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November 2008
MerkurLettreAkzente
 
Zeitschriftenlese  –  November 2008
von Michael Buselmeier | Saarländischer Rundfunk
„68“ und noch immer kein Ende in Sicht, fast schon ein Dauerbrenner; die unterschiedlichsten Medien sind voll von Heldengeschichten. Wer einmal als 68er abgestempelt wurde, hat sein Leben lang kaum eine Chance mehr, noch als ein anderer wahrgenommen zu werden, so sehr er sich auch abstrampeln mag. Auf ungewöhnliche Art nähert sich der englische Psychiater und Publizist Theodore Dalrymple, geboren 1949 und erklärter­maßen kein 68er, im jüngsten Merkur dem Thema. Sein an­rührender Essay berichtet von den „Schmerzen der Erinnerung“, etwa denjenigen seiner jüdischen Mutter, die 1939 aus Deutschland nach England entkommen war.
Einleitend spricht Dalrymple über die Jugend, die hauptsächlich eine Phase der Erfahrungsarmut sei. Ihr sei es auch 1968 in Paris nicht darum gegangen, die Welt zu verbessern, sondern „einzig um Selbstmitleid“. Der Flut von Büchern, die dem 40jährigen Jubiläum der Ereignisse von 1968 gewidmet sind, könne man entnehmen, „dass die studentischen Aufrührer verwöhnte und narzisstische Kinder waren, die kalkulierte Posen für die Fotografen einnahmen.“ Besonders unangenehm fiel Dalrymple ein Buch mit Plakaten und Karikaturen auf: „Ich öffnete es und stieß auf eine Karikatur von de Gaulle, die sein Gesicht als eine Maske darstellte, hinter der sich sein wirkliches Gesicht verbarg: das Gesicht Hitlers. Ich knallte das Buch ange­widert zu.“
Ganz anders als Dalrymple, nämlich emphatisch sich der Jugendzeit in Paris erinnernd, schwärmt in Lettre International der italienische Psych­oanalytiker Sergio Benvenuto von Brüderlichkeit und Libertinage, Politik und Dadaismus im Mai 68. Zwar stehe er seinen Überzeugungen von damals heute sehr fern, doch halte er an seinen Erfahrungen fest und sei deshalb noch immer ein 68er. Was aber ist ihm jenseits der politischen Inhalte geblieben? Benvenuto erwähnt die Verachtung des Reformismus und aller bürokratischen Institutionen, die Ablehnung vorgegebener Hierarchien sowie ein grimmige Antipathie gegen Heuchelei und sämtliche Konventionen. Geblieben ist ihm offenbar auch jener von Dalrymple so tief verachtete „Narzissmus der Jugend“, deren exzentrisches und genußsüchtiges Flair.
Erlebt hat Sergio Benvenuto als 20jähriger italienischer Psycho­logie­student in Paris, der sich für einen Trotzkisten hielt, den Mai 68 „in einem manischen Rauschzustand“. Er fühlte sich im Mittelpunkt der Welt und hatte den Eindruck, dass sich „endlich alles bewegte“ - die Politik, die Kunst, die französischen Meisterdenker von Sartre bis Foucault, das Theater: „Uns schien alles möglich zu sein.“ Zumal der radikale Jugendprotest nicht das Resultat einer ökonomischen Krise, sondern eher „der Widerhall einer euphorischen Prosperität“ eines Teils von Europa war.
„Ein gut vorbereitetes, abgefragtes und gestaltetes Interview ist ein Stück Kunst.“ So urteilt – ebenfalls in der einzigartigen Zeitschrift Lettre Intern­ational – einer, der es wissen muß, nämlich der 1921 in Wien geborene, seit 1949 in Paris lebende Georg Stefan Troller. Für das deutsche Fernsehen produzierte er das legendäre Pariser Journal und an die 70 Folgen Personen­beschreibung, in denen er berühmte Persönlichkeiten interviewte.
Das Wort Interview bedeutet „sich gegenseitig ansehen“. Zwei Gleich­gesinnte oder zwei Kontrahenten begegnen einander im Wort, eine Art Wettkampf, wobei der eine dem anderen Auskünfte über sich zu entlocken versucht. Je schärfer, ja aggressiver das „echte Interview“ geführt werde, sagt Troller, desto erhellender könne es auch für den Befragten sein. Im Extremfall kann das Interview sogar zur Beichte, der Interviewer zum Beichtvater (oder Psychologen) seines Gegenüber werden.
Der gute Interviewer muß laut Troller umfassend informiert sein und über reichlich Erfahrung verfügen, die er jederzeit präsent haben sollte. Er muß neugierig sein, um hinter die Dinge zu schauen. Er sollte sich für seinen Gesprächspartner wirklich interessieren, ja er muß etwas von ihm lernen wollen und zur rechten Zeit die Angel auswerfen, wobei er gängige Fragen vermeiden sollte. Wer – außer vielleicht Alexander Kluge – arbeitet heute im deutschen Fernsehen so?
Christian Linder ist ein ungewöhnlich kluger, einfühlsamer und belesener Essayist, der Erhellendes über Böll, Andersch und Wallraff, aber auch über den umstrittenen Theoretiker Carl Schmitt und seine Landschaft ver­öffent­licht hat. In Lettre schreibt er nun auf vielen großformatigen Seiten über Leben und Werk der „Außenseiters und Verführers“ Roland Barthes.
Seinen Körper habe Barthes früh beachten müssen, denn er erkrankte in seiner Jugend an Tuberkulose. Diese Krankheit habe ihm, so Linder, „den inneren und äußeren Raum seines Schreibens geschenkt“; er konnte im Bett lesen und sich Notizen machen, während die anderen in die Schule mussten. Es sei der Körper, der die Bücher schreibe, hat Barthes immer wieder gesagt, denn in dem, was einer schreibt, verteidige er seine Sexualität. Der Text sei also kein intellektuelles, sondern ein „Lustobjekt“. Es gebe eine „Lust am Text“, wobei der Körper seinen eigenen Ideen und nicht denen des Kopfes folge.
Laut Linder war Barthes nicht nur Linguist, Strukturalist und Semiologe, er habe vielmehr den wissenschaftlichen Diskurs verlassen und sei selber ein Schriftsteller geworden, ein Anhänger der Subjektivität und des „fragmentarischen Schreibens“, der am Ende über sich selbst sogar als Romanfigur in der dritten Person berichtet habe. Die Bücher der anderen nahm er nur zum Anlaß, seine eigene zersplitterte Innnenwelt zu entfalten.

Im Mittelpunkt des jüngsten Hefts der Akzente steht die aus dem rumänischen Banat stammende Dichterin Herta Müller. Mit ihren Vorfahren teilt sie das Trauma der Deportation. Im Januar 1945 wurden sämtliche Angehörige der deutschen Minderheit im Alter zwischen 17 und 45 Jahren, darunter auch Herta Müllers Mutter, zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Viele verhungerten und erfroren. Unter dem Diktator Ceausescu war das Thema tabu.
In der Absicht, einen Roman über diese Deportation zu schreiben, begann Herta Müller 2001, Gespräche mit ehemaligen Verschleppten aus ihrem Dorf aufzuzeichnen. Auch der siebenbürgische Dichter Oskar Pastior, der fünf Jahre lang deportiert war, wollte ihr mit seinen Lagererfahrungen helfen. Er erzählte und sie schrieb es auf, lauter poetische Details, kleine absurde Sätze, etwa: „Der Zement und der Hungerengel sind Komplizen. Der Hunger reißt die Poren auf und kriecht hinein, und wenn er drin ist, klebt der Zement sie zu. Und man ist für immer zementiert.“ Bald begannen Pastior und Müller auch, „im Aufschreiben zu erfinden“. Als Oskar Pastior im Oktober 2006 starb, lagen vier Hefte voller handschriftlicher Notizen vor. Herta Müller entschied sich, den Roman allein weiterzuschreiben und gab ihm den Titel Atemschaukel, ein Wort von Oskar Pastior.
Im Gespräch mit Carlos Aguilera betont Herta Müller, sie könne fiktional schreiben, also erfinden „nur aufgrund des Erlebten, der Erfahrung“ (etwa der Lagerhaft, des Polizeiverhörs oder der Arbeit in den maroden Fabriken Rumäniens). Literatur sei „etwas total Künstliches“, und das müsse sie auch sein, gerade um Realitäten wie die Kaputtheit der Menschen, ihre Verzweiflung und ihr Unglück einzufangen. Diese „Chronistin des Alltags“ ist alles andere als eine Anhängerin der Utopie: „Wenn Utopien Wirklichkeit werden, sind sie meistens schrecklich.“
Der Merkur gilt unbestritten als die führende Intellektuellen­zeitschrift Deutschlands. Darin zu veröffent­lichen kommt einer Auszeichnung gleich. Wissenschaftler formulieren hier kühn wie Poeten, während sich Schrift­steller mit den neuesten Theorien wappnen. Welcher Germanist kann annähernd so glanzvoll und obendrein lehrreich über Goethe und „seinen“ Kaiser, den bewunderten Napoleon schreiben wie der Publizist Gustav Seibt im Juliheft? Selbst Details der legendären Erfurter Begegnung von 1808 sind erhellend: „Goethe und der Kaiser waren fast gleich groß – 169 beziehungs­weise 168 Zentimeter.“
Über Stefan George ist, könnte man annehmen, spätestens seit dem Erfolg von Thomas Karlaufs großer Biographie, für eine gewisse Zeit alles gesagt. Man weiß weithin bescheid über Männerbünde, adoleszente Homo­sexualität und charismatische Herrschaft. Ernst Osterkamp, Germanistik­professor in Berlin, scheint das anders zu sehen. Sein Essay „Frauen im Werk Stefan Georges“ bringt zwar nichts eigentlich Neues, liest sich aber doch mit Gewinn. Ihm zufolge ist Georges Neues Reich „der poetische Entwurf einer Welt, in der es keine Frauen gibt“. Es existieren darin weder Mütter noch Schwestern, weder Bräute noch Gattinnen, nicht einmal Priesterinnen. Ja, das poetische und politische Testament des Dichters „gründet auf der Auslöschung von Weiblichkeit.“
Osterkamp spricht von „stupender Inhumanität“ mancher Gedichte, nicht nur der späten. Weil Frauen für George als Repräsentantinnen des „Stoff­lichen“ zugleich die Bindungskräfte des Alten verkörpern, lässt sich mit ihnen auch kein neues geistiges Reich verwirklichen. Der Ekel gegenüber dem Vorgang der Geburt und dem Frauenkörper überhaupt diktiert ihm Verse wie: „Besser täte man dem weib / Das überm Pflaster kreisst den wurf ersticken.“ Allein der männliche Körper garantiere die Regeneration des geistigen Lebens.
Auf einen völlig vergessenen Schriftsteller weist der emeritierte Germa­nist und Lyriker Peter Horst Neumann hin (ebenfalls im Merkur). Als 14jähriger Junger Pionier bekam Neumann 1950 neben Peter Huchels Gedichten auch Horst Lommers politische Dichtung Das Tausendjährige Reich geschenkt, 1946 erschienen im neu gegründeten Aufbau Verlag – eine erweckende Leseerfahrung. Neumann lernte den Schriftsteller, der bald in den Westen überwechselte, wo er 1967 starb, auch persönlich kennen und erhielt von ihm mutmachende Ratschläge.
Der 1904 geborene Lommer lebte seit Ende der 20er Jahre als Autor unterhaltsamer Stücke in Berlin. Die 48 Antikriegsgedichte seines Bandes sind im Geheimen während der Nazizeit entstanden und lesen sich wie deren gereimte Chronik – leidenschaftliche Manifeste, deren pathetischer Ton uns heute fremd anmutet, einschließlich der versöhnenden Schluss­zeilen: „Deutschland, blutende Erde, / sieh, wir verlassen dich nicht, / fern über Not und Beschwerde / dämmert das göttliche Licht.“

Merkur: Heft 11, November 2008   externer Link
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10629 Berlin
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Akzente: Heft 4, August 2008  externer Link
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Lettre International: Nr. 82, Herbst 2008   externer Link
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Merkur: Heft 7, Juli 2008   externer Link
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Michael Buselmeier    16.11.2008       

Saarländischer Rundfunk | Zeitschriftenlese November 2008

Michael Buselmeier
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