt: Warum. Wie ich seine Litewka unter­suche, find ich das deutsche Soldbuch, die Erken­nungs­marke, eine Brieftasche mit Bildern. Auf den Fotos erkenne ich den Toten. Er steht, mit Frau und Kindern – zwei Töchtern – vor einer Laube, den Hut schwen­kend. Auf einem andern Foto sitzt er am Steuer eines DKW, lacht mit blit­zenden Zähnen. Ich ziehe ihm Hosen und Stiefel aus. Das blutige Hemd wasche ich am See. So als einge­kleideter Russe wage ich mich nun offener hervor. Dabei ist es mir unangenehm, dass ich einen Deutschen umgebracht habe. Das konnte ich ihm nicht ansehen. Er hatte einem Russen ge­glichen. Nun gleiche ich einem Russen.

Mai 2014. Obama telefoniert mit Merkel. Merkel mit Putin. Putin mit Merkel. Merkel mit Obama, der sowieso weiß, was Merkel mit wem auch immer beredet. Für Obama wirkt Merkels Handy als öffent­liche Telefon­zelle. Putin sagt, er hört nicht mit. Warum kommen die drei fern­sprechen­den Haupt­leute nicht direkt zusammen? Roose­velt, Chur­chill, de Gaulle, Stalin verab­redeten ihre kriege­rischen Welt­frie­dens­pläne auf realen Meetings. Kocht die Kriegsgefahr wieder so hoch, sollten Obama, Merkel, Putin direkt in Kiew tagen. Wer hat mehr Macht als ihr Welt-Trio? Wer wagte dem zu wider­stehen, wenn sie sich eini­gen. Dass daraus später neue Kriege ent­stehen wie nach Welt­krieg 1 und 2 entspricht Clause­witz'scher Logik. Viel­leicht sollten unsre drei gläubigen Global­politiker ihren Herrn Jesus vom Kreuz nehmen und als auf­erstanden ein­beziehen. Das schafft emotionale Nähe. Wir von den letzten ver­streu­ten Linken entsenden unseren Ernst Bloch dazu mit der luziden Botschaft Kampf, nicht Krieg. Sollten also Obama, Putin, Merkel die Ukraine befrieden, könnten sie es an­schließend auch mit Kuba versuchen, das seit Jahr­zehn­ten darauf wartet, inklusive Rückgabe des durch USA-Folter miss­brauchten Guantanamo.
  In Horst Krügers Anthologie Was ist heute links? von 1963 hatte ich optimis­tisch auf Literatur und Philo­sophie gesetzt und geschrieben: Die neue Linke ist der Prolog des drit­ten Jahr­tausends oder gar nichts. Diese beschwo­rene Linke gibt es nicht mehr. Ihre über­ständi­gen Nach­kom­men gehen als zirzen­si­sche Schau­stel­ler oder gleich ganz und gar als maul­äffische PC-Krieger ihrer Herr­schaf­ten an die Medien­front. Immerhin rührt sich mit den Mai­blümchen unter kühler Früh­lings­sonne im Um­kreis der Links­partei ein erster Dis­kurs zur Frage, wie es wei­ter­gehen soll. Die Partei enthält sich schwerer Fehler und bleibt bisher ca. 10% stark oder schwach, je nach Sichtweise. Ich wünsche ihr das Doppelte, also etwa gleichauf mit der SPD. Und was dann? Wird die Links­partei zur SPD, ist sie keine Links­partei mehr. Wird die SPD tat­säch­lich links, gilt sie als system­feind­lich.
  Als Hitlers Wehrmacht im Juni 1941 Lemberg eroberte, schlossen sich Kolla­bora­teure des ukraini­schen Natio­nalis­ten Bandera den Nazis an. Es ging gegen Juden, Polen, Russen. Die Pogrome forder­ten Tausende von Opfern. Später wurde eine ukraini­sche Waffen-SS-Devision auf­gestellt. Heute gilt Bandera jungen wie alten Bür­gern der West-Ukraine als Held und Vor­bild. Unsere Medien nehmen davon nur ungern Kenntnis. Das Polit­magazin Pano­rama brachte am 8. Mai 2014 einen resolut recher­chier­ten Bericht. Offenbar braucht es inzwi­schen verdammt viel Courage, Hitlers Mord­helfer beim Namen zu nennen.
Gerhard Zwerenz    12.05.2014   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon