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Natascha Wodin

Nachtgeschwister

Er oder ich

Natascha Wodins Roman über ihr Leben mit Wolfgang Hilbig
Kritik
Natascha Wodin: Nachtgeschwister   Natascha Wodin
Nachtgeschwister
Roman
Antje Kunstmann 2009
240 Seiten, 19,90 Euro


Eine so extreme Liebes- und Hassgeschichte wie diese wird mancher für poetische Erfindung halten. Da gerät im Frühjahr 1986 der in Nürnberg lebenden Ich-Erzählerin der Gedichtband eines in Leipzig wohnhaften Schriftstellers in die Hand, und sie ist wie vom Blitz getroffen. Schon von den ersten Zeilen geht „eine Kraft aus, ein Licht, eine Dunkelheit, ein Schmerz, eine Schönheit.“ Sie hat das Gefühl, „auf etwas Einmaliges gestoßen zu sein, auf einen Dichter, wie es sie zu allen Zeiten nur vereinzelt gegeben hat“, ein Proletarier aus der DDR, „der Worte fand für eine Welt, die eine Wüste war.“

Als Kind russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth aufgewachsen, versteht sich die Erzählerin als Außenseiterin. In dem ihr unbekannten Lyriker glaubt sie einen Seelenverwandten zu erkennen, in seinen Versen „Klopfzeichen“, die speziell ihr gelten. Sie schreibt ihm in den anderen Teil Deutschlands, sie ruft ihn an, lange Zeit vergebens. Doch eines Tages steht er mit einem Jahresvisum leibhaftig vor ihr, und er ist ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hat: Kein Prinz, sondern ein Alkoholiker, traumatisiert, mal Kind, mal Dämon, despotisch und unberechenbar. Die Diskrepanz zwischen Autor und Werk könnte nicht größer sein. Es scheint ihr unmöglich, dass es sich „bei dem stammelnden sächsischen Wesen um den sprach­gewaltigen Dichter Jakob Stumm“ handelt. Sie spürt die Gefahr, das Unheil, das da auf sie zutritt, und liefert sich ihm dennoch aus. Es kommt zu atemloser Ver­schmelzung und anschließend schroffer Zurück­weisung; Tren­nungen, Versöh­nungen.

Nachtgeschwister könnte man als Schlüsselroman bezeichnen, obwohl nur sehr wenig verschlüsselt wurde. Der Dichter, der aus der Dunkelheit kommt, erinnert in allem - Statur, Stimme, Dialekt, Lebensumstände - an Wolfgang Hilbig, der 2007 an Krebs starb; auch die biographischen Stationen der Erzählerin sind mit denen von Natascha Wodin identisch: eine Jugend in der Barackensiedlung, der frühe Selbstmord der Mutter, die Ausgrenzung als „Russla“. Beide empfinden sich als nicht zugehörig zur Alltagswelt, das zwingt sie förmlich zusammen. Unersättlichen Liebesnächten folgen Faustschläge des einstigen Boxers, eine Messerattacke sogar. Es entsteht eine Beziehung, die auf Vernichtung des jeweils anderen zielt und in der es schließ­lich nur noch die Alternative „Er oder ich“ gibt.

Anfangs bewacht Jakob Stumm die Geliebte „mit der Eifersucht eines Raubritters.“ Er wütet gegen sie und gegen sich selbst, fühlt sich als Ostler von den arroganten Westmenschen verachtet, und finstere Wut braut sich in ihm zusammen. Er sieht in ihr „die Vernichterin“ seiner Literatur. Das Doppelbödige und Gespaltene seines Charakters versetzt die Erzählerin in dauernde Furcht. Wahrscheinlich, so mutmaßt sie, ist Jakobs „Irrsinn durch den Wechsel der Welten eskaliert.“ Doch bald schon ist sein unbändiges Begehren erloschen, in einer einzigen Sekunde ist sie für Jakob zu einem Neutrum geworden, „vollkommen und für immer“. Trotzdem verbringen die beiden dreizehn Jahre zusammen, in Nürnberg, im pfälzischen Edenkoben, zuletzt in Berlin, am Prenzlauer Berg; 1994 heiraten sie sogar, obwohl Jakob nichts mehr fürchtet als die Ehe.

Man erfährt in diesem verstörenden Buch Unbekanntes, auch Intimes über den Dichter Hilbig und seine Obsessionen. Doch kann man Nachtgeschwister kaum der Indiskretion zeihen, zumal Hilbig die Phase zwischen seiner Ankunft im Westen und dem Fall der Mauer bereits in seinem letzten Roman Das Provisorium (2000) mit aller Rücksichtslosigkeit auch gegen sich selbst und seine Alkoholsucht dargestellt hat. Natascha Wodin kommt dort als „Hedda Rast“ vor (wie auch Jakob Stumm ein sprechender Name). In beiden Büchern treten verwandte Motive auf, es werden aus verschiedener Perspektive persönlichste Dinge mitgeteilt, ohne dass der Leser den Eindruck gewinnt, durch ein Schlüsselloch zu schauen.

Hilbig wie Wodin sind Nachtmenschen, von unterirdischen Schlamm- und Schimmelwelten fasziniert, von Verfall und Tod angezogen. Beide sind radikal subjektive Dichter, mit verfins­terten Biographien, zwischen Ost und West changierend. Das Schreiben wurde für beide zur individuellen Rettung und zur Lebensader ihrer Beziehung. Wodins Buch zeichnet sich durch ästhetische Stimmigkeit und schonungslose Genauigkeit aus, durch eine poetische Sprache, die alles nur Private transzendiert. Dicht, kühn, unerbittlich fragend und forschend, folgt ein Satzglied dem anderen, ein leise grollender Rhythmus, der sich manchmal ins Pathetische steigert: „Sie erkannte die dunklen Umrisse seiner Gestalt zwischen den weiß umhüllten Bäumen, es waren seine Schultern, sein Haar, er stand dort draußen und sah zu ihr her, er war gekommen, durch tausend Jahre Schnee und Abwesenheit, er war wirklich gekommen.“

Die Kernfragen, denen Wodin in ihrem Buch nachgeht und die sie, allen Widerständen zu Trotz, auch am Schreiben halten – wer ist dieses Monstrum eigentlich gewesen, und was zog sie zu dem notorisch Abwesenden hin? –, finden letztlich keine Erklärung, will man nicht „weiblichen Masochismus“ anführen. Wodin ist ihren Dichter schreibend wie auch im Leben nie ganz los geworden, aber sie hat ihn überlebt und diesen Vorteil genutzt, um ihre Version der „Liebes­geschichte“ zwischen zwei Verlorenen neben seine zu stellen – eine starke, gar nicht hoch genug einzu­schätzende Leistung.

Über allem steht das Rätsel der poetischen Produk­tivität. Jakob kannte, schreibt Wodin, „keine Schreib­blockaden, er war überzeugt von seiner Bestimmung“ und schrieb wie im Schlaf. Woher hatte dieser Heizer aus Meuselwitz, der im Alltag ständig nach Worten suchte und sie nicht finden konnte, die dunkle Kraft seiner Gedichte und Erzählungen? Und wie war es dem bei seinem Großvater, einem Analphabeten und gewalttätigen Trinker Aufge­wachsenen gelungen, in Jahrzehnten ein Gebirge von unveröf­fent­lichten Texten anzuhäufen, alle von höchster Qualität? Der einzige Gegenstand seines beses­senen Schreibens war das sächsische Braun­kohlen­gebiet um Leipzig, war ebenso die verhasste DDR, die er gleichwohl brauchte. Am 9. November 1989 war sein „Nährboden“, seine Hölle, „sein ganzer poetischer Kosmos“ von einer Stunde zur nächsten verschwunden. Vielleicht hängt sein langsames Verstummen in den letzten Lebensjahren auch mit diesem Verlust zusammen. „Es erschien kein Buch mehr von ihm“, resümiert Natascha Wodin, „er tauchte nirgends mehr auf im Literaturbetrieb. Alles, was mich noch von ihm erreichte, war eine unheimliche Stille, die ich nicht zu deuten wusste.“

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Michael Buselmeier   16.07.2010   
Michael Buselmeier
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