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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Teil 3 | Nachrufe & Abrechnung

Die Sächsische Autobiographie, in­zwischen ungetarnt offen als authen­tisches Auto­bio­gra­phie-Roman-Fragment – weil unab­geschlos­sen – defi­niert, besteht bis­her aus 99 Folgen (Kapiteln) und 99 Nachworten (Kapiteln). Der Dritte Teil trägt den Titel: Nach­rufe & Ab­rechnung.
  Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philo­sophen nennen das coinci­dentia opposi­torum, d.h. Einheit der Wider­sprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  Nachrufe & Abrechnung 26

Das Ende der Linksintellektuellen (1)



Die Väter Marx und Engels hatten wie einst Gott und Joseph mit Maria mehrere Söhne. Die weltweit bekanntesten heißen Lenin und Stalin. Ihre heilige Mutter Maria ist die Partei, die aus der Revo­lutions-Idee hervor­ging wie Aphro­dite aus dem Haupte des Zeus. Kopf­geburten eben, wenn nicht wie bei Stalin als Vorname der Stalin-Orgel, mit deren Hilfe die Rote Armee Hitler das Genick brach (Copyright Ernst Thälmann), was den Führer in den Augen seiner Nach­kommen zum Opfer des Kommunismus werden ließ usw.
  Soweit das historische Präludium und jetzt die Nationalhymne in voller Be­setzung von gestern, heute und mor­gen. Sie heißt große Koalition, setzt sich aus CDU-CSU-SPD und viel Schaum (H.-M. Enzens­berger) zusammen und bietet im grauen Monat November 2013 der ver­schreckten Links­partei die un­verhoffte Chance, zur stärksten schwachen Op­positions­partei zu werden. Denn die FDP ist raus. Die Grünen lernen von der FDP den verdienten Abgang und ziehen sich in die Provinzen zurück, wo schon die Piraten über­wintern. Was also tun?
  Die beliebte bürgerliche Einteilung der jetzigen Linkspartei in eine niedliche östliche Volks­partei und die bösen Links­draußen im Westen ist hirn­schwache Ver­legen­heit. Tat­säch­lich bietet der Marxis­mus für jede Links­partei Soll­bruch­stellen. Wer die Revolu­tion betreibt, wird kon­ter­revo­lutio­niert. Wer sich der SPD an­schließt, kann geduldet werden. Revolutio­niert sich die SPD etwa, wird sie als kom­munis­tisch krimi­nali­siert. Das Ergebnis ist die Trans­formation von Markt­wirt­schaft in die kapi­talen heutigen Speku­lations-Mono­pole. Die Gangs der Wirt­schafts- und Finanz­zen­tren höhlen den Staat zur Post­demo­kratie aus. Was uns wieder auf die feudale große Koa­lition von 2013 zurückbringt. Gregor Gysi als Berliner Oppo­sitions-Demos­thenes im Kon­trast zur Welt­macht-Angela gibt gewiss eine klein­wüchsige, im Format jedoch un­über­treff­bare Figur. Die Konstel­lation – zwei Ossis, dazu noch Frau und Mann – mag feuil­leton­taug­lich, also unterm Strich sym­pathie­taug­lich sein. Wesent­lich wird der Vorgang erst als End­spiel, das wir früheren linken DDR-Oppo­nenten in weiser Voraus­sicht zu ver­hin­dern suchten. Es hieß die DDR zu refor­mieren ohne der BRD anheim­zufallen. Denn wer Deutsch­land grenzen­los ver­einigt, der ver­uneinigt Europa. Die Kriege werden nicht mehr erklärt. Sie gehen einfach per­manent weiter. Weil, ach ja ihr Ge­nossen samt Ober­genos­sen und bürger­lichen Über­men­schen – ohne Rüs­tung läuft die gesamte Kapital­ma­schine leer. Der Rest ist Partei genannte mora­lische Heuche­lei.
  Eins muss man dem Wirtschaftsteil der FAS lassen – sie greifen hinein ins volle Menschen­leben. Am 20. Oktober 2013 wird mitgeteilt: »Finanz­märkte funk­tio­nieren sehr gut. Sie sind effi­zient!« So der eine No­bel­preis­träger. Der zweite Nobel­preis­träger aber: »Finanz­märkte neigen zu irra­tio­naler Über­treibung.« Das muss dem zu­stän­digen Redakteur auf­gefal­len sein. Also fragt er im selben Blatt: »Wie ver­rückt sind die Börsen?« End­lich wird klipp und klar »Das Versagen der Öko­nomen« fest­gestellt, was uns nicht überrascht, in Enten­hausen jedoch Mut zur Wahr­heit benötigt. Keine Bange, ihr Wirtschafts- und Finanz­waisen­kinder, die Astro­nomie brauchte auch viel Zeit, sich von der Astro­logie zu lösen.
  Und nun schlägts 13. Die FAZ gibt von Bernd Ziesemer ein Buch mit dem Titel Karl Marx für jedermann heraus, für das die Zeitung am 21. Oktober auch rückhalt­lose fette Werbung veranstaltet:

»Für alle, die Marx wirklich verstehen wollen: sein Leben und seine Wir­kungs­geschichte – sowohl in der ökonomischen Wissenschaft als auch in den wirtschaftlichen Debat­ten der Arbeiter­bewegung.
›Es wird immer ein Fehler sein, Marx nicht zu lesen, ihn nicht wieder­zulesen …›
Jacques Derrida, franzö­sischer Philo­soph, in seinem Buch Marxgespenster. «

Den Deutschen Marx durch den Franzosen Derrida empfehlen zu lassen ist der Ges­penster­furcht zwischen Rhein und Elbe geschuldet. Davon abge­sehen gibt es sachliche Gründe. Derridas Philo­sophie ent­hält mehr Marx und Bloch als die deutschen Adepten sich zu erträumen trauen. Wir äußerten uns hier oft genug dazu und nutzen gern die Gele­gen­heit, mit Marx, Bloch, Derrida den Schwer­ter­tanz der Dif­feren­zen und Aporien auf­zuführen. Evident ist, von Marx stammt die erste strin­gende Global-Ana­lyse des Kapi­tals. Der Erkennt­nis-Schreck führte zur Marx­schen Revo­lutions-Theorie, deren sowjetische Variante versagte, während die Methode in China den abend­ländischen Kapita­lis­mus end­gültig heraus­fordert. Die Global-Bühne gibt das Stück – Drama und Operette – als Duell. Das längst kopflose Europa darf wählen, mit wem es sich opfern und verschwinden will.


Neues Deutschland 16.11.1973:
Wir kleinen Zeitgenossen zwischen Widerspruch und Widerstand



Der kleine lässige Abstecher von den irren Höhen der Philosophie in die Abgründe der Öko­nomie fällt leicht. Gipfel und Tal gehören zusammen. Nicht abge­sicherte Berg­steiger kalku­lieren den Absturz ein. Als die ge­schla­genen 1945er auf neue Siege um­rüste­ten, indem die einen den west­lichen und die anderen den öst­lichen Siegern zu­liefen, geriet jene Spezies zum siebten Mal in Ver­le­genheit, die Links­intel­lek­tuelle genannt wird, und immer in An­führungs­strichen, also Dis­tanz. In Leip­zig, der späten Helden­stadt, mindes­tens von der Völker­schlacht 1813 an, wurde daraus ein Ritual. Wir kleinen Zeit­genos­sen versuchten uns in den Irr­gärten zwischen Wider­spruch und Wider­stand. Wie kam das zustande? Rück­blick vom Poeten­laden ins Auerbach-Keller-Land, Ab­teilung Hörsaal 40, am Redner­pult Ernst Bloch. Die fol­gende Szene aus dem Jahr 1955 ent­stammt meinem Dif­ferenz-Buch Der Wider­spruch, 1974 Frank­furt/M. Mensch bedenke: die Realzeit liegt mehr als ein Halb­jahr­hun­dert zurück, gedruckt wurde es erst nach 19 Jahren, bis heute ver­liefen nochmal 39 Jahre. Ge­frorene Zeit also.
  »Soweit gekommen, hatte Bloch eine Vorlesung in der Vor­lesung begonnen, denn eben die Kategorie Tota­lität enthielt die wohl wichtigste Differenz zwischen ihm und Georg Lukács. Wo es nur möglich war, sprach sich Bloch über diesen Unter­schied aus, den Angel­punkt seines Hoff­nungs­denkens, wonach das Vor­handene und Gegen­wärtige nicht abge­schlos­sen, sondern ›nach vorn‹ Richtung Zukunft offen und damit ent­wickelbar sei. Ver­ständlicher­weise galt für Bloch das Er­kannte als ein Fertiges. Indem man Wirk­lichkeit auf Begriff brachte, war sie als Begrif­fenes abge­schlos­sen, ein fixiertes, ferti­ges Wissen. Das Pro­zess­hafte, die Mög­lich­keiten seiner Tendenzen und Weiter­ent­wick­lung gingen nicht mit in die Begriff­lich­keit ein, und insofern stellt unsere Erkennt­nis auf­grund ihrer festen Formeln die sich ent­wickelnde Wirk­lich­keit immer als Abge­schlos­senes dar. Ingrid malte aus, wie sich Bloch echauf­fierte, als er darauf zu sprechen kam. Sie standen beide auf dem Flur im Philo­sophi­schen Ins­titut, der Pro­fessor packte die Stu­dentin am Arm, Lukács, meine Liebe, sagte er, gleitet dauernd ins Dedu­zieren aus Fest­stehen­dem ab. Die Zer­störung der Vernunft ist voll davon. Dagegen komme es darauf an, und die Dia­lektik verlange das, die Wirklichkeit in ihrer Bewegung und Weiter­ent­wick­lung zu erkennen und zu fassen.
  In der Vorlesungsnachschrift fanden sich eine Menge Beispiele, die Bloch für seine Auf­fassung heranzog. Die Gestaltlehre in der Musik, wo das Ganze, die Melodie, früher da sei als die Teile und wo die noch so strenge Analyse der Teile eben nicht die Qualität Musik ergebe.«

Das Stichwort heißt Deduktion, also Ableitung des Einzelnen aus dem Allge­meinen. Kaum zu glauben, dass es zur Differenz zwischen den langjährigen Freunden Lukács und Bloch taugte. Wer aller­dings heutzutage die Sprachphilosophie von Aristoteles bis zu Derrida ver­folgt, dem eröffnen sich Abgründe, wes­halb der Komplex meist gemieden oder ver­leugnet wird. Das Allgemeine, die Ab­strak­tion verlangt per Analyse die Definition seiner kon­kreten Einzel­heiten. Wer nicht fündig wird oder werden will oder darf, behilft sich mit dem Glauben. Glaube, Gegen­glaube, Ander­glaube, Glaubens­kriege – die Glau­benden stecken wie Tiere ihr Revier ab. Der lokal be­grenzte Hunger und Fortpflanzungstrieb führt, verbal ver­menschlicht, zur Aus­weitung der Kampf­zone. Wie die fallende Profit­rate in der Ökonomie zum Krieg hinlenkt, so der Glaube – Unglaube – zur Kriegs­kultur als Überbau. Wo Marx noch auf die proletarische Revolution hoffte, spricht Derrida von der Poli­tik im geistigen Tier­reich.


Blochs Differenz zu Lukács wegen dessen Hang zur Deduktion änderte nicht die gegenseitige Wertschätzung. Als der Freund 1956 beim Ungarischen Aufstand in schwere Bedräng­nis geriet, suchte Bloch ihn mit Hilfe von Janka/Becher per Flugzeug aus Budapest in die DDR holen zu lassen, was ihn selbst bei Ulbricht noch stärker unter Verdacht geraten ließ. Der Komplex Deduktion – Dekon­struk­tion bleibt jedoch jenseits aller Politik eine philo­sophi­sche Kardinal­frage. Ob Gott, Sozia­lis­mus oder westliche Werte­gemein­schaft – wer das Allgemeine nicht zu dekon­stru­ieren wagt, weil er die Unterschiede zu artikulieren scheut, der flieht vor der Logik in den unge­prüften Glauben und endet jenseits von Aufklärung. Die Staaten, Parteien, Reli­gionen sind Bur­gen zur Feind-Abwehr. Im Inneren soll so gedacht werden wie der Burgherr es will. Solange der Herr herrscht.
  War Marx der erste Linksintellektuelle, fragt sich wer der letzte sein wird oder war, also längst gewesen ist. Bernd Ziesemer, von dem das FAZ-Buch Karl Marx für jedermann stammt, kämpfte einst in der maois­tischen KPD/AO und wurde später Chefredakteur vom Handelsblatt. War er also erst links und ist nun rechts, was besagt dann seine auf Derrida gestützte Empfeh­lung zur Marx-Lektüre mitten im Frank­furter Kapital­blatt? Mag sein, jeder zweite Kommu­nist wird im Laufe seines Lebens zum Ex- oder Anti­kom­munis­ten. Was aber ist mit den intel­lektuel­len Plebe­jern der 3. Auf­klä­rung? Sollten unsere pluralen Post­marxis­ten die abdrif­tende Post­demo­kratie vor dem Abgrund retten kön­nen? Ziesemer empfiehlt die Marx-Lektüre aus guten Gründen. Und wer wagt die Lektüre?

Ingrid in der Zeitschrift Ossietzky am 30. Juni 2007 am Ende einer Rezension über Robert Neumann: »1960 bat der Autor eine Reihe von Lehrern, das Aufsatzthema ›Was weißt du von Hitler – vom Dritten Reich – von den Juden?‹ zu stellen.« Über das Resultat berichtete Neumann: »Die beste Antwort, von einem sech­zehnein­halb Jahre alten Gewerbe­schüler: ›Hitler war einer aus der Ost­zone, der die west­deut­schen Juden um­bringen wollte.‹« RN dazu: »Also der be­kannte Hitler mit'm Spitzbart, die Brüder dort drüben sind an allem schuld – er ›wollte‹ die Juden um­bringen, wirklich umge­bracht sind sie nicht worden … wir haben uns schützend vor sie ge­stellt, da war dieser Ulbricht, bezie­hungs­weise Hitler abgemeldt.« Wer mehr wissen möchte zu diesem Exempel, sollte Seite 567 in Vielleicht das Heitere nach­lesen. Klar wird jedenfalls: Der Zustand PISA existiert viel länger, als selbst Pessi­misten bisher an­nahmen.« Am 8./9. September 2007 erschien von Ingrid in der Zeitung Neues Deutschland eine weitere Be­sprechung, dazu ein Leser­brief:

Zum Thema erreicht uns vom selben Ver­fasser diese Reak­tion auf den www.poetenladen.de:

Danke für die Herzenswärme aus Sanary sur mer und Marburg und express mit Neumann gleich weiter nach Berlin. Auf Bitten von Harichs Mutter für den inhaf­tierten Wolfgang inter­ve­nierte Neumann von der Schweiz aus in der DDR und nutzte seine noch aus Exil­zeiten stam­menden Kontakte mit avancier­ten Genossen. Zu­schanden ging dabei sein gutes Verhältnis zu Klaus Gysi, dem Vater von Gregor, überdies zerschlugen sich alle Pläne zum Ab­druck von Neumann-Büchern im Osten. Gysi senior hatte parteitreu die Nach­folge der Ver­haf­teten beim Aufbau Verlag und in der Zeitschrift Sonntag ange­treten. Soviel zur Soli­darität unter Links­intel­lek­tuel­­len. Nach der Ver­eini­gung traf ich in Berlin, als Gregor seinen 50. Geburs­tag feierte, mit seinem Vater zusammen und bat ihn um seine Version der damaligen Ereig­nisse. Er vermochte sich nicht mehr zu arti­kulieren, ein kürz­lich erlit­tener Schlag­anfall verhinderte es. Wir stießen mit den Bier­gläsern an. Mir fiel das Schlucken schwer.


Mit der Aktion des Sachsen Paul Fröhlich auf An­weisung des Sachsen Ulbricht gegen Bloch und Lukács gingen der DDR-Philosophie ihre zwei inter­nationalen Kory­phäen ver­loren, die schon vor dem 1.Welt­krieg zum Marxismus gefunden hatten. Eine Zeit­lang schien es, als wirke Bloch nach Leipzig in Tübingen fort. Auch das im Luchter­hand Verlag erschei­nende Lukács-Werk belebte die links­intel­lek­tuelle Szene. Doch die west­liche Linke rückte mit dem Ende von DDR und SU immer mehr ins Ab­seits. Marx schien end­gültig erledigt zu sein, ganz als wäre Moskau je so marxis­tisch gewesen wie es sich ausgab. In Paris ver­ein­samte Sartre, selbst seine engeren Schüler rückten von ihm ab, erhoben sich auf die Schuh­spitzen, fuhren die Zungen­spitzen steif aus und predigten als Ersatz­meister­denker das Krieg­führen, auf dass alle Revolutionen zu Konter­revo­lutionen emanierten. Im ver­einigten Berliner Republik­reich aber benötigten die sieges­taumelnden Gewinner weder Marx noch Bloch noch die anderen ver­bliebenen Linksintellektuellen. Wenn Deutsch­land siegt, singen die Rechten ihre National­hymne, das geschah sogar in der DDR auf die tradi­tionelle Weise, links raus, rechts rein. Der Hammer wumm, der schlägt den stolzen Zirkel krumm.


Gegen Ende der fünfziger Jahre trafen wir im feindlichen Westen, wohin zu türmen wir uns gezwun­gen sahen, auf lauter gute Geister – mit Heinz Kühn, Johannes Rau und ande­ren Genos­sen ergaben sich öffent­liche Streit­ge­spräche, Sebastian Haffner grüßte, Ludwig Marcuse lud ein, Erich Fried sandte aus London ein Will­kommens-Gedicht mit Zu­eig­nung, Manès Sperber reiste aus Paris an und brachte seinen neuen Roman mit, dessen Titel Wie eine Träne im Ozean unsere Ver­loren­heit signa­li­sierte, das Buch wirkte ozea­nisch. Auf­tritte mit Wolfgang Neuss und Martin Nie­möller bei Oster­marsch-Veran­stal­tungen. Zuspruch von Robert Neu­mann, Trost­worte von Jean Amery aus Brüssel, Freund­schaft mit Wolfgang Leon­hard, Wanda Bronska-Pampuch, Jo Scholmer, Jakob Moneta, Heinz Brandt, Heiner Halberstadt, Hans Nikel, Horst Bingel, Hei­nar Kipp­hardt, Alphons Silber­mann, Robert Jungk, Tomas Kosta, Heinrich Böll, Lew Kopelew. Soli­darität von und mit Walter Jens, Karlheinz Deschner, Stefan Heym, Her­zens­nähe zu Heinrich Graf Einsiedel, Rudi Dutschke, Eckart und Lydia Spoo, Otto und Monika Köhler, Jürgen Reents, Wolfram und Rosemarie Schütte, Helmut Schmitz, Jörg Schröder und Babara Kalender, Kathrin Hampf, Leo Bauer. In Frank­furt die tröst­lichen Treffen mit Fritz Bauer, dem so völlig un­typischen Ge­neral­staats­anwalt – die Namen werden aus dem Gedächt­nis ab­gerufen, die Liste endet nicht – unser Himmel hing voller Geigen.
  Heute aber, heute dagegen signa­lisiert das verrückte Jahr 2013 den letzten Ausgang ins Inferno. China steht Schlange, es fährt gern deutsche Autos. Das verleiht den rotgelben Teufeln ein mensch­liches Gesicht. Was tun in all diesen Welt­krisen? Obama zapft Merkels Handy an. In der FAZ wird Marx-Lektüre empfoh­len. Die Herren vom Kapital sollen ihre Holzköpfe öffnen, bevor sie damit gegen die Wand laufen. Ost­deutsch­land lässt grüßen. Wo liegt es? Wer weiß das schon im Westen. Es findet sich hinter Elbe, Oder, Weichsel, Bug, Wolga …? Die Groß­väter kennen sich dort aus. Der Osten als Land der Revo­lutionen und Reli­gionen. Und Obama be­lauscht noch immer Merkel. Die stammt aus dem Osten und stemmt Deutschland zwischen USA und China zur dritten Welt­macht hoch. Hatte sie an der Leip­ziger Karl-Marx-Uni­ver­sität tat­sächlich diesen verdammten Karl Marx gelesen? Im Vertrauen, Mister Präsident, die Leipziger KMU zauberte noch ganz andere Subversive aus dem Hut, was sich nach Erich Loests Freitod sogar in der Messe­stadt herumspricht. Am 22. Oktober 2013 titelt die Leipziger Volks­zeitung: »Feist regt Erich-Loest-Stif­tung an«. Der Leipziger CDU-Bundes­tags­abge­ordnete Thomas Feist erklärt dazu: »Es ist an der Stadt, das Ver­mächt­nis ihres Ehren­bürgers zu erfüllen …« Warum eigentlich nicht? Über­raschungen inklusive. Das garantiert allein schon die über sechs Jahrzehnte reichende Loest-Abtei­lung unseres Haus­archivs im Taunus. Spon­tan greife ich mal rein und ziehe meinen Abschieds­brief von 1957 ans Licht, der Erich der Partei gegen­über ent­las­ten sollte – Sklaven­sprache sui generis. Vom Brief ist der Durch­schlag vorhanden, als Kopie jedoch unleser­lich, deshalb hier die Abschrift:
Gerhard Zwerenz   Westberlin, d. 3.9.57

Lieber Erich!

Du hast einmal gesagt. Du seist zwar mit einigen Dingen in der DDR nicht einverstanden, deshalb würdest Du aber nie nach dem Westen gehen, denn dies sei Klassen­verrat. Nun gut, dann bin ich eben Deiner Meinung nach ein Klassenverräter. Ich meine aber, ich bin es nicht. Übrigens, Du bleibst dabei durchaus bei Deiner Einstellung, und ich sage Dir,­ daß Du im Grunde eben auch nichts anderes bist als ein Stalinist. Du magst manchmal auf­fahren, zornig schimpfen, doch das liegt in Deinem Wesen, ansonst mein Lieber, und das habe ich längst erkannt, bist Du ein treu­ergebener und orthodoxer Partei­genossen. Nun meinet­wegen. Ich konnte es nicht mehr aushalten, ich wäre dabei drauf­gegangen. Es gibt eine Grenze, da hört alles auf - Ich war dran.
Leb trotzdem wohl!


Nach einiger Zeit in der BRD gab es aus London bald präzise Diagnose-Lyrik von Erich Fried. Sie ist bis heute nicht von gestern:

Fazit zum Volkstrauertag im grauen November 2013: Die Linksintellektuellen gingen erst im Osten unter, bevor sie im Westen verschwanden wie es Tradition ist.

* * *

Gerhard Zwerenz    11.11.2013   

 

 
Gerhard Zwerenz
Serie
Zwischenberichte
  1. Zum Jahreswechsel 2012/13
  2. Ins Gelingen oder Misslingen verliebt?
Nachrufe
  1. Es herrscht jetzt Ruhe in Deutschland
  2. Wer löst den Loest-Konflikt?
  3. Wo bleibt die versprochene Reformdebatte?
  4. Wortgefechte zur Linken und zur Rechten
  5. Küsst die Päpste, wo immer ihr sie trefft
  6. Wir Helden auf der immer richtigen Seite
  7. Ein Versuch, Stalingrad zu enträtseln
  8. Der Übermenschen letzter Wille
  9. Hitlers Rückkehr als mediales Opiat
  10. Von Leibniz zum tendenziellen Fall der Profitrate
  11. Vom langen Marsch den 3. Weg entlang
  12. Das Kreuz mit den Kreuzwegen
  13. Gibt es Marxismus ohne Revolution oder ist Marx die Revolution?
  14. Unser Frankfurter Rundschau-Gedenken
  15. Meine Rache ist ein dankbares Lachen
  16. Drei jüdische Linksintellektuelle aus dem Chemnitzer Marx-Kopf
  17. Aufmarsch unserer Kriegs­verteidigungs­minister
  18. Vom Linkstrauma zur asymmetrischen Demokratie
  19. Gauck wurde Präsident. Bloch nicht. Warum?
  20. Vorwärts in den Club der toten Dichter 1
  21. Der Mord an der Philosophie geht weiter
  22. Nie wieder Politik
  23. Abbruch: Erich Loests Fenstersturz
  24. Statt Totenklage Überlebensrede
  25. Philosophie als Revolte mit Kopf und Bauch
  26. Das Ende der Linksintellektuellen (1)
  27. Das Ende der Linksintellektuellen (2)
  28. Leipzig leuchtet, lästert und lacht
  29. Briefwechsel zum Krieg der Poeten
  30. Die Urkatastrophenmacher
  31. Abschied von der letzten Kriegsgeneration?
  32. Konkrete Utopien von Hans Mayer bis Joachim Gaucks Dystopien
  33. Vom Leben in Fremd- und Feindheimaten
  34. Was wäre, wenn alles besser wäre
  35. Von Schwarzen Heften und Löchern
  36. Die unvollendete DDR als Vorläufer
  37. Auf zur allerletzten Schlacht an der Ostfront
  38. »Der Mund des Warners ist mit Erde zugestopft«
  39. Die Internationale der Traumatisierten
  40. Fest-Reich-Ranicki-Schirrmacher – Stirbt das FAZ-Feuilleton aus?
  41. Grenzfälle zwischen Kopf und Krieg
  42. Linke zwischen Hasspredigern und Pazifisten
  43. Wahltag zwischen Orwell und Bloch
  44. Botschaft aus dem Käfig der Papiertiger
  45. Ernst Bloch und die Sklavensprache (1)
  46. »Weltordnung – ein aufs Geratewohl hingeschütteter Kehrichthaufen«
  47. Frankfurter Buchmesse als letztes Echo des Urknalls
  48. Autobiographie als subjektive Geschichtsgeschichten
  49. Die Sprache im Käfig und außerhalb
  50. Tage der Konsequenzen
  51. Oh, du fröhliche Kriegsweihnacht
  52. Merkel, Troika, Akropolis und Platon