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Aus dem Gefängnis schreiben – Words of Realness
Über Spoon Jackson | Von Rainer Komers


Spoon Jackson



Spoon Jackson ist der zweitjüngste von 15 Brüdern. Der Vater, ein Afroamerikaner aus Texas, war vor rassistischer Gewalt ins kalifornische Barstow, eine Kleinstadt in der Mojave Wüste geflüchtet, die an der alten Route 66 zwischen Los Angeles und Las Vegas liegt. Dort fand er Arbeit bei der Santa Fe Railroad und heiratete Hortense Whitney aus Arkansas. Die Familie lebte in einer Zement­hütte, die aus zwei kleinen Wohnräumen und einem winzigem Badezimmer bestand. Es gab keine Zärtlichkeit zwischen den Eltern (die sich später trennten), und Spoon wuchs mit den harten Jungs von der Crooks Street auf, „stealing and fighting“. In der Schule bekam er, häufig grundlos, Stockschläge von seinen weißen Lehrern und, häufig verdient, Peitschenhiebe vom Vater zu Hause, und obwohl ihn die Schule langweilte, saß er seine Zeit bis zum Ende ab, „weil ich dort Mädchen finden konnte“. Mit fast Zwanzig meldete er sich zu den Marines und noch am selben Tag: „I was on one of my runs. I got caught up, was shot, and then killed someone. The killing was not premeditated“, die Tötung war nicht vorsätzlich. Spoon wurde verhaftet und wegen Mordes angeklagt. Die zwölf weißen Geschworenen verurteilten ihn zu Lebenslänglich, „without possibilitiy of parole“, ohne die Möglichkeit einer bedingten Haftentlassung. Das geschah 1977.

Die erste Station auf seiner Odyssee durch kalifornische Gefängnisse war San Quentin in der Bucht von San Francisco. Hier besuchte Spoon die Poetik-Kurse von Judith Tannenbaum, einer Schriftstellerin aus der Bay Area. Wie in der High School von Barstow war er, getarnt hinter einer dunklen Sonnenbrille, meist schweigsam und meldete sich im Unterricht kaum, bis er eines Tages sein erstes, in seiner Zelle verfasstes Gedicht vortrug:

„No Beauty in Cell Bars“.

Restless, unable to sleep
Keys, bars, guns being racked
Year after year
Endless echoes
Of steel kissing steel

(...)

A lifer
A dreamer
Tomorrow's a dream
Yesterday's a memory
Both a passing of a cloud

(...)

There's no beauty in cell bars.

Seit dieser Zeit verbindet ihn mit seiner Lehrerin Judith eine enge Freundschaft, die auch hielt, als er von San Quentin in andere Gefängnisse verlegt wurde. Seine eupho­rische Initiation als Dichter erlebte Spoon, als Judith seine Gedichte in der Point Arena Elemen­tary School vorlas, und die Kinder ihm mit eigenen Gedichten und Briefen antworteten. Die wurden ihm auch ausge­händigt, vorbe­halt­lich der Zustim­mung durch die Gefängnisverwaltung. Den ganzen Tag über lief er mit seinem Schatz herum und erzählte davon jedem, selbst Leuten, die er nicht mochte. Am nächsten Morgen, er hatte bereits Antwortbriefe an die Kinder verfasst, musste ihm Judith auf Anordnung von oben mitteilen, dass er alle Gedichte und Briefe sofort zurück­geben müsse, und dass ihm jeder weitere Kontakt mit den Kindern streng untersagt sei: „What if a prisoner gets out and goes and does something to one of those kids?“ Ein Lebenslänglicher (!) kommt raus und vergeht sich an Kindern? Von der so absurden wie menschenverachtenden Behandlung tief verletzt zog Spoon sich in seine Zelle zurück und schrieb das Gedicht „Right Now I Choose Sadness“:

As I sit in this dark cage
sad music and silence to assuage
this deep wound
in my heart
and spirit
I think of your poems and letters
and how naturally they went to my heart...
no detours.

Die Jahre 1987/88 waren die aufregendsten und bewegtesten in Spoons 35-jähriger Gefan­gen­schaft. Eine vorüber­gehende Liberalisierung im Strafvollzug und ein fortschrittlicher Gefängnisverwalter im Staat Kalifornien (der schon bald wieder gehen musste) erlaubten es dem schwedischen Theater­macher Jan Jönsson, mit Gefangenen aus San Quentin Becketts „Warten auf Godot“ einzustudieren und dort vor Mitgefangenen und Besuchern aufzuführen. Die Proben dauerten ein halbes Jahr. Der scheue Spoon bewarb sich erfolgreich um die Rolle des Sklavenhalters Pozzo. Auf die Bühne gestellt musste er erst lernen, sich laut und deutlich zu artikulieren. Zwischendurch war Jan nach Paris geflogen, um sich mit Beckett über die Inszenierung zu beraten. Bei dieser Gelegenheit zeigte er ihm auch Gedichte von Spoon. Mister Beckett sagte erst „gut“, machte eine kurze Pause, dann „sehr gut“. Besonders gefiel ihm „How did I sin?“ und wiederholte den Titel einige Male.

Auf dem Rückweg nach San Quentin wurde Jan von der schwedischen Künstlerin Saga Lindström begleitet, die den Auftrag bekommen hatte, Skizzen von Szenen und Charakteren des Stücks anzu­fertigen. Einer der Gründe für sie, den Auftrag anzu­nehmen, waren die Gedichte von Spoon. Als beide sich in San Quentin das erste Mal begegneten, sich in die „Augen, Seelen und Herzen“ sahen und dabei kurz an­lächel­ten, sagte Spoon zu seinem Neben­mann: „I am going to marry that woman.“ Noch wäh­rend der Proben heirateten sie, was anfangs zu einer Belastung im Verhält­nis zu Judith, und nachher auch für das Ehepaar selbst führte. Aber erst einmal schwebten beide im siebten Himmel, und das Stück wurde ein voller Erfolg. Während der Auf­führungen gab es Szenen­applaus und am Ende Standing Ovations, dazu Film­aufnahmen, Inter­views, Publi­city und hinterher Blumen für alle. Für seinen gelungenen Auftritt als Pozzo – das Stück und die Arbeit daran hatten ihm ein ganz neues Universum eröffnet – und für sein allzu familiäres Verhält­nis zu seinen Förderern und Lehrern musste der Gefangene Jackson bestraft werden. Eifer­süchtig auf die Gefan­genen und ihre kreati­ven Erfolge vertrat die Gefängnisverwaltung den Standpunkt: „We don't want to set any of you prisoners up as heroes.“ Deshalb ordnete sie an, dass Spoon „the art world Mecca of California prisons“, dem er als Autor und Schauspieler alles zu verdanken hatte, verlassen musste. Als Reaktion auf diese Willkür­maßnahme verlangte er all seine Manu­skripte, die Judith in ihrem Büro auf­bewahrte, zurück. Gefesselt an Händen, Hüfte und Füßen, wurde er von San Quentin ins Hoch­sicher­heits­gefängnis Folsom Prison verlegt. Als es dort zu schwe­ren Aus­schreitungen zwischen afroamerikanischen und mexi­kanischen Gangs kam, wurde seine Frau tagelang nicht vorgelassen und wusste nicht, in welchem Zustand er das Gemetzel überstanden hatte. Gestresst vom „lieb-, herz- und seelen­losen ameri­kanischen money-before-people system“ trennten sich Saga und Spoon im gegen­seitigen Einver­nehmen, und sie kehrte für immer nach Schweden zurück.

Judith Tannenbaum und ihre Kollegen von Arts-in-Corrections haben Spoon Jackson die Tür zu seiner Nische, in der er sich als Dichter entdeckte, als Mensch und Le­bens­läng­licher überlebte, weit geöffnet. Über ihre Ein­drücke in San Quentin schrieb sie damals folgende Zeilen:

Count's cleared and the guard says,
“It's late, class is over, you can
go back to your cells. Good night."

(...)

Now
their way to the right.
The mural, barbed wire
North Block, Death Row.
Their walk in that dark
I can't see beyond.

Ein Ergebnis der kreativen, fast geschwisterlichen Verbindung zwischen Judith und Spoon ist die Doppelbiographie „By Heart“, erschienen bei New Village Press, Oakland 2010. Darin erzählen die Lehrerin und ihr Schüler, ausgehend von einer Kindheit in ganz unterschiedlichen Milieus (Judith entstammt einer wohlsituierten Professorenfamilie aus Los Angeles), von ihrem Leben und ihrer Entwicklung, die sie jeder für sich und seit der Zeit in San Quentin auch zusammen gemacht haben, erzählen von ihren Leidenschaften, dem Auf und Ab ihrer Gefühle und all den Widersprüchen in einem Land, wo es so viele Gefangene und Gefängnisse gibt wie nirgendwo sonst, wo Politiker die Angst vor dem Verbrechen schüren und Wahlen gewinnen mit dem Versprechen, Verbrecher gnadenlos zu verfolgen, zu bestrafen und als Gefangene „tough“ zu behandeln, während sich einige Künstler und Lehrer wie Judith bemühen, dem „prison industrial complex“ oder „prison beast“ (Spoon) mehr Mensch­lich­keit, mit dem Recht auf Selbst­läuterung und Vergebung, abzu­ringen.

Ausgangspunkt meiner eigenen Begegnung mit Spoon (und seiner kräftigen Stimme) war der preisgekrönte schwedische Film „Three Poems by Spoon Jackson“ von Michel Wenzer, der im Wettbewerb der 50. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen lief. Seitdem schreiben wir uns „snail mails“, in denen wir uns mit dem Wort „brother“ anreden. 2010 erschien bei Lulu.com seine Gedichtsammlung „Longer Ago“, die hoffentlich wie der Film mit dazu beiträgt, ihn und seine Arbeiten, die immerhin einem Samuel Beckett gefallen haben, bekannter zu machen und ihm den ersehnten Weg in die Freiheit, „back to the streets“ zu öffnen: „I will be released from prison one day, by a beautiful real life or by a beautiful real death. In either case, I have found my niche in life which is something not even death can take away.“
Rainer Komers     09.04.2012   

 

 
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